Auf dem Schaukelpferd in den Wortsturm

von Stefan Forth

Hamburg, 7. Mai 2021. Politik ist ein Kinderspiel. Volkes Stimmen ahnen das schon seit Beginn der Bundesrepublik. Deshalb ist es nur konsequent, dass die Regisseurin Charlotte Sprenger für das Hamburger Thalia Theater das großartige Bühnengedicht "Die Politiker" von Wolfram Lotz jetzt in ein überdimensioniertes Kinderzimmer verpflanzt hat. Für die wirkungsvolle post-pubertäre Selbstinszenierung der deutschen Demokratie dürfen dabei natürlich Kameras so oder so nicht fehlen – weshalb die Premiere als Livestream vielleicht etwas weniger schmerzt als bei anderen Produktionen.

Tumult im Kinderzimmer

Im Mittelpunkt des Abends stehen trotzdem ganz viele unerfüllte Sehnsüchte – zum Beispiel nach einem "Haus, das uns behütet vor der Schuld, das uns behütet vor der Zeit". Was "die Politiker" (mit Hilfe von Ausstatterin Aleksandra Pavlović) dagegen als wackligen Wohnbereich ins Zentrum der Bühne an der Hamburger Gaußstraße gebaut haben, ähnelt eher einem stilisierten Riesenschaukelpferd. Aufgeregt wippt und tanzt das mit geballter Energie aufspielende Ensemble gut anderthalb Stunden lang darum herum. Zwischendurch schnappt sich mal einer das rosafarbene Spielzeugauto aus der einen Ecke, dann wieder verstecken sie sich alle hinter den grünen Gummibäumen in der anderen Ecke. Ein großer Spaß, der besonders grausam ist, weil mit der handlungsfreien Textfläche von Wolfram Lotz immer wieder unvermittelt die (politische) Realität in die umzäunte Bühnenarena einfällt.

Politiker 3 560 u"Die Politiker beschwören den Sturm, und abends sehen sie fern." Merlin Sandmeyer in "Die Politiker" von Wolfram Lotz © Emma Szabó

"Die Politiker beschwören den Sturm, und abends sehen sie fern." Was erst noch klingt wie ein vielleicht ganz kluger chorischer Kalauer, wird wenig später rigoros und ganz konkret ins Hier und Jetzt gepustet. Die Windmaschine weht Textblätter und Bühnennebel über die am Boden kriechenden Spieler*innen, während aus dem Off die Kanzlerin persönlich das Wort ergreift: "Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler." Ja, sicher, war ja auch ein Reinfall, diese Idee mit der ausgedehnten Osterruhe im Kampf gegen die Corona-Pandemie.

Viren-Management und Populismus

Bevor sich das Publikum aber allzu viele selbstgerechte Gedanken über das politische Virus-Management machen kann, tönt eine wohlbekannte rabiat populistische Stimme aus dem Livestream ins heimische Wohnzimmer: Alice Weidel weiß für die AfD wieder einmal alles besser – und bringt mit ihrem nervigen Gehetze das schaukelnde Haus auf der Hamburger Bühne bedrohlich ins Wanken. Fast sehnt man sich da zurück in die Zeit, als ein "entsetzlicher Stuhl" Helmut Kohls größtes Problem zu sein schien. Der durchweg wahnsinnig spielfreudige Merlin Sandmeyer liefert in der Thalia-Inszenierung auf einem Camping-Hocker eine grandiose Parodie des realen Moments, in dem der damalige Kanzler wie ein bockiger kleiner Junge bei einer Fernsehaufzeichnung mit gehöriger Penetranz adäquate Sitzgelegenheiten für sich und seinen Außenminister einforderte.

Politiker 1 560 uDas Thalia-Ensemble auf der Bühne von Aleksandra Pavlović © Emma Szabó

"Die Politiker" sind aber weit mehr als ein poetisch-poppiger Kommentar zum medialen Dauergerede über demokratische Prozesse, zu Plattitüden, die durch Wiederholungen in Endlosschleife zu vermeintlichen Gewissheiten werden. Besonders berührend gerät dieser Abend, wenn das Politische auf einmal privat wird, wenn von einem verstorbenen Jugendfreund die Rede ist oder von einem gewissen Wolfram, der fast nie seine Mutter anruft, oder von einem Kind, das sich einsam und verloren fühlt – "und weil es nicht mehr weiter weiß, beginnt es zu schreiben". Immer wieder kommt dieser wuchtige, wichtige Text wie das Konzentrat eines ganzen bundesrepublikanischen Lebens daher – und die Hamburger Inszenierung gibt ihm mit voller kreativer Kraft einen rasanten Resonanzraum.

Mit grandioser Livemusik

Als besonderer Gewinn erweist sich dabei die Entscheidung, mit dem lässig auftrumpfenden Philipp Pleßmann einen komponierenden Schauspieler-Musiker ins Team und auch gleich mit auf die Bühne zu holen. Der Mann hat ein grandioses Gespür für den Rhythmus von Vorlage und Inszenierung. Er weiß, wenn es Zeit ist, als Italien-Tourist mit Sonnenhut, Bauchansatz und kurzer Hose "Volare" zu schmettern, wann sakrale Arrangements durch beatbetonten Sprechgesang abgelöst werden müssen – und wann das Popgeheule aus "It's my party" dem einsamen Wandern aus Schuberts "Winterreise" Platz machen sollte.

Politiker 2 560 uEine poetische Stimmung zwischen Italien-Tourismus und sakralen Arrangemens gibt's im Thalia an der Gaußstraße bei "Die Politiker" von Wolfram Lotz, Regie: Charlotte Sprenger © Emma Szabó

Nach Inszenierungen in Berlin, Hannover und anderswo findet das Thalia Theater damit noch einmal einen ganz eigenen Ton in diesem Theatergedicht. "Die Politiker" ist mit Sicherheit einer der aufregendsten Bühnentexte unserer Zeit. Er hängt nur immer dann ein bisschen durch, wenn ihm bei der Umsetzung nicht offensiv eine Haltung entgegengebracht wird. Hat es damit zu tun, dass sich die zweite Hälfte der Hamburger Livestream-Premiere stellenweise etwas länglich anfühlt? Die Antwort auf diese Frage muss hier offen bleiben, weil schlichtweg kaum einzuschätzen ist, ob nicht vielleicht der Blick auf die fast leeren Zuschauerränge oder die (zu Recht) oft detailkonzentrierte Kameraperspektive aus der Untersicht die Konzentrationsfähigkeit irgendwann beeinträchtigt haben.

Fest steht: Diese kraftstrotzende, lustvolle, spannende Inszenierung muss man sich irgendwann live auf der Bühne anschauen! Dieses energiereiche, souveräne, stürmische Ensemble verdient ein großes klatschendes Publikum. Und das wird es auch bekommen.



Die Politiker
von Wolfram Lotz
Regie: Charlotte Sprenger, Bühne: Aleksandra Pavlović, Kostüme: Anna Degenhard, Musik: Philipp Plessmann, Kamera: Max Schlehuber, Dramaturgie und Live-Instagram: Matthias Günther.
Mit: Sandra Flubacher, Pascal Houdus, Oliver Mallison, Björn Meyer, Philipp Plessmann, Toini Ruhnke, Merlin Sandmeyer.
Premiere im Stream am 7. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de


Hier geht es zur Uraufführung von "Die Politiker" am Deutschen Theater Berlin und der eigens erstellten Livestreamfassung derselben Produktion von Sebastian Hartmann. Die Hannoveraner "Politiker" inszenierte Marie Bues.

Über seine Poetologie spricht Wolfram Lotz in unserer Video-Reihe Neue Dramatik in 12 Positionen. Dort trägt er auch eine Passage aus Die Politiker vor (ab 51:45).

 

Kritikenrundschau

Char­lot­te Spren­ger zeigt bei der Strea­m­ing-Pre­mie­re, wie es geht, "Me­lo­die und Rhyth­mus von Wolf­ram Lotz’ Text als Ba­sis zu neh­men", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (11.5.2021). Mit sie­ben Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­lern un­ter ei­ner Rie­sen­wie­ge mit Po­li­ti­ker­bü­ro drauf folg­e sie der Mu­si­ka­li­tät der Wor­te mit ho­her Sen­si­bi­li­tät für Brü­che, Tem­powan­del und in­halt­li­che Schwenks, zumindest in der ersten Stunde. Danach "schwappte die präzise Spracharbeit über in ein Stimmgewirr mit Schauspielern, die sich in Nahaufnahme auf dem Boden suhlten."

Im NDR (10.5.2021) nimmt sich Katja Weise der Inszenierung an und findet "schlüssig", dass der Text, anders als bei seiner Uraufführung, auf verschiedene Spieler*innen aufgeteilt wurde, denn er enthalte viele "sprunghafte Perspektivwechsel". Kritisch sieht die Autorin einige eingeflochtene Text-Aktualisierungen: Angela Merkels jüngste Entschuldigung in Sachen Pandemie-Maßnahmen, die Kritik daran von Alice Weidel. Man könne den Text von Wolfram Lotz so aktuell ergänzen, doch: "(...) zwingend ist es nicht, er verliert hier das Schwebende, Eigenwillige. Auch die Musik fügt sich nicht immer organisch ein." Die Regisseurin traue der "Sprachmacht" von Lotz nicht wirklich und lasse den Text nicht ausreichend atmen. Das Hauptproblem sei aber, dass dieser Inszenierung die Bühne fehle: Zu dunkel und unscharf seien die Bilder auf dem Bildschirm.

Im Neuen Deutschland (9.5.2021) attestiert Erik Zielke dem Livestream der Inszenierung ein "zweites Kunstwerk" zu sein, dass eher als "Experimentalfilm" denn als bloßer Mitschnitt funktioniere. Lotz´ Stück habe viel mehr "mit einem Langgedicht als mit einem klassischen Theatertext zu tun hat, ist die gnadenlose Beschreibung eines Lebens, das sich in keinem Zusammenhang mit dem politischen Geschehen verorten kann", analysiert der Rezensent. Der Regisseurin gelinge es, das "Theatergedicht, wie der Autor es genannt hat" in einen neunzigminütigen Abend zu verwandeln. Dafür sorge vor allem eine genaue Sprachregie. "Die Politiker, die Politiker", halle es noch Tage später im Kopf des Zuschauenden nach. Bühnen- und Kostümbild seien von Gegenwärtigkeit geprägt, eine "bunte Tristesse". Charlotte Sprenger habe ihre Regiearbeit zwar ganz in den Dienst des Textes von Wolfram Lotz gestellt und werde seiner Künstlichkeit durchaus gerecht - doch hätte sich der Rezensent zwischen der spannenden Kamera-Choreographie einige stärkere inszenatorische Setzungen der Regie gewünscht.

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