"Ich sehe so viele weiche Intendanten rumeiern"

Sebastian Hartmann im Interview mit Christian Rakow

4. März 2021. Mit seiner Adaption von Thomas Manns "Zauberberg" hat Regisseur Sebastian Hartmann einen der Streaming-Hits der Corona-Saison gelandet. Knapp 10.000 Aufrufe erzielte die Online-Premiere nach Angaben des Deutschen Theaters Berlin, die Produktion ist zum Berliner Theatertreffen 2021 eingeladen. Mit zwei beweglichen und vier statischen Kameras sowie der Live-Bildregie von Jan Speckenbach wurde die Inszenierung, die ursprünglich für eine analoge Premiere im November 2020 erarbeitet war, internetfähig gemacht.

Sebastian Hartmann, bei Ihrem Theater denkt man an "Physis", "Energie", "Verausgabung", "Präsenz". Das Internet gilt demgegenüber als kalter Distanzraum. Wie schwer fiel Ihnen der Wechsel in dieses Medium?

Letztendlich ist es ein Bild, und innerhalb eines Bildes kann sich physische Präsenz übertragen. Es tut mir leid, wenn ich in diesem Zusammenhang Fußball nennen muss: Aber wir gucken gern Fußball im Fernsehen, auch wenn wir natürlich lieber ins Stadion gehen, zumal beim 1. FC Union, wo die Atmosphäre außergewöhnlich ist. Eventuell könnte das Theater sowas auch für sich beherrschen, wenn es versuchen würde, die Erotik so weit zu spannen und die von Ihnen anmoderierte Kälte des Internets zu vergessen und den Liveaspekt in den Vordergrund zu stellen, sodass der Zuschauer sagt: Das würde ich auch gern vor Ort sehen.

zauberberg 4612 800 arno declair u"Der Zauberberg" bei der Livestream-Premiere aus dem Deutschen Theater Berlin im November 2020 © Arno Declair

Der Live-Aspekt war für die digitale Ausspielung essentiell?

Die Themen, die ich bearbeite, stehen immer in ihrer Zeit. Ich glaube, dass es andere Regisseure gibt, die in der Lage sind, so zeitlos zu arbeiten, dass sie einen Abend bis zur Generalprobe treiben, liegen lassen und ihn ein oder zwei Jahre später auch wieder zu einer Relevanz bringen. Aber bei mir ist das nicht so. Auch wenn ich jetzt nicht politisch vordergründig arbeite, bin ich mir doch der politischen Aufgabe innerhalb der Kunst durchaus bewusst und der Aufgabe, in eine gesellschaftliche Diskussion einzutreten. Und das schien uns hier beim "Zauberberg" sehr möglich. Es war die Entscheidung mit dem Ensemble, auf dieses Live-Ereignis zu setzen.

Der Abend ist nicht auf Rückkopplung mit dem Publikum angelegt. Ein Zuschauer müsste nicht unbedingt einen Unterschied zu einem vorab produzierten Theaterfilm feststellen.

Interaktion ist doch nicht wichtig für die Bedingung, live zu sein. Ich kann ja auch nicht durch den Fernseher Ronaldo zurufen: "Schieß jetzt bitte kein Tor!" Sondern ich bin an dem Ereignis beteiligt. Ich kann es nicht vor- und zurückspulen.

Dafür betreibt man riesigen Aufwand in der Livefilmproduktion.

Es ist die Verbeugung vor dem analogen Theater. Wir wollten nicht illusionistisch arbeiten, sondern tatsächlich in diesem offenen Theaterraum zeigen, dass das Publikum nicht da ist, dass wir aktiv vor leerem Saal spielen – auch als politische Haltung. Das Interessante beim Theaterspielen im Gegensatz zum Film ist, dass ich keine takes habe. Ich kann nicht schneiden. Es gibt nur diesen one shot und jeden Abend die Möglichkeit, dort mal einen Text wegzulassen und da mal einen zu ergänzen. Zumindest bei mir ist das so, dass der Schauspieler schon in ein Ereignis kommt und nicht in eine unglaubliche Repetierbewegung.

Zauberberg1 600 TiloBaumgaertel uComputer-Animation von Tilo Baumgärtel in der "Zauberberg"-Inszenierung © Tilo Baumgärtel

Ihre Theaterpraxis, die einst als "Leipziger Handschrift" bezeichnet wurde, ist auf große Freiheit angelegt. Ihre Schauspieler beherrschen Unmengen an Text und können den Verlauf des Abends je nach den Bedürfnissen des Spiels verändern. Wird solch eine Arbeitsweise im Zusammenspiel mit den Kameras beschränkt?

Ich arbeite ja nicht nur mit dieser Methode. Dieser Abend ist strenger inszeniert. Aber die Spieler sind immer Architekten ihrer Texte. Sie haben in den Proben entschieden, welche Texte sie sprechen wollen. Wir haben hier nicht mit einem Figurengerüst gearbeitet, sondern uns über unseren heimlichen Hauptdarsteller Hans Castorp in Person von Markwart Müller-Elmau, der 83 Jahre alt ist, angenähert. Dieser Castorp ist nicht sieben Jahre auf dem Zauberberg hängen geblieben, sondern hundert. Das ist der konzeptionelle Ansatz. Und die merkwürdige Form ist in der Hauptsache durch die Kostüme von Adriana Braga Peretzki entstanden, die diesmal außergewöhnlich stark ins Konzept eingegriffen hat. Diese Anzüge symbolisieren eigentlich eine Person in unterschiedlichen Gewichtslagen, respektive unterschiedlichen Geschlechtlichkeiten und Altern.

Eine ganze Reihe Ihrer Arbeiten in der letzten Zeit haben einen Zug ins Monologische. Auch hier beschreiben Sie, dass es Ihnen eher um die Ausfaltung einer Figur geht. Woher kommt das Faible fürs Monologische?

Das ist gar kein Faible. Aber ich misstraue dem Drama mit seiner permanenten Katharsis, mit dem Gut, Böse, Schlecht, Verräter, Mörder, also diesem ganzen Schablonendenken. So habe ich über die Jahre eine Sehnsucht nach dem Panorama entwickelt, also nach dem Roman. Und der hat natürlich viele andere Textformen. Ein stückweit ist es auch die Zeit. Ich weiß noch, wie sich die Leute über meinen "King Lear" geärgert haben, und ein halbes Jahr später liegen die Alten im Bett, und an den Fußenden sitzen die Jungen und setzen sich Masken auf, und alle schreien nach "den Politikern, nach den Politikern, nach den Politikern".

Ein Zitat aus "Die Politiker", dem von Wolfram Lotz verfassten Epilog des "Lear"-Abends.

Die Politiker solln's jetzt tun. Dabei braten die auch Bratkartoffeln. Das war damals die Inszenierung. Dafür hab ich mächtig eins auf den Deckel gekriegt. Aber ich steh zu der Inszenierung, auch zu ihrer Trägheit.

lear1 560 arno declair u"Lear/Die Politiker", eine Kombination von William Shakespeares Tragödie mit einem Text von Wolfram Lotz, kam im Sommer 2019 am Deutschen Theater Berlin heraus © Arno Declair

Den "Zauberberg" haben sie als Livefilm ausgespielt, der von Jan Speckenbach gefahren wird. Gab es Überlegungen, noch eine weitergehende Stream-Regie zu etablieren, die – wie manche Inszenierungen das jetzt machen – Kacheln hin und her schiebt, um Sehgewohnheiten des Netztes aufzugreifen?

Nee, gab's nicht. Ich leb' ja hier auf dem Land und bin alles andere als ein Nerd. Aber Filme gucke ich gerne und stehe diesem Medium sehr offen gegenüber. Was mich interessiert, ist das Mapping.

Also die computeranimierte Projektion von Graphiken auf die Gesichter der Spieler, sodass diese wie virtuell maskiert wirken.

Das hatte Tilo (Baumgärtel, Anm. chr) vorgeschlagen, und da werden wir beim nächsten Projekt auch noch weiterarbeiten. Ansonsten reichen mir Schnitt und Überblendung.

In einen Aufsatz für die "Deutsche Bühne" haben Sie jüngst gefordert, die Theater zu streamingfähigen Kreativstudios umzubauen. Wie soll das aussehen?

Wir leben in einer hochproblematischen gesellschaftlichen Situation, die Weltelite von Davos trifft sich online unter dem Titel "The Great Reset", da können wir als Künstler ja nicht dasitzen und die Däumchen drehen, bis wir irgendwann mal wieder dürfen. Und dann sitzen 35 Leute im Zuschauerraum … Mir geht unheimlich auf den Keks, wie still die Theater gerade sind. Dieser Stau, der an den Theatern entsteht, von Verschiebung, Verschiebung, Verschiebung müsste nicht sein, wenn sich die Theater rigoroser zu einem anderen virtuellen Spielplan entscheiden könnten. Mein Vorstoß war als positive Provokation intendiert, um aus dieser Trägheit herauszukommen.

 

Sebastian Hartmann im Zoom-Interview über die gefährliche Sprachlosigkeit der Theater in der Corona-Pandemie.

Sie haben vorgeschlagen, mit Einheitsbühnenbildern zu arbeiten, so wie es die Volksbühne früher im Prater praktizierte oder Sie selbst mit der "Arena" zum Abschluss Ihrer Leipziger Intendanz.

Das kann wahnsinnige Kosten sparen. Es darf natürlich kein falsch verstandenes Zaubermittel gegenüber der Kulturpolitik sein, Theater effizienter zu machen. Aber in solch einer Krisenzeit könnte man Teile des künstlerischen Budgets ganz anders umwidmen und Geld für streamingfähiges Equipment freisetzen.

Viele der Zögerlichen sagen: Wir haben gar nicht die Skills und die Ausbildung, das können Filmemacher viel besser. Was kann das Theater originär einspeisen?

In den letzten 20 Jahren ist Video im Theater eine relevante Kunstform geworden. Bis zur kleinsten Bühne sind Kameras, ob nun sinnbehaftet oder nicht, durch die Gegend geschoben worden. Jetzt braucht es nur den Sprung ins Netz. Man kann das Netz kalt nennen, ja, von mir aus. Aber das Netz kann eben relativ schnell ein Live-Ereignis von A nach B bringen. Und das kann die Diskussion beleben. Das Problem ist, dass durch die liberale Kulturpolitik die Eckigkeit an den Theatern fehlt. Ich sehe so viele weiche Intendanten in Deutschland rumeiern, die nicht in der Lage sind, ihren Politikern vor Ort zu sagen, was sie für ihr Theater brauchen. Vielleicht ist so ein Medium dann auch dem einen oder anderen Theaterleiter suspekt, weil er es in seinem Machtbereich nicht überschaut.

Am 7. März kommt der "Zauberberg" wieder online zur Aufführung. Wird es Veränderungen geben?

Für den Januar hatte ich mir eine komplette Veränderung der Inszenierung überlegt. Aber dann kam der verschärfte Lockdown. In der analogen Erarbeitung lag der Abend bei dreieinhalb Stunden. Er ist aus der hundertjährigen Geschichte des politischen Versagens heraus erzählt, mit dem Scheitern am Club of Rome, dem Entmenschlichen, der Entdemokratisierung der Welt, dem radikal entfesselten Turbokapitalismus. "Ich bin der Welt abhandengekommen." Dieser Satz von Hans Castorp war mir wichtig. Jetzt sind wir aber zum Theatertreffen eingeladen, und da würde ich es als unseriös betrachten, im Stream etwas ganz anderes zu zeigen. Die analoge Inszenierung wird aber wahrscheinlich anders, wenn wir dann hoffentlich am 1. Mai damit rauskommen können.

 

Sebastian Hartmann 180 privat u© privat Sebastian Hartmann, geboren 1968 in Leipzig, ist ausgebildeter Schauspieler. 1997 gründete er das "wehrtheater hartmann". Er  war Hausregisseur an der Berliner Volksbühne und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. 2008 bis 2013 war er Intendant des Centraltheaters Leipzig. Seither arbeitet er als freier Regisseur, unter anderem regelmäßig am Deutschen Theater Berlin und am Staatsschauspiel Dresden. Mit seiner Inszenierung von Thomas Manns "Der Zauberberg" ist er zum dritten Mal nach 2013 und 2019 zum Berliner Theatertreffen eingeladen.


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