Lyrischer Verdauungsapparat

von Jorinde Minna Markert

Bochum/ online, 2. Mai 2021. Im die 1950er Jahre reminiszierenden Foyer des Bochumer Schauspielhauses ist Zauberer-von-Oz-mäßig eine Wellblechhütte eingeschlagen. Ursprünglich von Anna Viebrock für die Ruhrtriennale entworfen, soll die "WeltHütte" neuer Spielort des Schauspielhauses und "kalkulierter Fremdkörper" sein. Zwei Streampremieren, Sivan Ben Yishais "LIEBE – eine argumentative Übung" in der Regie von Zita Gustav Wende und Sibylle Bergs "Viel gut essen", inszeniert von Anna Stiepani, eröffnen nun.

Aus dem schnödesten aller Gründe wird über "Viel gut essen" leider nicht viel-gut-sprechen sein: Streamingprobleme. Nachdem der Server bei der ersten Premiere wackelte, während der zweiten dann abstürzte und Geldzurückwollende im Live-Chat zu murren begannen, teilte das Schauspielhaus mit: Premiere auf nächsten Samstag verschoben. Yishais Text konnte aber zumindest zur Aufführung kommen.

Popeye als Folie

Wie viele US-amerikanische Fernseh-Erzeugnisse, die Heiterkeit verbreiten wollen, gewährt der Comic "Popeye" unbeabsichtigt Einblicke in seine kulturellen Abgründe. Der hypermaskuline, notorisch zwinkernde Seemann und sein Sidekick-Girlfriend Olivia Öl dienen in Yishais "LIEBE – eine argumentative Übung" als Folie für all das, was gleichberechtigte heterosexuelle Beziehungen unterminiert. Zita Gustav Wendes Inszenierung als Theaterfilm und Solo-Stück fokussiert dabei die stillen, verletzlichen Aspekte des Textes, der "für fünf Stimmen und eine laute, kollektive Intelligenz" konzipiert ist.Liebe Eine argumentative Ubung 560 BirgitHupfeld u Lange Ärmel in der WeltHütte: Jele Brückner in "Liebe / Eine argumentative Übung" © Birgit Hupfeld

Während ein Großteil des Textes von ihr aus dem Off eingesprochen wird, spielt sich Jele Brückner durch den Raum in und um die Blechhütte, welche dabei ein wenig an einen riesigen Verdauungstrakt erinnert, der vor sich hin grummelt und Material absondert. Da kriechen Plastikmüllsäcke aus einer Ritze hervor, dort quetscht sich eine graue Masse aus einem Rohr, da wächst plötzlich eine Gruppe filigraner Metallstreben aus dem Boden

Diese Materialschlacht ist an manchen Stellen etwas zu eindeutig interpretierbar – etwa wenn der Wunsch von Olivia, dass Popeye einfach mal "ihre Pussy leckt" performativ übersetzt wird, indem Jele Brückner sich in vulvenhafte Rüschen kleidet und ausgelassen tanzt. An anderen Stellen, wenn die Darstellerin das Foyer in Folie wickelt oder im großen Befreiungsmonolog mit geschulterten prallen Müllsäcken übers Theaterdach stürmt, verlieren die Bilder sich in lyrischer Assoziation.

Hörbuch mit experimentellen Bildern

Ein Beispiel für die beiläufige Brutalität des Originalcomics: Popeye und Olivia spielen Bowling, wobei Olivia mit der Hand an der Bowlingkugel festklebt. Beim Wurf dehnt sich ihr ohnehin schon unwahrscheinlich langer und dünner Arm auf fünfzehn Meter, bevor der Rest ihres Körpers hinterher schnippst wie ein Gummiband. Paddatsch. Diese comichaften Körperverzerrungen werden von der Inszenierung aufgegriffen, wenn Brückner meterlange, beigefarbende Ärmel hinter sich her schleift oder mit diesen an die Armleuchter des Foyers gefesselt und gequält grinsend verkündet: "Hier leben wirklich wirklich glücklich Popeye und Olivia" – einer der wenigen komischen Momente, von denen der Text eigentlich viele anbietet.

Liebe Eine argumentative Ubung1 560 BirgitHupfeld u Noch mal aus der Nähe: Jele Brückner © Birgit Hupfeld

Größtenteils geht die Komik aber unter in vielen bildlichen Kompositionen. Die Setzung des Textes als Off-Monolog hindert Tempo und Rhythmus dieser "argumentativen Übung", in der eigene und internalisierte, fremde Stimmen um die Liebe streiten. Trotz fortlaufender performativer Einfälle gerät das ganze etwas statisch zu einem Hörbuch mit experimentellen Bildern.

Wandelbarer Spielort

Auch wenn man nicht so harsch urteilt wie die Kommentatorin im Live-Chat – "Ich find's ein bissl kunstkackig" – kann man doch nachvollziehen, was sie meint. Ein nicht untypisches Problem des verfilmten Theaters: im Eifer der Möglichkeiten des digitalen Collagierens wird die Dramaturgie vergessen.

Viel gut essen 5 560 c birgit hupfeldDie WeltHütte als Wohnküche: "Viel gut essen" mit Bernd Rademacher © Birgit Hupfeld

Man muss aber zugestehen: Der Abend war als Doppelpremiere und Einweihung der Spielstätte konzipiert. Von dem wenigen, was sich von "Viel gut essen" erhaschen ließ – eine eklektisch aber unverkennbar deutsch eingerichtete Wohnküche mit Kunstrasen davor und Sibylle Bergscher Pessimismus at it's best – wurde klar: sehr wenig kunstkackig. Dafür aber eine Demonstration der Wandelbarkeit des neuen Spielortes – vom lyrischen Verdauungsapparat zum tristen Eigenheim – und wer weiß zu was noch.

 

Liebe. Eine argumentative Übung
von Sivan Ben Yishai
Regie: Zita Gustav Wende.
Mit: Jele Brückner
Dauer: etwa 1 Stunde
Online Premiere am 3. Mai 2021

www.schauspielhausbochum.de

mehr nachtkritiken