Grand Guignol, grell

Anderas Klaeui

St. Gallen, 20. April 2021. Jetzt löst er sich auf, der Premierenstau. Seit Montag dieser Woche dürfen Kulturveranstalter in der Schweiz unter Auflagen und mit beschränkter Zuschauer*innenzahl öffnen, schon am Dienstag riefen die ersten Theater zur Premiere. So das Theater St. Gallen mit "König Lear". Ausgerechnet, möchte man dazwischenrufen, ein Stück zur Wiedereröffnung, in dem eine narzisstische Gesellschaft sich in Verblendung auflöst? Ein Stück für Komödianten aber auch. Und das Stück, in dem sich für den Autor Thomas Melle eine Gegenwart spiegelt, die von Social Media, Globalisierung und radikalen Eigeninteressen dominiert ist.

Bissig-transzendent

In St. Gallen steht Lear von Anfang an auf einer schiefen Ebene. Ein abschüssiges, schmales Podium dient ihm als prekärer Laufsteg und Thron; selbst schaut er in seiner bunt gewürfelten Harlekinshose, im nerdigen Polo und mit aschblondem Langfadenhaar aus wie eine Mischung aus Hippie und Clown. Der Schauspieler Christian Hettkamp in St. Gallen ist ein junger Lear, definitiv kein alter Mann, aber wohl ein Boomer – was interessant ist, denn es verschärft den Grundkonflikt der Machtinteressen und betont den Narzissmus noch. Auf der Heide dann findet er zu einer bissigen transzendentalen Komik im Gespann mit "Major Tom" Frederik Rauscher.

                               Dancen auf Op-Art: Pascale Pfeuti, Christian Hettkamp, Birgit Bücker, Martina Momo Kunz © Jos Schmid

Satire im Schneckenhaus

Der nicht so alte weiße Mann und seine radikalfeministischen Töchter: Regisseurin Christina Rast rückt sie dann doch einigermaßen ab von uns, indem sie sie in ihrer Inszenierung stark karikierend überzeichnet, namentlich Goneril und Regan muten an wie aus einer Graphic Novel (Tabea Buser, Pascale Pfeuti). "Lear" ist in St. Gallen eine bunte Sache, blutrünstiges Grand Guignol, die Inszenierung betont nicht das elende Drama vom großen Leiden, sondern die Renaissance-Farce, die auch darin steckt, was natürlich sehr unterhaltend ist, wenngleich nicht weiter aufregend.

Es ist das erste Mal, dass Thomas Melles Münchner "Lear"-Textfassung in der Schweiz zu sehen ist; Christina Rast zieht daraus vorerst mal hauptsächlich die Satire. Unterstützt wird sie dabei auch von der Ausstattung ihrer Schwester Franziska Rast, die der Groteske einen psychedelischen Rahmen gibt mit einer mehrfach gebrochenen Schneckenhaus-Spirale im Bühnenhintergrund und einem schwindelerregenden Op-Art-Boden, über den die Figuren in schrillen Farben zappeln.

                               König Lear auf schiefer Ebene © Jos Schmid

So was wie Authentizität

Weit weniger grell zeigt sich der Erzählstrang um Gloucester, die zweite Verblendung. Bei Birgit Bücker ist der loyale Graf – mit sehr aufrechtem Rücken – retardiert in seinem Ehrenkodex wie in seiner Sozialmedienkompetenz. Bastard Edmund wiederum erweist sich in Tobias Graupners Gestaltung als Buchhalter der Intrige; Edgar (Frederik Rauscher) als eine Instabitch wie alle anderen. So was wie Authentizität gibt es nur bei Cordelia, der Sängerin und Instrumentalistin Gina Été, also in der Meta-Kunstform der Musik im Schauspiel, was ja eine interessante Fährte sein könnte, aber nicht weiter verfolgt wird. Dafür findet ihre Cordelia authentischen Ausdruck auch mit schweizerdeutschen Brocken in der Bühnensprache.

Bleibt die Komödiantik. Sie verleiht dem Abend eine Energie, die einen bei allen Schwächen auch wieder für ihn einnimmt.
Endlich wieder raus! Endlich wieder spielen! Endlich wieder was los auf den Bühnenbrettern! Möge es so bleiben.

König Lear
von William Shakespeare in einer Fassung von Thomas Melle
Regie: Christina Rast, Ausstattung: Franziska Rast, Licht: Andreas Enzler, Musik: Gina Été, Video: Julia Laggner, Dramaturgie: Armin Breidenbach.
Mit: Christian Hettkamp, Birgit Bücker, Gina Été, Pascale Pfeuti, Tabea Buser, Tobias Graupner, Frederik Rauscher, Martina Momo Kunz, Anja Tobler.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

theatersg.ch

 

Kritikenrundschau

"Regisseurin Christina Rast fokussiert auf Witz und Slapstick", schreibt Julia Nehmiz im St. Galler Tagblatt (21.4.2021). "Das ist unterhaltsam, das spielfreudige Ensemble wirft sich mit Verve in die Szenen." Trotzdem wirke der Abend blutleer. "Die Balance zwischen Klamauk und Tiefe gelingt nicht ganz."

"Besonders im langen ersten Teil übertönt der Klamauk die Inhalte", findet auch Peter Surber im Ostschweizer Kulturmagazin Saiten (21.4.2021). Und mit der VR-Ebene zwinge das Regieteam der Inszenierung ein 'spielerisch enges Korsett' auf, das sich aber nach der Pause zum Glück lockere.

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