In C - Radialssystem Berlin
Rausch der Repetition
von Sarah Heppekausen
Berlin, 6. März 2021. Ja, das geht gut zusammen. Diese Pulsschläge, die sich einhämmern in Ohr und Hirn, die sich durch Variationen und neue Muster zu einem weitschweifigen Klanggewebe knüpfen. Und dann die Bewegungen der Tänzer*innen, die sich entsprechend wiederholen, ineinander übergehen, sich überkreuzen, voranschreiten und wieder denselben Rhythmus finden. Mal ist es ein Fingertrommeln am Hals, mal sind es Drehungen und Sprünge. Musik und Tanz begeben sich gemeinsam in einen Rausch der Repetition.
Spiegel der Zeit
Terry Rileys "In C" (1964) gilt als wegweisend für Minimal Music. Die Partitur des amerikanischen Komponisten und Pianisten besteht aus 53 Phrasen, gibt weder die Anzahl der Musizierenden vor, noch, wie lange die jeweils eine Phrase spielen sollen. Choreografin Sasha Waltz nimmt dieses offene Prinzip als Format auf, kreiert gemeinsam mit ihrem Ensemble 53 Bewegungsfiguren und inszeniert ein Wechselspiel zwischen sichtbarer Struktur und Improvisation.
Während Sasha Waltz den Menschen 2017 noch als machtspielende "Kreatur“ zwischen kollektiver Vereinnahmung und bedrohlicher Ausgrenzung durch den Raum zucken und schwingen ließ, wirkt das Gruppengefüge jetzt durchaus entspannter, lockerer, ja lebensfroher. In einer kurzen Ansprache zum Publikum vor den Digitalgeräten erklärte Waltz das Ensemblestück zum Spiegel unserer Zeit. Es gehe um die Freiheit des Individuums, die das Kollektiv aber nicht gefährden darf. Solch ein Ernst der Lage ist auf der Bühne des Radialsystems selten spürbar. Da leuchtet's bunt und die Stimmung ist getragen von einer ausdauernden Energie.
Tranceartige Sogwirkung
Zu Beginn suchen die Tänzer*innen noch ihre Positionen, heben dann zurückhaltend ihre Schultern, drehen den Kopf, bewegen sich einen Schritt seitwärts. Es sind schwarze Schattenfiguren vor einer Bühnenwand in sattem Rot, die dann mit neuem Licht zu Individuen in farbigen Tops und Hosen werden. Die Kamera zeigt sie mal in der Totale, mal filmt sie vom Boden aus, in der Nahaufnahme oder sogar von oben aus der Vogelperspektive. Im Zusammenspiel mit den kräftigen Farben im Hintergrund ergeben sich so immer neue Aufenthaltsszenarien: auf einem großen Platz (von oben), am Morgen im Wald (blaues Licht), unterwegs beim Spaziergang. Lauter Ist-Zustände oder Momentskizzen, die aber keine Geschichte(n) erzählen. Im Warten aufeinander, in synchronen Sprüngen und Armschwingungen, im gegenseitigen Zulächeln und in den nur wenigen, zurückhaltenden Berührungen zeigt sich allenfalls, wie wir uns in diesen Zeiten begegnen (können).
Die Bewegungen bleiben aber vor allem abstrakte und entwickeln eben deshalb im Zusammenspiel mit der komplexen Musik eine tranceartige Sogwirkung. Die Einspielung kommt vom New Yorker Kollektiv Bang on a Can, das mit verstärkten Instrumenten wie Vibraphon und E-Gitarre arbeitete. Waltz plant für die Zukunft auch eine Aufführung vor Publikum, mit Livemusik – das hätte sicher eine noch stärkere Kraft.
Improvisierende Raumeroberung
Aber als Start in einen neuen Arbeitsprozess, der digitale wie Live-Formate hervorbringen, der Proben mit Video-Tutorials auch ohne lange Reisen möglich machen und langfristig auch Laien und Kinder miteinbeziehen will, ist "In C" schon jetzt spannend und vielversprechend. Wir blicken mit der Kamera in verschwitzte, mal starre, mal lächelnde Gesichter, können zarte, hart erkämpfte Berührung in der Nahaufnahme intensiver wahrnehmen. Aus der Vogelperspektive lassen sich die auf dem Boden tanzenden Schatten besser beobachten als die realen Körper. Wir erkennen aber auch mal nur Oberkörper, sehen Tänzer*innen im Off verschwinden, weil der Bildausschnitt nicht reicht. Ob das nun geplante Kameraführung oder ungewolltes Resultat der improvisierten Raumeroberung ist, mag dahingestellt sein. Es ist ein Blick auf den Tanz im Netz – bewegt, sprunghaft und bereichernd.
In C
Sasha Waltz & Guests
Komposition: Terry Riley
Konzept / Choreografie: Sasha Waltz, Kostüm: Jasmin Lepore, Licht: Olaf Danilsen, Konzept / Dramaturgie: Jochen Sandig, Musik: Bang on a Can.
Tanz / Choreografie: Davide Di Pretoro, Edivaldo Ernesto, Melissa Figueiredo, Hwanhee Hwang, Annapaola Leso, Michal Mualem, Zaratiana Randrianantenaina, Aladino Rivera Blanca, Orlando Rodriguez, Joel Suárez Gómez.
Online-Premiere am 6. März 2021
Dauer: 55 Minuten
www.radialsystem.de
www.sashawaltz.de
Eine Aufzeichnung von In C von Sasha Waltz ist hier on Demand abrufbar.
"Die Figuren, die nun auf der Bühne ausgeführt werden, folgen eine der anderen, während die Musik voranschreitet: mal kreisender, mal raumgreifender, mal intimer, mal verharrend auf dem Boden, mal hektisch", beschreibt Martin Conrads in der taz (9.3.2021) den gestreamten Abend. "Die Zuspitzung einer Handklung ist nicht zu sehen, alles bleibt in einer statischen Spannung, auch bleibt es beim Kollektiv."
"Faszinierend und doch eintönig" findet Barbara Wiegand vom rbb Inforadio (8.3.2021) diese Choreographie. Faszinierend seien die Bewegungsformen und das Filmen aus der Mitte der Tänzer sowie aus der Deckenperspektive, sodass das Ganze "wie ein Spiel" wirke, "mit den Tänzern wie Figuren auf einem Spielfeld". Allerdings: "Bewegungsfloskeln sind zu erkennen bei dieser Draufsicht, aber keine Richtung, wo das Ganze hingeht." Aber mit "der mutwilligen Monotonie" der minimalistischen Musik und den sich wiederholenden Tanzfiguren werde es "doch auch ganz schön eintönig".
"Durch den flexiblen, stark subjektiven Einsatz der Kamera vergisst man vom ersten Moment an, dass man nicht direkt vor Ort im radialsystem ist. In geradezu dokumentarischer Weise werden Bildausschnitte erlaubt, die nicht auf kompositorische Ästhetik abzielen, sondern die Tänzerinnen und Tänzer so nah wie möglich und für länger als nur einen Augenblick zeigen wollen", schreibt Rico Stehfest für tanznet.de (8.3.2021) und bescheinigt dieser auf die Einzelnen abgestimmten Kamerarbeit, "so etwas wie Vertrautheit entstehen zu lassen".
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Vielleicht sollten sich die Förderer dieser Stadt den innovativen Tanzentwicklungen zuwenden. Damit meine ich nicht weitere Konzeptkunst ohne Tanz, sondern Choreograf*innen, die in Ihrer Arbeit wirklich neue, eigene Wege gehen.
Ich stimme auch dem Vergleich mit Anna Teresa de Keersmaeker zu: Trotz aller mathematischen Präzision bieten de Keersmaeker-Choreographien wie zu den Brandenburgischen Konzerte auch ein sinnliches, soghaftes Erlebnis, das hier fehlt.
Ich möchte aber deutlich widersprechen, wenn Sie bei Sasha Waltz nur einen Aufguss und kaum noch Entwicklungen sehen. Ihre Arbeit bleibt facettenreicher, der Kontrast zwischen dieser sehr statischen, kleinen Corona-Inszenierung "In C" und ihrem ausufernden, überschäumenden, hochpolitischen, alles andere als blutleerem "Exodus" (2018) könnte kaum größer sein.