Gott ist nicht schüchtern - Werk X Petersplatz
Lost in Adaptation
von Martin Thomas Pesl
Wien, 18. Februar 2021. Die erste Szene ist stark. "Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?", fragt die Frau im blütenweißen Hosenanzug den ebenso strahlend gekleideten Mann. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr, wie Bill Murray einst Scarlett Johansson in "Lost in Translation", wir hören nicht, was. Seine Miene verdüstert sich. "Ist vielleicht auch besser so", sagt er. Das ist geheimnisvoll, ein Vorgriff mit Spannungspotenzial. Hernach wird man sehen, wie die Beteiligten nach und nach bis hierher kamen. Am Ende erlebt man die Szene noch einmal, nur ergibt sie da plötzlich keinen Sinn mehr.
Zwei Leben, umgewälzt
Was sinnvoll war: "Gott ist nicht schüchtern", die Produktion der Regisseurin Susanne Draxler im Wiener Koproduktionshaus Werk X Petersplatz nicht nochmals zu verschieben. Im November hätte Premiere sein sollen, die wurde nun im Februar vor Fachpublikum fürs Streaming aufgezeichnet – und fällt so ungeplant mit einem bitteren Jubiläum zusammen: zehn Jahre Syrienkrieg. Es war Anfang 2011, als die Hoffnungen des so genannten Arabischen Frühlings in Syrien schneller als anderswo zerbrachen. Zu dieser Zeit beginnt Olga Grjasnowas 2017 erschienener Roman, auf dem die Fassung der Dramaturgin Lisa Kärcher beruht. Vergangenen September versuchte sich schon das Berliner Ensemble an einer Dramatisierung, obwohl sich der Roman für eine solche auf den ersten Blick nicht anbietet: Wenig wird gesprochen, viel passiert.
Diana Kashlan vor dem Bühnengemälde von Hawy Rahman © Alex Gotter
Die aserbaidschanisch-deutsche Autorin schildert kühl, bisweilen protokollartig die schockierenden Umwälzungen in zwei höchst unterschiedlichen syrischen Leben. Amal, eine Damaszener Schauspielerin, engagiert sich in der Revolution, gerät ins Visier des Geheimdienstes. Der in Paris erfolgreiche Mediziner Hammoudi reist arglos heim, um seinen Pass zu erneuern, und erhält unerwartet ein Ausreiseverbot.
Verloren im Handlungsgewirr
Leider zerstreut auch die österreichische Erstaufführung den Eindruck der mangelnden Bühneneignung von Grjasnowas Prosa nicht. Im Gegenteil, gleich nach dem Prolog schnappt die allzu typische Romanadaptionsfalle zu: Da Johnny Mhanna und Diana Kashlan nur zu zweit sind, müssen sie auch Nebenfiguren im Strang der jeweils anderen Figur übernehmen. Hauptsächlich spulen sie aber Erzähltext ab. Die Amal- und die Hammoudi-Szenen wechseln zudem in derart rascher Folge, dass sich, wer das Buch nicht gelesen hat, schon bald im Handlungswirrwarr verlieren muss (wer es gelesen hat, schüttelt ebenso den Kopf, aber erst später).
Unverständnis gilt auch dem Raum: Von Hawy Rahmans toller revolutionärer Rückwandbemalung – arabische Schriftzeichen, karikierte Köpfe, riesige Vogelschwingen – sieht man durchwegs nur maximal die Hälfte, weil zwei hässliche Duschvorhänge davorgeschoben sind, die ebenso dem multifunktionalen Einsatz dienen wie die Plattform und die rollenden Sitzwürfel davor. Zum Bühnenbild gehören noch ein Mikroständer vorne rechts und ein schnödes Kopiergerät vorne links. Ersteres wird äußerst spärlich verwendet, zweiteres dient nur als Ablagefläche.
Zu flüstern gibt es nichts
Alles geht zu schnell und dauert doch zu lang. Regisseurin Draxler fürchtet die Gefahr des Verharrens in statischer Frontalerzählung scheinbar derart, dass ihr ungleiches zweiköpfiges Ensemble vor lauter Requisitenschubserei, Würfelschieberei und dem Aufstellen und Wiederhinlegen der Bühnenplattform kaum zum Spielen kommt. Diana Kashlan bringt Sinn für Dramatik ein, während Johnny Mhanna eher die Strategie des Phlegmatikers wählt. Als Telenovela-Schauspielerin und Arzt wären sie also durchaus passend besetzt, bei den Nebenfiguren knirscht es oft gewaltig in der Hektik des Erzählens. Chemie zwischen den beiden kommt aber auch deshalb keine auf, weil – der Clou des Buches – die Protagonisten gar keine Beziehung zueinander haben: Hammoudi holt bei Amal zu Beginn nur den Schlüssel zu einer temporären Bleibe ab, über ein kurzes, unrundes Gespräch geht der Kontakt nicht hinaus.
Diana Kashlan und Johnny Mhanna © Alex Gotter
Als die beiden heftige Jahre später auf der Flucht in Berlin wieder zusammentreffen, kommt es zur eingangs vorweggenommenen Szene. Welches Geheimnis verrät Amal also? Im Buch ist es die Tatsache, dass ihr Kind gar nicht ihr Kind ist, sie hat es auf der Flucht übers Mittelmeer gerettet, als die Mutter ertrank. Allerdings wurde dieser Teil der Geschichte hier weggelassen. Es gibt kein Kind. Wäre ja an sich okay, aber so gibt es halt auch nichts zu flüstern. Die verheißungsvolle Spannung vom Anfang zerbröselt zu einer künstlich geschaffenen Leerstelle. Verhüllt bleibt das große Geheimnis, was Susanne Draxler mit diesem Stoff auf der Bühne vermitteln wollte.
Gott ist nicht schüchtern
nach dem Roman von Olga Grjasnowa, Bühnenfassung: Lisa Kärcher
Österreichische Erstaufführung
Regie: Susanne Draxler, Bühne: Hawy Rahman, Kostüme: Andrea Hölzl, Soundkonzept: Hermann Draxler, Dramaturgie: Lisa Kärcher
Mit: Diana Kashlan, Johnny Mhanna
geschlossene Premiere am 18. Februar 2021, Streaming-Premiere am 25. Februar 2021
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.werk-x.at
Angela Heide von der Wiener Zeitung (online, Uhr) sah einen verheißungsvollen Beginn, der rasch erlahme durch einen "Gewaltbebilderungstheaterparcours". Sie bemerkte ästhetische Übereinstimmung in der "brav am Roman entlanghangelenden Bühnenfassung von Lisa Kärcher" und deren Inszenierung - das sei aber für keins von beidem ein Kompliment. Grjasnowas Roman sieht sie hier in moralisch kategorisches schwarz-weiß getüncht und wünscht sich eine "radikalere, pathosfreiere Bühnenadaption".
Dagegen hält Margarete Affenzeller im Standard (online,
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