Tripple-F für Most Female

8. März 2021. Im europäischen Theater sind Männer stärker repräsentiert als Frauen und nehmen öfter hochrangige Positionen ein. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie zu Geschlechterverhältnissen an europäischen Bühnen, die von der European Theatre Convention (ETC) beauftragt wurde. Über die Studie spricht die ETC-Geschäftsführerin Heidi Wiley.

Interview Stephanie Drees

Triple-F für Most Female

von Stephanie Drees

8. März 2021. Im europäischen Theater sind Männer stärker repräsentiert als Frauen und nehmen öfter hochrangige Positionen ein. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie zu Geschlechterverhältnissen an europäischen Bühnen, die von der European Theatre Convention (ETC), einem Zusammenschluss von 44 europäischen Bühnen,  in Auftrag gegeben wurde, "um in allen Unterhaltungssektoren vorherrschende, geschlechtsspezifische Ungleichheiten und mangelnde Vielfalt aufzudecken und Veränderungen voranzutreiben". Bei "prestigeträchtigen Positionen" im Bereich der Dramatik, Regie und Technik dominierten die Männer, Frauen seien "an der Spitze der Hierarchie weniger präsent" und häufiger prekär beschäftigt. Für nachtkritik.de hat Stephanie Drees mit der Geschäftsführerin der ETC Heidi Wiley gesprochen.

Stephanie Drees: Heidi Wiley, in der Summe zeigen die Ergebnisse der Studie ein sehr klares Bild: Bei den europäischen Theatern – zumindest denen, die Daten für die Studie zur Verfügung gestellt haben – gibt es viel Raum für Verbesserungen hinsichtlich Geschlechterverhältnis und Vielfalt in der Personalsituation. Was waren für Sie die überraschendsten Erkenntnisse aus der Datenlage?

Heidi Wiley: In vielerlei Hinsicht bestätigten die Gesamtergebnisse der Studie europaweit das, was wir angesichts der mangelnden Vielfalt und der Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, die in der gesamten Unterhaltungs- und Kulturbranche vorherrschen, bereits über das Theater wissen: Es gibt eine Dominanz männlicher Führungskräfte und ein generelles Fehlen von Menschen mit Minderheitenhintergrund.

HeidiWilley CorneliaGlothAber das vielleicht überraschendste Ergebnis war, dass die Wissenschaftlerinnen in Bezug auf das Geschlecht zunächst keine Beweise für eine horizontale Segregation (bei der Frauen und Männer Positionen entsprechend den Geschlechterstereotypen besetzen) oder eine vertikale Segregation (ein Fehlen von Frauen in Machtpositionen) fanden. Von den rund 300 Theatermitarbeiter*innen, die freiwillig die individuellen Fragebögen ausfüllten, waren die meisten Frauen, die auch 60+ Prozent der führenden künstlerischen und produktionstechnischen Leitungsrollen wie Dramaturgie, Regie / Produktion / Intendanz und Inspizienz innehatten. Dies wurde erst im zweiten Teil der Studie "korrigiert", als die Theaterleitung den Fragebogen stellvertretend für alle Mitarbeiter*innen innerhalb der Struktur (für über 4.000 Mitarbeiter) beantwortete. Dabei zeigte sich, dass Frauen eine weniger sichere Vertragssituation haben als Männer und eher in "stereotypischen weiblichen Berufen" und "weniger an der Spitze der Hierarchie" zu finden sind. Dies verdeutlichte eine der größten Herausforderungen bei der Bewertung der Vielfalt auf einem ganzen Kontinent: die "selbstselektierende Verzerrung" durch die Studienteilnehmer*innen, die sich für eine Antwort entscheiden, in unserem Fall der einzelnen Theatermitarbeiter*innen.

Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen der Studie ist, dass Teams, die von Frauen geleitet werden, im Allgemeinen vielfältiger sind. Warum ist das so?

Bei der Analyse von 11.500 Personen, die an 650 Aufführungen beteiligt waren, stellten die Wissenschaftlerinnen fest, dass der Einfluss des Geschlechts der jeweiligen Entscheidungsträger*innen in Theaterprogrammen "bemerkenswert" war. Je mehr männliche Autoren und Regisseure es gab, desto wahrscheinlicher war es, dass sie Männer als Mitarbeiter beschäftigten. Bei Frauen hingegen zeigt sich ein "klarer Trend" zur Geschlechtergleichheit, wobei die Verteilung der Mitarbeiter*innen hin zu einer "perfekten Gleichheit" am nächsten kommt.

Ein Teil der Erklärung dafür könnte mit dem anderen Studienergebnis zusammenhängen: Die überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter*innen im Theater arbeitet unter einer überwiegend männlichen Leitung (Autor oder Regisseur). Frauen haben oft andere und ergänzende Perspektiven und somit vielleicht ein größeres Bewusstsein für Aspekte der Vielfalt, die in diesen Teams fehlen. Sobald sich die Möglichkeit ergibt, eine einflussreiche Position zu bekleiden, lässt sich ableiten, dass Frauen eher dazu neigen, diese Themen aktiv anzugehen und diese mit ihren Teams divers zu repräsentieren.

"Menschen müssen die Akteure in einem Veränderungsprozess sein", lautet eine Empfehlung von Ihnen. Was bedeutet das konkret für künstlerische Institutionen?

Wir können zwar Quoten und andere Instrumente vorschlagen und einführen, um Veränderungen herbeizuführen, aber die Art und Weise, wie Theater die strukturellen Herausforderungen angehen, besteht darin, einfach anzufangen, Dinge anders zu machen. Wenn es besorgniserregend ist, dass Männer in der Regel ein männliches Kreativteam beschäftigen oder dass die Teams überwiegend weiß sind, könnten die Verantwortlichen in diesen Positionen einfach ihr eigenes Handeln erkennen, es in Frage stellen und sich dafür entscheiden, mehr Frauen und Personen mit Minderheitenhintergrund zu beschäftigen und mit ihnen zu arbeiten. Um Theatern in ganz Europa bei diesem Prozess zu helfen, haben die Wissenschaftlerinnen der Studie auf unsere Empfehlung hin ein Raster zur Selbsteinschätzung erstellt, das jedes Theater, auch außerhalb des Netzwerks, nutzen kann, um seine eigenen Fortschritte in Sachen Vielfalt zu bewerten.

Sie schlagen unter anderem das "Triple-F-Rating" als Prüfungsinstrument für Theater vor. Was hat es damit auf sich?

Das F-Rating ist ein Konzept aus der Filmwelt, das 2014 von der Leiterin des britischen Bath Film Festivals, Holly Tarquini, entwickelt wurde. Mit dem Fokus auf die Gleichberechtigung der Geschlechter auf UND abseits der Leinwand wird es an Filme vergeben, bei denen eine Frau Regie führt und/oder die von einer Frau geschrieben wurden. Wenn der Film auch bedeutende weibliche Rollen auf der Leinwand zeigt, die nicht nur zur Unterstützung einer männlichen Hauptrolle da sind, wird der Film als "Triple F-Rated", als dreifach 'female', also weiblich, bewertet und sichtbar gemacht.

Screenshot 2021 03 08 143600Heidi Wiley  © Cornelia GlothWir glauben, dass dies ein nützliches Instrument für das Theater sein könnte, da es nicht nur die Verpflichtung mit sich bringen würde, Frauengeschichten in den Mittelpunkt der sichtbarsten Arbeit des Theaters zu stellen - auf die Bühne, vor dem Publikum - sondern auch eine sehr sichtbare Würdigung der wesentlichen Arbeit von Frauen außerhalb der Bühne wäre. Die ETC-Studie hat herausgefunden, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen in Vorstellungen unter vorwiegend männlicher Leitung arbeitet und dass von Männern geführte Teams seltener divers sind. Um dies zu ändern und damit Frauen mehr Chancen als Hauptdarstellerinnen, Autorinnen, Dramaturginnen und Regisseurinnen zu geben, brauchen wir Instrumente, die sehr deutlich machen, wo Frauen die Möglichkeit haben, sich zu entfalten. Wir müssen auch positiv über diese Orte sprechen. Das F-Rating könnte dieses Werkzeug sein.

Ein weiteres Ergebnis der Studie: Je vielfältiger die Arbeit der Theater ist, desto vielfältiger ist auch ihr Publikum. Was sind die wichtigsten Entscheidungen in einem Theaterbetrieb, um dieses Ziel zu erreichen?

Eine Sache, die die Arbeit an der Studie deutlich gemacht hat, ist, dass Europa ein riesiger kultureller und gesellschaftlich vielfältiger Kontinent ist. Jedes Land, jede Region befindet sich an einem anderen Punkt auf dem Weg, die Vielfalt zu erfassen und zu verstehen. Einige Länder erfassen bereits Daten darüber, wer ihre Kreativen und Mitarbeiter*innen sind, während für andere diese Art der Datenerfassung etwas völlig Neues war. Die demografischen Gegebenheiten der einzelnen Länder sind völlig unterschiedlich.

Dennoch müssen die Motivationen für vielfältige Geschichten auf der Bühne und die Verankerung von Vielfalt in der Belegschaft dieselben sein. Die Theater müssen bereit sein, die lokale Vielfalt anzusprechen, zu unterstützen und ihr eine Stimme zu geben, auch wenn dies an verschiedenen Orten etwas anderes bedeutet. Ebenso müssen die Theater bereit sein, weiterhin darüber zu sprechen, was noch getan werden muss - Sichtbarkeit und Transparenz sind entscheidend, um mit Gemeinschaften in Kontakt zu treten, die sich ungehört fühlen.

Indem sie die Geschichten aller erzählen, erreichen Theater mit größerer Wahrscheinlichkeit ein breiteres Publikum. Dies ist im Zusammenhang mit der Pandemie besonders wichtig. Wenn die Theater zurückkehren, ist die Sorge vor einem "Produktionsstau" groß, denn die Theater haben ein Jahr lang Produktionen abgesagt oder verschoben, die dann nachgeholt werden müssen. Dies wird vor eingeschränktem Publikum und reduzierten finanziellen Mitteln geschehen, und daher den Druck für Inszenierungen erhöhen, finanziell erfolgreich zu sein. Während die Sorge besteht, dass dies zu einer "verlorenen Generation" junger Künstler*innen führen könnte, die nicht die Möglichkeit haben, ihre Arbeit auf der Bühne zu erproben, ist es ebenso wichtig, dass die Theater die gesamte Bandbreite der Vielfalt ihres Publikums ansprechen. Theater ist eine wichtige Kunstform und ein wichtiger öffentlicher Ort des Austausches, des Dialogs, um die kommenden Herausforderungen zu bewältigen. Aber es muss für das Publikum relevant bleiben, um lebendig zu bleiben - und das erfordert, die lokale Vielfalt nachhaltig zu reflektieren.

 

HeidiWilley CorneliaGlothHeidi Wiley studierte Kulturmanagement an der Sorbonne in Paris und der Leuphana Universität in Lüneburg. Sie arbeitete als Produzentin und Tourmanagerin für die Künstler Victoria Chaplin und die Tiger Lillies, seit 2009 ist sie Geschäftsführerin der European Theatre Convention.

 

Mehr dazu: Youtube-Interview mit Heidi Wiley, Geschäftsführerin der European Theatre Convention (ETC), im Rahmen der Studie zur Gleichberechtigung und Diversität in europäischen Theatern

mehr debatten

Kommentare  
Interview Heidi Wiley: Tacheles
Um Missverständnisse vorzubeugen:
Ich beziehe mich hier auf Theaterinstituionen ausschließlich im deutschsprachigen Raum:
Grundsätzlich ist das ganze Unterfangen bzgl Geschlechtergerechtigkeit und die Aufforderung für mehr kulturelle Vielfalt etc.pp. irgendwie nicht falsch oder verwerflich... Ich möchte allerdings bzgl dieser speziellen Debatte auf eine bis jetzt beinahe ignorierte Folgeerscheinung hinweisen, die mindestens eine ebenso toxische Wirkung auf die Öffentlichkeit haben wird wie die (vielleicht zurecht) kritisierte „toxische Männlichkeit“... Ich beobachte nämlich ebenfalls, dass Theater mit weiblichen/ gleichgemischten und diversen Menschen in der Leitung zwar eher dazu neigen diese Themen praktisch anzugehen, in der eigenen Struktur daran arbeiten und diese Themen in allen erdenklichen Haupt- und Nebenproduktionen aufzuarbeiten jedoch gleichzeitig ebenso dazu neigen grundsätzlich alle Künstlerinnen ausschließen, die vornehmlich einer künstlerischen und philosophischen Motivation folgend das tun was sie tun und sich weigern ihre Kunst von diesen Leuten in ein meinungsbildendes Instrument verwandeln zu lassen- kurz gesagt: es müsste doch auch auffallen, dass dort wo vermeintliche Vorzeige-Diversität attestiert wird, die Diversität in Bezug auf Weltanschauung, politischer Haltung, künstlerischer Motivation und Haltung etc. ziemlich abnimmt- schlimmer noch, nicht existiert weil unerwünscht... durch die höhere Gewichtung auf im Grunde oberflächliche Zufallsparameter, wird unweigerlich unausgesprochen behauptet, die von der Struktur benachteiligen KünstlerInnen, seien besser prädestiniert für Gleichstellung, Demokratie und Transparenz in Kulturbetrieben als der sogenannte „alte Weiße Mann“ und das ist nicht nur populistisches Fahrwasser sondern einfach komplett falsch, sieht man sich nämlich die selbsternannten „WeltverbessererInnen“ im deutschsprachigen Theater an, fällt nämlich auch da auf, dass Intransparenz, Arbeiten mit der Angst der freien und festangestellten und Machtausübung anstatt demokratisch geführte Dialoge herrschen... Beispielhaft dafür das Gorki (unter Langhoff) oder das Schauspiel Dortmund (...) Diese neue deutsche Welle zensiert Kunst weil sie Gefühle nicht verletzen will und nicht anerkennen will, dass sie auf der Suche nach Empathie irgendwie in die Schieflage geraten ist und plötzlich der Auffassung ist, sie selbst seien allein wegen ihrer Benachteiligung der/die HüterIn allgemeingültiger universeller Antworten auf alle Fragen der Ethik betreffend- dass die meisten von ihnen allerdings nur über angelesenes Halbwissen verfügen merken die wenigsten... Denn mal Tacheles: was aus Langhoffs und Wisserts „Agenda“ zu verstehen ist, hat wesentlich mehr Sozialarbeit-Charakter mit gehöriger Prise politischer Bildung als künstlerischen und kulturellen Anspruch...
Das ist grundsätzlich total löblich aber warum leiten die ein Theater anstatt die Wunden direkt anzupacken?!

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(Dieser Kommentar wurde leicht gekürzt, weil er eine unüberprüfbare Tatsachenbehauptung enthielt.)
Interview Wiley: Konflikt in Dortmund
Was für Tatsachenbehauptungen?!

Die zweite Arbeit der angeblichen Hausregie „Heidi oder auf der Suche nach der verlorenen Schönheit“ war immerhin im Spielzeitheft beworben sowie oftmals Thema in diversen Interviews mit Wissert und nun nach dem Eklat mit der Regisseurin steht es nirgends mehr und e gibt auch keine offizielle Stellungnahme zur Absetzung... bzgl der ersten Arbeit ist es doch ganz offensichtlich, dass die Regisseurin sich distanziert und die Leitung es nicht vermochte, eine gemeinsame Stellungnahme mit der Künstlerin zu verfassen... das sieht jedenfalls nicht nach einer Intendantin aus, die die Themen mir denen sie antritt auch bei sich selbst umsetzt!
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