Weiche Körper, braunes Denken

von Gabi Hift

St. Pölten / online, 11. März 2021. Zwei alte Männer, halbnah, der eine sitzt am Tisch, über Fotos gebeugt. Der andere steht hinter ihm, sagt etwas, unhörbar, von Musik überlagert, ein Walzer in Moll. Der zweite Mann geht weg, die Kamera folgt ihm immer noch halbnah, er geht an den abgewandten Köpfen von Menschen vorbei, immer noch kein establishing shot, stattdessen jetzt Schnitt zurück auf den ersten Mann, extreme close up, der stammelt: Jef? Jef? Gegenschnitt auf Mann 2, close up, plötzlich schwarzweiß... 

Luk Perceval wollte es nicht wie viele andere machen und die Premiere von "Yellow" am NT Gent vor leerem Haus spielen und live streamen. Stattdessen hat er einen Film gedreht, mit vielen extremen close ups, einer Woche Dreharbeiten, Postproduktion. Aber doch im Bühnensetting, in dem die analoge Premiere im Mai in Gent und im September am Landestheater Niederösterreich stattfinden soll.

Frontbriefe am Küchentisch

"Yellow" ist Teil zwei einer Trilogie über die "Sorgen von Belgien". Teil 1, "Black", handelte von Belgiens Verbrechen im Kongo, in "Yellow" geht es um die Zeit der Kollaboration im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum steht eine flämische Familie mit Vater, Mutter, Tochter und zwei Onkeln. Bis auf den Bruder des Vaters sind alle begeisterte Nationalsozialisten. Die Flamen betrachten sich als Germanen und erhoffen sich von Hitler Befreiung von der Unterdrückung durch die französischsprachigen Belgier. Der 17-jährige Jef meldet sich freiwillig an die Ostfront. Von dort schreibt er Briefe, die sich die Familie am Küchentisch vorliest. Auch die Tochter Mi bekommt Briefe von einem Frontsoldaten, der ihr als Briefpartner zugeteilt worden ist. Auch die Briefe von Hubert, dem Bruder des Vaters und einzigem Nicht-Faschisten, werden vorgelesen. Er versteckt in Antwerpen eine junge Jüdin. Außerhalb dieses konkreten Raums gibt es einen quasi abstrakten Drumherumbereich, in dem der Belgische Faschistenführer Degrelle Reden hält und die Wiener Jüdin Hubert von ihrer Flucht aus Wien erzählt.

YELLOW 2 560 Oscar Van Rompay Lien Wildemeersch Philip Leonhard Kelz Chris Thys Valéry Warnotte c Maria Shulga 2Im Schwarzweiß des historischen Gewands: Ensemble aus "YELLOW" © Maria Shulga

Es ist ein Chor monologisierender Stimmen, untermalt von live Music (Sam Gysel), und er würde auf der Bühne vermutlich hinlänglich gut funktionieren. Durch die filmische Form mit den ständigen close ups erwartet man von den Schauspieler*innen aber, dass sie "wie im Leben" aufeinander reagieren. Sie sind auch alle so offen, frei und wach, so überaus lebendig, dass es ganz rätselhaft wirkt, wie wenig sich zwischen ihnen entwickelt. Gerade weil die Schauspieler*innen alle so gut sind, zeigt sich der Text im Film als ziemlich flaches, monologisches Und dann und dann und dann...

Verborgene Motive

Da gibt es zum Beispiel das Paar Hubert (Bert Luppes) und Channa (Maria Shulga). "Ich wohne mit einer jüdischen Frau in einer kleinen Wohnung. Eines Tages stand sie vor meiner Tür, die Nacht ist sie bei mir geblieben", erfährt man aus einem Brief. Man sieht die beiden irgendwo im Niemandsland herumgehen, die Funktion im Stück ist klar: Sie braucht einen Ansprechpartner, wenn sie von den Etappen ihrer Verfolgung in Wien berichtet, davon, dass der Verlobte ihre Angst für übertrieben hielt, sodass sie allein geflohen ist. Es ist offensichtlich, dass diese Informationen fürs Publikum bestimmt sind, eine realistische Szene zwischen den beiden ist nicht geschrieben. Also sehen wir eine junge Frau, die redet und einen doppelt so alten Mann, der stumm hinter ihr hergeht und sie beobachtet. Irgendetwas muss in den beiden vorgehen – aber was? Es ist und bleibt verborgen. Genauso ist es bei allen anderen.

Schmutz, Schlamm, Sumpf, Schleim

Bühne und Musik tragen zur merkwürdig unkonkreten Stimmung bei: die Grundfarbe von "Yellow" ist weiß – wohl um keine Klischees zu bedienen, gibt es keine Hakenkreuze, sondern stattdessen weiße Fahnen. Und mit dem Einsetzen des russischen Winters, aus dem die beiden Briefschreiber, wie längst erwartet, nicht zurückkommen werden, beginnt es zu schneien. Die Musik wiederum setzt statt auf Märsche auf melancholische Walzer, einmal tanzen alle einen fröhlich befreiten Mischtanz aus Schuhplattler und Jitterburg. Diese Freiheit der Körper wirkt erstaunlich, denkt man doch bei faschistischen Körpern automatisch an die Körperpanzer, wie Klaus Theweleit sie in seinen "Männerphantasien" beschrieben hat. Und hier ganz besonders, schließlich ist Degrelle, der belgische Faschistenführer, das Vorbild des Monsters in Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten".

YELLOW 1 560 Chris Thys Peter Seynaeve Lien Wildemeersch Philip Leonhard Kelz c Maria ShulgaWeiße Fahnen, keine Hakenkreuze © Maria Shulga

Bei Perceval sind alle weich. Sinnlich. Besonders Scorceny (Philip Leonhard Kelz), eine Figur, die wohl wegen der Kooperation mit dem Landestheater Niederösterreich als Quoten-Österreicher ins Stück gerutscht ist. Ein Wiener Obersturmbannführer der Waffen SS, der sich im Franco-Spanien mit Degrelle anfreundete. Weil das aber erst nach dem Krieg war, wird er einfach halbabstrakt als Freund des Priesteronkels in die Familie eingeführt, als übernationaler Nazigeist, quasi. Und dort zeigt aber erst einmal dem Priester, wie die Duelle ablaufen, in denen er sich die Schmisse geholt hat, beide ziehen sich obenrum aus stoßen die nackten Bäuche aneinander wie junge Hirsche. Gleich darauf dreht er, immer noch oben ohne, ein laszives Tänzchen mit der Tochter Mi. Was soll das bedeuten? Der Obernazi als völlig befreiter Bisexueller? Soll hier Theweleit widersprochen werden? Aber nein – ganz am Ende zitiert der Priester die Passage aus Theweleits Degrelle-Studie: "Schmutz, Schlamm, Sumpf, Schleim, Brei ist der Kommunismus". Wieso aber dann diese weichen, zarten, melancholischen Männer mit ihren offenen, freien Hüften? Wo bleibt Belgiens Sorge, wieso die Flamen zu Faschisten werden konnten?

Leere Gräber 

Am Ende kehrt die Farbe wieder in den Film zurück, man ist wieder in der Rahmenhandlung nach dem Krieg und begegnet Scorceny und Degrelle, die sich am Strand von Marbella sonnen und drum konkurrieren, wer von ihnen Hitler näher stand.  So zynisch wollte Perceval dann aber doch nicht enden und es folgt noch eine Szene, in der Hubert erzählt, er sei das erste Mal in Wien zu Besuch gewesen und habe den jüdischen Teil des Zentralfriedhof besucht – und da seien so viele freie Flächen, weil vor dem Krieg viele Juden Gräber gekauft haben, die dann nicht gebraucht wurden. Das wirkt so als habe man einen Schlussakkord gebraucht, der zu Herzen geht und das konnten schlecht die beiden gefallenen Nazisoldaten sein. Also nimmt man für eine wohlfeile Rührung die leeren Gräber in der Fremde ermordeter Juden – obwohl es darum in der Geschichte fast gar nicht ging.

 

YELLOW – The Sorrows of Belgium II: REX
von Luk Perceval
Regie: Luk Perceval, Musik: Sam Gysel, Dramaturgie: Peter van Kraaij, Steven Heene, Margit Niederhuber, Kamera und Schnitt: Daniel Demoustier, Set Design: Annette Kurz, Kostüme: Ilse Vandenbussche.Mit: Peter Seynaeve, Chris Thys, Lien Wildemeersch, Bert Luppes, Maria Shulga, Oscar Van Rompay Philip Leonhard Kelz, Valéry Warnotte.
Filmpremiere am 11. März 2021
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten
www.ntgent.be
www.landestheater.net

 

Kritikenrundschau

"Elegische Nazi-Desillusionierung" betitelt der Standard Margarete Affenzellers Kritik im Standard (11.3.2021). Perceval habe mit seinem Team aus Dokumenten und Archivmaterialien einen schmalen Plot ersonnen, der den allmählichen Verfall des Zukunftstraums (das "Tausendjährige Reich") eines Teils der flämischen Bevölkerung in den 1930er Jahren zeige, beschreibt die Autorin den Abend. Nahaufnahmen und Schnitte erzeugten ordentlich Pathos. "Unkaputtbare Ösi-Klischees" sieht die Rezensentin bei der Figur des Offiziers Otto Skorzeny, hält sich aber ansonsten mit einem Gesamturteil zurück - und fragt, wie die Inszenierung als klassische Saalvorstellung funktionieren könnte.

"Was im Live-Stream von NTGent mit englischen Untertiteln sofort auffällt, ist die filmische Qualität der Produktion", urteilt Arifa Akbar im Guardian (12.3.2021). Die Trilogie von Regisseur Luk Perceval zeige drei dunkle Kapitel in der Geschichte der Nation, fasst die Rezensentin zusammen. Peter van Kraaijs Drehbuch widersetze sich dem traditionellen Geschichtenerzählen und wirke manchmal undurchsichtig und zu impressionistisch. Trotzdem verliere die Inszenierung nie ihre Atmosphäre. Historischen Details sei wegen der vielen erzählerischen Auslassungen schwer zu folgen, wenn man sie nicht kenne - doch hörte die Autorin eine "atemberaubende Partitur" und sah die "außergewöhnlichen" Leistungen der Schauspieler, die dem Abend einen "epischen und tragischen Rahmen" verleihen.

Hitlergruß und Hakenkreuzfahnen haben auf Theaterbühnen lange Bärte, schreibt Rezensentin Hedwig Kainberger in den Salzburger Nachrichten (12.3.2021) und ist daher umso erstaunter, wie Regisseur Luk Perceval dieses Problem szenisch löst. Eine Antwort: Er könne die Geschichte von Verführten, Aufhetzern, Mitläufern und Widerständlern so "eindringlich" erzählen, weil er originale Texte aus der NS-Zeit eingesetzt hat. "Yellow" sei kein historisches Dokumentartheater, sondern ein "heutiges Aufspüren des Einstigen". "Fantastische Schauspieler" sieht die Autorin. Das Schlussurteil ihrer Rezension: "packend" sei dieser mit der Kamera eingefangene Theaterabend. 

Mit "erstaunlich viel Pathos" begegne Regisseur Luc Perceval der spröden und ernsthaften Textvorlage, urteilt Petra Paterno in der Wiener Zeitung (15.3.2021). "Episch" sei dieser Abgesang, der - von Tanzeinlagen unterbrochen - der Aufführung zwar Dynamik verleihe, aber mitunter abdrifte "in Spring- und Stampf-Gaudi." Schwierig einzuschätzen findet die Rezensentin, wie der "perfekt komponierte" Theaterfilm als Theaterabend wirken würde. Großes Plus dieser Inszenierung sei die Mehrsprachigkeit, sie verleihe Authentizität. So schließt die Autorin mit dem Appell: "Mehr davon!"

"Mit seiner Trilogie 'Sorrows of Belgium' will Luk Perceval dahin, wo es weh tut, will zeigen, was verdrängt wird, was Teil der belgischen Erinnerungskultur werden muss. Und er benutzt mit seiner bedrückenden, eindrücklich gespielten Inszenierung das Theater wie ein Versuchslabor für Traumaforschung und Seelenheilung", so Eberhard Spreng vom Deutschlandfunk (12.3.2021).

 

 

 

Kommentare  
Yellow, St. Pölten: Klagegesang
Der Abend ist ein vielstimmiger Chor, der prototypische Haltungen in der flämischen Gesellschaft der 1930er Jahre vertritt. Über weite Strecken sehr didaktisch und wenig spielerisch referieren die Familienmitglieder ihre Beweggründe.

Zwischen verblendeten Anhängern der NS-Rassenideologie und stumpfen Mitläufern gibt es nur wenige positive Figuren, die Juden heimlich verstecken oder Widerstand leisten.

Der Klangteppich von Sam Gysel untermalt die Stimmungen der jeweiligen Figuren. Manchmal wirkt dies etwas zu kitschig, wenn von Klaviermusik unterlegte Szenen unter herabrieselndem Schnee versinken. Das letzte Drittel wird mit fast schon sakralen Klängen zu einem Requiem, zu einem langen Klagegesang auf die Verbrechen der NS-Zeit und die Verstrickung flämischer Nationalisten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/03/12/yellow-the-sorrows-of-belgium-ii-rex-theater-kritik/
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