Natürlich ist man glücklich!

von Anna Landefeld

Heidelberg / online, 30. April 2021. Sie sind zwei Gefangene: Ruth und Ivan. Wahrscheinlich könnten sie auch ganz anders heißen, wahrscheinlich könnten sie auch ganz woanders sein. Aber dieses einstige und immer noch Liebespaar, Ruth und Ivan, hat Regisseur Ron Zimmering nun einmal in einen dunklen Raum auf eine viereckige rostige Plattform gestellt, kippelig wie eine Wippe. Würden die beiden, Katharina Ley und Friedrich Witte, aufeinander zugehen, sie würden hinunterfallen.

So halten sie Abstand (und nicht nur, weil Corona es so will). Alles bleibt in bester Balance in diesem Sehnsuchtsvakuum. Niemand wird verletzt – äußerlich, auch innerlich nicht. Zur Liebe gehört aber nun mal Mut. Der Schmerz in Teresa Doplers "Das weiße Dorf" besteht daraus, dass Ruth und Ivan genau darum wissen. Eine solche Story birgt heikles Kitschpotential, aber man muss Autorin und Ensemble sehr dankbar sein, dass sie diesem nicht erliegen. Am Ende ist zwischen Ruth und Ivan nämlich alles ziemlich egal und vergessen, aber eben auch nur irgendwie.

Hätte-Wäre-Könnte

Gleichgültig aber lässt einen dieser langersehnte, weil pandemiebedingt um ein Jahr verschobene und nun digital gezeigte Eröffnungsabend des 37. Heidelberger Stückemarktes aber ganz und gar nicht. Langersehnt auch, weil die österreichische Autorin Teresa Dopler bereits 2019 den Autor:innenpreis des Festivals für ihr nihilistisches Kammerspiel "Das weiße Dorf" gewann. 

Das weisse Dorf 2 560 SusanneReichardt uZwei, die nicht zu einander kommen: Katharina Ley und Friedrich Witte als Ruth und Ivan © Susanne Reichardt

So symbolisch geladen die Bühne von Ute Radler ist, so ist es Doplers Stück genau eben nicht. Die Sprache: alltäglich und künstlich zugleich. Zu auskomponiert ist dieses absurde Distanzduett, liegt diesem Dialog eine spröde Musikalität inne, bekommt Rhythmus und durch mechanische Wiederholungen von Worthülsen. Sie reden miteinander, verheddern sich in Konjunktiven aus Hätte-Wäre-Könnte und kommen nicht vom Fleck.

Alles super und so

Worum geht es also: Ruth und Ivan waren einmal ein Liebespaar. Inzwischen wieder in neuen Beziehungen begegnen sich auf einem Kreuzfahrtschiff auf dem Amazonas. An der Reling führen sie Gespräche. 35 Minaturszenen, in denen sie sich gegenseitig ihre polierten Lebensentwürfe pitchen: irgendwas mit herausforderndem Jobs, E-Mails, tollem Sex inklusive Höhepunkten, zu großen Wohnungen, Wetter, den "Einheimischen" am Ufer, dem richtigen Zeitpunkt fürs Kinderkriegen, keine Zeit, dafür aber interessante Freunde zu haben, Italienurlaub. Alles super und so. Natürlich ist man glücklich, man arbeitet doch schließlich hart dafür, man gibt sich Mühe.

Das weisse Dorf 1 560 SusanneReichardt uNaives Blabla auf der Kippe – ähm Reling © Susanne Reichardt

In den Regieanweisungen lässt Dopler die beiden ständig lachen. Verzweifelte Hysterie ist das. Denn obwohl sich schwer etwas gegen dieses schöne Leben sagen lässt, spürt man, dass ihnen etwas auf ihrem Weg zum Erfolg abhandengekommen ist. Der mittelständische Traum von der Selbstverwirklichung hat sich von außen tief in ihre Herzen hineingefressen. Kein Gefühl mehr ist in ihnen, nur noch Verstand, dass es einen ekelt.

Ruth und Ivan, sie sind wie die abgedroschenen Hülsen ihres naiven Blablas an der Reling. Diese Sinnleere übernehmen Kaharina Ley und Friedrich Witte auch für ihr Spiel. Sie versuchen erst gar nicht erst, ihrem Sprech und ihrem Spiel eine Natürlichkeit zu verleihen. Wie zwei Untote stehen sie sich mal gegenüber, mal hintereinander, mal liegen sie auf der Plattform. Ab und zu durchbricht Regisseur Zimmering die Stagnation. Dann spielt Jazz auf, weicht das weiße einem blauen Licht, greift Ekstase um sich, um nach ein paar Sekunden schon wieder zu verschwinden, als sei sie nie dagewesen.

"Waren wir schon immer so?"

Dass das hier ein Schiff sein soll, ist eigentlich egal. Dass das hier in Brasilien spielt, ist auch eigentlich egal. (Einen postkolonialen Diskurs deutet Dopler nur an, und das ist auch vollkommen in Ordnung so.) Alles verstörend entzeitlicht und rätselhaft in seiner Sartrescher-Becketthaftigkeit. Alles so gewollt bedeutungslos – sogar der Stücktitel "Das weiße Dorf" ist keine Metapher, meint nicht das Kreuzfahrtschiff, sondern schrammt ziemlich schräg am Stückinhalt vorbei.

Konkret wird dieses Dorf nur einmal. Es ist ein Sehnsuchtsort in Andalusien. Da müsse man im Sommer unbedingt mal hinfahren, aber bis dahin werde wahrscheinlich alles vergessen sein. "Waren wir schon immer so", wird Ruth am Ende fragen, und Ivan wird antworten: "ich kann mich nicht erinnern". Was aber bleibt, auch wenn es nie direkt ausgesprochen wird, ist die Sehnsucht nach Utopie, nach der theoretischen Möglichkeit einer Halsüberkopf-Liebe.

 

Das weiße Dorf
von Teresa Dopler
Regie: Ron Zimmering, Bühne und Kostüme: Ute Radler, Licht: Kristin Rohleder, Dramaturgie: Michael Letmathe, Maria Schneider.
Mit: Katharina Ley und Friedrich Witte.
Premiere am 30. April 2021
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de



Kritikenrundschau

"Ein guter Festival-Start" war dieser Abend für Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (3.5.2021) und zugleich der Nachweis, dass es sich bei Teresa Dopler um eine Autorin "mit einer unverkennbaren dramatischen Begabung" und "großem psychologischem Menschenverständnis" handelt. Dopler habe ihr Stück "streng komponiert und rhythmisiert, gefügt aus knappen Sätzen mit wohl gesetzten Wiederholungen, Konjunktiven und Formeln wie der refrainhaft wiederkehrenden Selbstbestätigungsfloskel 'Es ist ein gutes Zeichen, wenn ...'". Gekonnt würden die "Dialogpartner in ein fixes Pingpong" gebracht. Regisseur Ron Zimmerings Verlagerung des Geschehens auf eine schwankende rostige Plattform sei ein "starkes Framing, das zwar nicht viel Spielraum lässt, aber buchstäblich alles in der Schwebe hält".

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