Wiederkäuer im Eventzelt

von Claude Bühler

Basel, 6. Mai 2021. Tschechow auf Schweizerdeutsch! Zweifelsohne die Überraschung des Abends, das Theater hatte es bis zuletzt geheim gehalten, dem Premierenpublikum bleibt der exklusive Effekt vorbehalten, Tschechows Landgut-Klassiker ohne Vorgedanken plötzlich in die Deutschschweizer "Agglo" versetzt zu erleben. Man ist frappiert, wie gut das (meistenteils) klappt, ja errötet beinahe, wie treffend dem Basler Autoren Lucien Haug, verantwortlich für die Textfassung dieser Tschechow-Aktualisierung, und Regisseur Antú Romero Nunes ein Jetzt-Bild der Schweiz geglückt ist. Direkt: So genussvoll selbstmitleidig und sentimental kann man auch hierzulande sein. 

Keine Bergidylle, nirgends

Das Drama von 1898, fast getreulich in den vier Akten ausgespielt, erweist sich also trotz Verpflanzung als unkaputtbar. In die Falle, die russischen Klischeebilder (Samowar, Birkenwald, Gitarrenmelancholie) mit schweizerischen zu ersetzen, tappen sie zu keinem Moment: Keine Bergidylle, keine Schweizerische Volkspartei, nur einmal schiesst das Sturmgewehr. Zu frisch klingt dazu etwa das larmoyante Wiederkäuen dieser von städtischen Debatten, Politiktrends und Kulturbegriffen Abgehängten mit Verwahrlosungstendenz. Bei Tschechow jammerten die Leute aus Langeweile und aus dem Gefühl von Nutzlosigkeit, hier tun sie es auch, weil sie ihre ursprüngliche Kultur verloren und keine neue außer dem Privatradiogedödel mit Achtziger-Jahre-Hits und Computergames gefunden haben.

Wanja5 1200 Judith Schlosser uAbgehängte im feinen Zwirn: Sonja und Beat (Vera Flück und Fabian Krüger) © Judith Schlosser

Was könnte dies besser darstellen als das kitschige Eventzelt mit Bierbänken des familiären Verleihbetreibers? In diese Welt, in der man den mal knorrigen, mal mundfaulen Schweizer Dialekt mit englischen Einsprengseln ("exhausted", "hardcore", "for real") auf aktuell "boostet", bricht der ältere Schriftsteller Alexander (bei Tschechow: Serebrjakow, Kunstprofessor) ein, der sich gegenüber dem Rest seiner Familie noch im Freizeitlook wie ein Hochwohlgeboren ausnimmt. Er lässt sich seit Jahren von der Familie aushalten und führt später das endgültige Zerwürfnis herbei, indem er von ihr fordert, den Betrieb zu verkaufen, damit er sich "etwas kleines" (wohl ein Haus) im Tessin leisten könne. Seine viel zu junge Frau spricht Hochdeutsch, wird schon deswegen von "Unggle Beat" (Onkel Wanja) oder vom Arzt "Michi" (Astrow) wie ein höheres Wesen angehimmelt.

Noble (Selbst)-Demontage

Schon in seinem ersten Auftritt gibt er eine Probe seiner immer etwas zurückgehaltenen, aber eigentlich stets atemberaubenden Arroganz: Als ihm, dem manuell Ungeschickten, die Fahrradkette herausspringt, verscheucht er mit quasi-noblen Gesten seine Familienmitglieder, die kaum zusehen können und ihm zur Hilfe eilen wollen. Ein langsamer Slapstick, der bis zur Demontage des Fahrgeräts durchgezogen wird – fast der einzige spielerische Exkurs, den sich Nunes in seiner ansonsten fast strengen Durchführung gönnt; ein Grund, weshalb man der handlungsarmen, aber dialogreichen zweieinhalb Stunden langen Aufführung mit angespannter Aufmerksamkeit folgt.

Wanja1 1200 Judith Schlosser uDer Schriftsteller (Ueli Jäggi) bei der Reparatur vor Publikum (Carina Braunschmidt, Vera Flück) © Judith Schlosser

Der andere ist das hochemotionale, aber genau geführte Spiel, etwa von Fabian Krüger, der sich als "Loser" Beat in Tiraden über sein verpfuschtes Leben und in unterwürfiger Verachtung über den Schriftsteller ("Mini-Bärfuss", "Schmalspur-Martin-Suter") ergeht. Oder von Vera Flück als Jasmin (Sonja), die ungestüm polternd ausfällt und den Laden zusammenhält. Eine ehrliche Haut, zu anmutigen Spielchen nicht fähig, die darunter leidet, dass der Arzt an ihr kein Interesse zeigt. Bei ihr wie bei Ueli Jäggi als Schriftsteller sieht man kaum mehr Schauspiel, man erlebt Sein.

Hypochondrische Jammermänner

Generell verhilft hier der Dialekt allen Schweizerinnen und Schweizern des Ensembles zu mehr Direktheit und nuancierter Lebensechtheit, die Kunstsprachenschwelle entfällt. Man möchte gerade in dieser Fassung Tschechow als Visionär feiern. Wenn der Doktor ganz gemäß Original über den Rückgang der Wälder und den Rückzug der Tiere doziert, so wissen wir heute aus Betroffenheit, wovon er spricht. Die Darstellung der lebensuntüchtigen, hypochondrischen Jammermänner, die alle an Geltungssucht kranken, ein "Werk" hinterlassen wollen, von den Frauen wie Paschas bedient werden möchten, unterscheidet sich kaum von der aktuellen Kritik.

Eine tragische Komödie

Auch hat sich das Klassenbewusstsein offensichtlich gut gehalten, heute stärker akzentuiert zwischen Handwerker*innen und Intellektuellen. Man könnte anführen, dass Nunes bei aller Tragik eindeutig eine Komödie inszeniert hat. Dass er Tschechows Figuren, wenn auch liebenswert, karikiert, und ihnen nicht immer die Noblesse und die Einfachheit des Originals zubilligt. Aber sie bleiben dennoch glaubwürdig, gerade ihr Realistisches rückt einem unangenehm nahe. Und das ist gut so.

 

Onkel Wanja
Drama von Anton Tschechow in einer schweizerdeutschen Fassung von Lucien Haug
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Lena Schön / Helen Stein, Musik: Anna Bauer, Johannes Hofmann, Licht: Cornelius Hunziker, Dramaturgie: Michael Gmaj
Mit: Carina Braunschmidt, Mala Emde, Vera Flück, Ueli Jäggi, Fabian Krüger, Suly Röthlisberger, Sven Schelker
Premiere am 6. Mai 2021
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Das Theater Basel habe sich mit einer Mundartfassung von Tschechows Tragikomödie "einen richtig guten Gefallen erwiesen", so Stephan Reuter in der Baseler Zeitung (8.5.2021). Autor Lucien Haug, "noch keine 30 und aus dem Talentpool am Jungen Theater Basel gestiegen, kann Mundartstücke". Seine Adaption schaue genau aufs Maul und ins Herz. Angestaubt klinge hier nichts, "aufgewirbelt wird ausgesprochen viel in der Inszenierung". Regisseur Nunes spiele eine kurze Zeit lang Komödie den ins Leere laufenden Liebesverwicklungen, dann überschlagen sich desaströse Ereignisse. Fabian Krüger in der Titelrolle ist einer, "der jedes Ensemble zu zieren vermag (...) Er schont seinen Beat keine Minute, er sieht so klar und doch so trübe, dass sich Liebeskummer nicht lohnt."

Für Mathias Balzer von der BZ (8.5.2021) ist in diesem Dialekt-Wanja "alles drin, was auch das Original ausmacht. Existenzieller Schmerz und Humor, Idealismus, der im Schnaps und Selbstmitleid ertränkt wird, die Zerstörung der Natur durch die Faulheit des Menschen, die Vergeblichkeit allen Wollens, da am Ende doch alles gleich bleibt". Beim ersten Hören fühlt sich der Kritiker noch an die "Schwänke aus dem Zürcher Bernhard Theater" im Regionalfernsehen erinnert, so "härzig" töne das alles. Aber darin liege auch ein "erstaunlicher Effekt, der zeigt, wie wenig wir der eigenen gesprochenen Sprache trauen. Seit der Alphabetisierung wurden wir mit dem Gedanken imprägniert, dass im Ernstfall die Hochsprache gilt. Antú Romero Nunes' Inszenierung beweist das Gegenteil. Möglich macht das ein Ensemble, das wunderbar aufspielt."

 

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