Pfauen mit Vergangenheit

von Andreas Klaeui

Zürich, 22. April 2021. "Was das Publikum selber betrifft, so dürften wir nicht vergessen, dass ein Teil der Zürcher, die das alte Schauspielhaus nachträglich als ihr Schauspielhaus bezeichnen, sich täuschen: Damals (ich erinnere mich) war es ein Emigranten-Juden-Marxisten-Theater. Entdeckt haben sie es als Ruhmesblatt nach dem Krieg; als unser Schauspielhaus liebten sie es; je schwächer es wurde." Das schrieb Max Frisch 1969 in seiner "Rede zum Zürcher Debakel". Mit Zürcher Debakel meinte er den Rausschmiss des Intendanten Peter Löffler und des Regisseurs Peter Stein mit jenem Ensemble (Bruno Ganz, Jutta Lampe, Edith Clever), das dann in Berlin an die Schaubühne ging. 

Das gegenwärtige Debakel

Frischs Sätze beschreiben so manches. Zunächst mal, dass die Zürcher*innen Größe lieber in der Vergangenheit erkennen als in der Gegenwart. Dann aber auch, wie ein verklärender Blick eine Kulturinstitution blockieren kann. Man tut vielleicht gut daran, sich auch angesichts des gegenwärtigen Debakels am Schauspielhaus kurz daran zu erinnern – nun, da "das alte Schauspielhaus" in der Diskussion abermals als Phantom auftaucht und die Vergangenheit des Theaters als führende deutschsprachige Bühne in der so genannten "Geistigen Landesverteidigung" und im Kampf gegen Hitlerdeutschland wieder viele Emotionen weckt.

zürich fassade 560 andreas graber uProjektionen liegen auf ihm: Das traditionsreiche Zürcher Schauspielhaus © Andreas Graber

Heute geht es aber in erster Linie um die bauliche Hülle. Sie taugt nicht mehr. Die Technik ist veraltet, Stauräume sind Mangelware, für rasche Umbauten fehlen direkte Zufahrt- und Lagermöglichkeiten auf den Seitenbühnen. Das verkürzt die Probenzeiten, soll abends am selben Ort Repertoire gespielt werden. Der Saal ist alles andere als barrierefrei, und viele Plätze haben kaum oder gar keine Sicht. Das Foyer dient als Notausgang, was jede gastronomische Atmosphäre mit Tischen oder Stühlen verunmöglicht; in seiner Anmutung erinnert es, durchaus klassisch, an Goethes "niedriger Häuser dumpfe Gemächer". Das vermochte noch niemand und vermögen auch jetzt Alexander Giesche und Nadia Fistarol mit einer zauberhaften Licht- und Farbinszenierung nicht zu retten. 

zürich schauspielhauspfauensaal 560 dezember18 juliet haller uSanieren? Abreißen und neu bauen? Der historische Pfauensaal am Schauspiel Zürich © Juliet Haller

Dass also etwas getan werden muss, bestreitet kaum wer. Die Frage ist, was genau und wieviel überhaupt. Um das zu beantworten, hat der Zürcher Stadtrat vier Machbarkeitsstudien von Architektenbüros ausarbeiten lassen – in fünfjähriger Arbeit notabene –, die jetzt im Zürcher Gemeinderat liegen, dem Stadtparlament. Ob dieser noch vor der Sommerpause zu einer Entscheidung kommt, ist ungewiss. Das letzte Wort werden in einer Abstimmung voraussichtlich 2024 die Zürcher Stimmbürger*innen haben. Bei der Guckkastenbühne soll's jedenfalls bleiben, im Schiffbau hat das Schauspielhaus einen Zweitbau mit flexiblen Spielstätten. Drei der Machbarkeitsstudien schlagen vor, den Saal zu sanieren und mit mehr oder weniger starken Veränderungen zu erhalten; gemäß der vierten sollen Saal und Bühne einem Neubau weichen. Diese letzte ist die günstigste Variante, und sie hat den größten Nutzwert, denn für die konservativen Lösungen würden kostspielige zusätzliche Flächen im Blockrand erforderlich, die nicht zum Schauspielhaus gehören.

Rettet den Pfauen!

Soweit das Technische – nun folgt, was sich nicht beziffern lässt. Wie lässt sich Erinnerung bewahren und ins Neue überführen? Darüber wird in Zürich zurzeit hitzig gestritten. Unter dem Rubrum "Rettet den Pfauen!" hat sich ein leicht ergrautes Altherren-Komitee gebildet, das den "Baggerzahn stoppen" will und Dürrenmatt zitiert, welcher sich (in den fünfziger und sechziger Jahren wohlgemerkt) auf der Pfauenbühne durchaus wohl gefühlt habe: "Als Begründung für den Abriss dienen vor allem technische Ausführungen. Als hätte das Theater bei Brecht, Frisch und Dürrenmatt nicht funktioniert." Es hat sich aber auch eine Initiative von Hochschullehrer*innen aus dem Umfeld der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH und des dortigen Departements Architektur aufgestellt, die sich dafür stark machen, die historische Substanz zu erhalten. 

Verhärtete Fronten

Der Heimatschutz rekurrierte, zahlreiche Exponenten aus Denkmalpflege, Kunst und Politik schlagen sich in das eine oder das andere Lager. Die Gräben sind gezogen. Aus dem Verwaltungsrat des Schauspielhauses heraus hat sich zuletzt ein weiteres Komitee formiert, das zwischen den Fronten vermitteln und die Debatte mit mehr Besonnenheit angehen will. Ob die Zukunft des Theaters "mit einem Erhalt des Saals oder nur mit einem Neubau verwirklicht werden kann: Darüber muss sachlich diskutiert werden. Darüber, ob der Erinnerungsort nur im Originalsaal weiterlebt oder auch anders vermittelt werden kann, soll man offen reden dürfen", schreibt diese Initiative unter dem Schlagwort "Pfauen mit Zukunft". Sie hat gestern abend ein erstes Podium organisiert, an dem Schauspielhaus-Mitintendant Benjamin von Blomberg, die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes und der Regisseur Stephan Müller mit der Moderatorin Melanie Pfändler die Frage diskutierten: Was braucht der Pfauen der Zukunft aus künstlerischer Perspektive?

zürich foyer2 560 andreas graber uDient auch als Notausgang: Das Foyer des Schauspielhauses © Andreas Graber

Barbara Ehnes und Benjamin von Blomberg betonten dabei zunächst die Tücken der Gegenwart. Wie unpraktisch die räumliche Situation tatsächlich ist, welche künstlerischen Einschränkungen sie aufzwingt – die schwierigen Sichtlinien, die fehlenden Hinter- und Seitenbühnen. "Wenn ich in Zürich mit einem Modell gekommen bin, haben wir seltener über das Budget geredet als über Lagerflächen und Aufbauzeiten", meinte Ehnes, und: "Soll das ganze Publikum alles sehen, kann ich nur einen dreieckigen Trichter bauen." Blomberg seinerseits wies darauf hin, dass die problematische Bühnensituation auch ein problematisches Gesellschaftsbild tradiert und eine unzeitgemäße Hierarchisierung der Zuschauenden zur Folge hat: "Mein Auftrag ist, Gastgeber für alle Menschen in der Stadt zu sein." Theater müsse alle erreichen können, das "Solidarprinzip muss auch im Zuschauerraum herrschen". Wenn sich jemand einmal im Jahr für 90 Franken eine Theaterkarte leistet, dann hat er auch Anspruch darauf, was zu sehen.

zürich foyer1 560 andreas graber uManche Perspektiven verengen sich grade © Andreas GraberStephan Müller hingegen pries gerade den "Reiz an der Beschränkung" und erinnerte sich an seine Zeiten in Frankreich und den USA, als Künstler wie Peter Brook oder die Wooster Group "Theater in Garagen" gemacht haben. Die Situation des Theaters werde zukünftig weit prekärer sein als heute: "Verzicht und Verbot werden die Zukunft des Theaters bestimmen", deshalb müsse dieses nun "die List der Erfindung hochtrainieren". Ihn interessiere baulich "eine hybride Steigerung dessen, was da ist, eine Neugestaltung in the confines." Einig war sich die Runde darin, dass der Ort einen "Zauber" hat, "einen Reichtum vom Stofflichen bis ins Feinstoffliche", wie es Müller formulierte, worauf Blomberg nüchtern anfügte: "Die Aura hat auch was mit Produktionsbedingungen zu tun." Einigkeit auch darüber, dass das Theater, insbesondere das Foyer, zu einem Ort der Begegnung vor, nach und vielleicht sogar außerhalb des Theaterbetriebs werden sollte – wobei Müller am liebsten gleich alle Geschäfte, die in dem Häuserblock auch noch eingemietet sind, rauswerfen und ihre Flächen dem Foyer zuschlagen wollte.

Logistische und feinstoffliche Aspekte

Das dritte große Thema der Diskussion – neben den logistischen und den feinstofflichen Aspekten des Orts – war die Emotionalität, mit der die Debatte in der Stadt geführt wird, wenn etwa von "Barbarei" der Neubaupläne die Rede ist. Sie spiegle die "unbedingte Suche" danach, was das richtige Theater für Zürich ist, meinte Blomberg, und hofft, "dass die Stadt mit der gleichen Leidenschaft darüber abstimmt; für die Debatte können alle Theatermenschen nur dankbar sein". Nun sei es an der Zeit, sich mit Visionen zu beschäftigen – "wir denken nur darüber nach, was verloren geht, aber man kann sich auch in einen anderen Ort verlieben. Es gibt Architekten. Es gibt Entwürfe." Und Stephan Müller hatte zum Schluss gleich einen konkreten Vorschlag, wer diese Architekten sein könnten: nämlich Anne Lacaton, die emeritierte Zürcher Professorin, und ihr Partner Jean-​Philippe Vassal, die soeben den Pritzker-Preis erhalten haben. Affaire à suivre…

 

Andreas Klaeui, geboren 1960, Theaterkritiker, Redakteur beim Schweizer Radio SRF 2 Kultur. Bis 2008 verantwortlicher Redaktor von "du". Seine Texte erscheinen außerdem in der "Neuen Zürcher Zeitung", "NZZ am Sonntag" sowie in den Fachpublikationen "nachtkritik.de" und "Theater heute".

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