Beziehung als Nährboden

Mai 2021.Worauf beruht der Zusammenhalt in einer freien Gruppe? Das haben Christiane Hütter und Elena Philipp Henrike Iglesias gefragt, ein Performancekollektiv, das in freien Zusammenhängen ebenso arbeitet wie an Stadt- und Staatstheatern. Geantwortet haben Anna Fries, Laura Naumann und Marielle Schavan mal als Kollektiv, mal als Einzelpersonen.

Ihr seid seit acht Jahren zusammen. Wie habt Ihr Euch kennengelernt und wie kam der Wunsch zustande, als Kollektiv zu arbeiten?

Henrike Iglesias: Wir kennen uns vom Studium in Hildesheim. Unser erstes Projekt ist beim Studierenden-Festival State of the Art entstanden, einer Kooperation zwischen dem Studiengang Kulturwissenschaften, in dem Anna und Sophia eingeschrieben waren, und Kreatives Schreiben, in dem Laura und Marielle studierten. Die kollektive Struktur war keine Frage – das war zu der Zeit in Hildesheim einfach so. Arbeiten von Einzelkünstler/innen gab es, aber selten. Mieke Matzke von She She Pop war gerade Professorin am Theaterinstitut geworden und hatte eine Vorbildfunktion, She She Pop und Gob Squad haben das Paradigma vom kollektiven Arbeiten aus politischen Gründen geprägt.

Ihr seid als feministisches Kollektiv auch politisch ausgerichtet. Was ist die Grundlage Eurer Zusammenarbeit?

Henrike Iglesias: Care-Arbeit oder emotionale Arbeit ist wie ein Nährboden und diesen zu pflegen unsere Konstante. Das führt manchmal zu Frustration, weil wir immer viel Zeit investieren, dass es allen gut geht oder dass wir zumindest wissen, warum es uns nicht gut geht. Aber ohne das können wir nicht arbeiten. Am Anfang waren wir bisweilen paralysiert von auftretenden Konflikten, sie haben uns daran gehindert, künstlerisch produktiv zu sein.

Cover TheaterundMachtMittlerweile haben wir unsere Dynamiken besser kennengelernt und uns Tools angeeignet, um sie anzusprechen. Seit zwei Jahren machen wir regelmäßig Mediationen, das ist wie Psychotherapie fürs Kollektiv. Wir kommen leicht auf die Metaebene und fragen uns: Was passiert gerade? Die Stimmungsrunde ist dabei ein für uns wichtiges Tool: Alle haben jederzeit das Recht, eine Runde einzuberufen, in der jede/r sagt, wie es gerade geht. In unserer Mediation hat sich noch die Unter-den-Teppich-Runde durchgesetzt. Oft hat man in Gruppen das Gefühl, einander so gut zu kennen, dass man schon an der Mimik zu erkennen meint, was die anderen denken – aber es ist Projektion. Dann ist die Frage in die Runde: Gibt es etwas, das an die Oberfläche muss? Humor hilft auch, da werden wir besser.

Wie habt Ihr Euch als Kollektiv über die Jahre verändert?

Henrike Iglesias: Letztes Jahr haben wir mit Jugendlichen gearbeitet. Ich fand es schön zu sehen, dass wir unsere Kommunikationstraditionen weitergeben und vorleben konnten. Wir wissen mehr, was wir tun, künstlerisch wie politisch, und haben uns professionalisiert. Wir mussten uns als Kollektiv in einem langen Prozess kennenlernen, der andauert. Weil wir uns verändern, ändert sich das Kollektiv – im Idealfall ist ein Kollektiv etwas Prozesshaftes.

Laura Naumann: Der absolute Konsens, mit dem wir im Vierer-Kollektiv lang operiert haben, ist nicht mehr handhabbar, aufgrund der Anzahl der Projekte, weil wir jetzt zu sechst sind und Effizienz lieben.

Eva G. Alonso und Malu Peters sind seit drei Jahren bei Henrike Iglesias dabei.

Henrike Iglesias: Ja. Uns beschäftigt auch das Thema Commitment: Am Anfang haben immer alle bei jedem Projekt mitgemacht, alle waren an allen Anträgen und Entscheidungen beteiligt. Jetzt ist es Thema, was passiert, wenn mal jemand nicht dabei ist bei einem Projekt – oder bei drei Projekten in Folge. Wie muss eine Struktur beschaffen sein, damit sie stabil ist, und wie viel Freiheit können sich die Einzelnen herausnehmen?

Anna Fries: Derzeit denken wir auch darüber nach, wie geschlossen dieser kollektive Körper ist. Inwiefern kann Henrike Iglesias auch ein Netzwerk sein? Wir haben eine Art utopische Struktur für uns geschaffen. Und jetzt ist die Frage, gelingt es uns auch, als dieser Körper Strukturen für andere bereitzustellen? Wir finden gerade heraus, wie wir Beteiligung ermöglichen. 

Kann man Euch eine Mail schreiben: Ich möchte mitmachen?

Marielle Schavan: Ein paar Mal haben wir Initiativbewerbungen bekommen, ja. Bislang sind wir ihnen nicht nachgegangen, weil wir so viele Jahre emotionale Arbeit geleistet haben, dass es uns nicht stimmig vorkommt, im Kernteam mit Menschen zusammenzuarbeiten, die wir noch gar nicht kennen. Aber für dieses Jahr planen wir mehrere Klausurtage, um über genau solche Sachen zu sprechen. Tendenziell kollaborieren wir mit Menschen, mit denen wir schon häufiger zusammengearbeitet haben: Seit fünf Jahren mit Mascha Mihoa Bischoff als Kostümbildnerin, und dass Eva und Malu seit drei Jahren auch Teil des Kollektivs sind, ist aus langjähriger Zusammenarbeit entstanden. Wir haben bislang darauf gehofft, dass sich Veränderung organisch ergibt. 

Laura Naumann: Finanzielle Aspekte werden eine Rolle spielen. Wir schaffen uns unsere Arbeitsplätze selbst. Wenn wir bislang mit Leuten, die wir nicht kannten, kollaboriert haben, war das vor allem in den besser finanzierten Projekten mit Stadttheatern.

Inwiefern spielt die Geschlossenheit des Kollektivs denn auch künstlerisch eine Rolle?

Henrike Iglesias: Wir setzen uns häufig mit autobiographischen Themen auseinander, da braucht es Vertrauen. In "Fressen" geht es zum Beispiel um Körpernormen und Essen in Bezug auf den weiblichen Körper, ein Thema, das uns alle schon einmal persönlich stark betroffen hat. Hätten wir uns nicht so lange gekannt und so viel zusammen durchlebt, wäre diese Art von persönlicher Auseinandersetzung nicht möglich gewesen. Gerade im Kontext des Stadttheaters merken wir immer wieder, wie ungewohnt es für uns ist, dass die Dramaturgie vorbeikommt und eine Person Teil des Probenprozesses ist, die ein anderes System repräsentiert. Auch ästhetisch ist es eine Setzung, dass wir wir sind auf der Bühne. Oft sagen Zuschauer/innen, dass sie kommen, weil sie etwas von uns erfahren. 

HenrikeIglesias Fressen NicoleMariannaWytyczak"Fressen" als Protest gegen einschränkende Körpernormen: Sophia Schroth, Laura Naumann und Marielle Schavan (v.l.) von Henrike Iglesias © Nicole Marianna Wytyczak

Ihr arbeitet als freie Gruppe mit Häusern wie dem Jungen Theater Basel oder den Münchner Kammerspielen. Inwiefern stimmt die Theaterbinse vom "Clash der Kulturen" zwischen Freier Szene und Stadt- und Staatstheatern? Wie geht Ihr mit Reibung oder Konflikten in solchen Kooperationen um?

Marielle Schavan: Das müssen wir zum Glück nicht als Einzelperson durchleben. Wir versuchen, gemeinsam eine Strategie zu erarbeiten, und es ist hilfreich, die Konflikte als Gang ausleben zu können. Am Anfang haben wir uns viel gefallen lassen, aber je länger wir miteinander arbeiten, desto mehr trauen wir uns, in die Konfrontation zu gehen. Wie wir in solchen Konfliktfällen auftreten können, hat auch etwas mit Privilegien zu tun: Wie oft wir mit dem Theater gearbeitet haben und was wir für ein Standing haben – je nachdem ist es einfacher oder auch unmöglich, solche Konflikte offen und selbstbestimmt auszutragen. 

Anna Fries: Ich stimme dem zu, würde aber zur Zusammenarbeit mit Theatern ergänzen: Die Konfrontation zu suchen und eine geschlossene Körperschaft zu sein ist desto einfacher für uns, je stärker das Theater oder Gegenüber ein klarer Feind ist – je größer der Tanker ist, je mehr Patriarchen in der Leitungsebene sind, desto einfacher wird es für uns, uns dagegen zu wehren. Wenn eine von uns auf eine andere Art mit dem Haus verbunden ist als der Rest der Gruppe oder das Haus kleiner ist, dann wird es komplizierter. 

Wofür kämpft Ihr in Konfliktfällen?

Marielle Schavan: Oft geht es um Geld. Stadttheater gehen oft davon aus, dass sie eine Regie-Gage auf alle Kollektivmitglieder aufteilen können. Wirklich? Auch Zeitpläne sind ein Konfliktpunkt: Das Konzept der Stückentwicklung clasht noch immer sehr mit dem Stadttheaterapparat. Dort ist früh klar, wie das Bühnenbild aussehen wird, das sind ganz normale Deadlines im Stadttheater, die aber für unsere Arbeitsweise keinen Sinn ergeben. In der Freien Szene entwerfen wir das Bühnenbild oft erst während der Proben.

Anna Fries: Um Inhalte geht es schon auch immer mal. Dass wir unsere Inhalte auf die Art und Weise zeigen wollen, die wir für richtig halten, aber eine Überwachungsinstanz das Gefühl hat, eingreifen zu müssen.

Laura Naumann: Grenzen sind ein Thema am Stadttheater. Sehr verallgemeinert sind die Leute dort es gewohnt, ihre Mitarbeiter/innen und das Ensemble zu pushen. Manchmal scheint es einfach nicht akzeptiert zu werden, dass da mündige Menschen mit Grenzen arbeiten, und dann wird immer nochmal getestet, ob man die Einzelperformer/in oder das Kollektiv nicht noch weiter drücken kann. Im Finanziellen, bei den Probenzeiten, aber auch, wenn es um Darstellungsweisen geht.

HenrikeIglesias UnderPressure DorotheaTuchTheaterschaffende unter Druck: "Under Pressure" von und mit Henrike Iglesias © Dorothea Tuch

Ihr erwähnt die Vorteile eines Kollektivs, das einem Haus geschlossen gegenübertreten kann. Aber haben freie Gruppen Durchsetzungsmacht gegenüber einer Institution wie dem Stadt- und Staatstheater?

Henrike Iglesias: Im Sinne von Aufmerksamkeitsökonomien schon. Je angesagter die Gruppe ist, desto mehr. Aber nachdem wir ein paar Aufmerksamkeitszyklen beobachtet haben, müssen wir sagen: Wir sind nicht per se in einer Machtposition.

Inwiefern haben auch die Theater dazugelernt, wie Kooperationen gelingen können?

Anna Fries: Es ist jetzt ewig her, dass wir geprobt haben... Aber ich hatte schon öfter das Gefühl: Ah, jetzt tut sich was, jetzt gibt es ein Empfinden dafür, dass die Assistenzposition nicht mehr endlos arbeiten kann. Oder dass auch diese Positionen rebellieren.

Laura Naumann: Neulich war ich im Zoom mit einem Stadttheater – und alle haben gegendert!

Anna Fries: Das ist ein sehr passendes Beispiel. Viele dieser Häuser, die es sich auf die Flagge geschrieben haben, politisches Theater zu machen oder sich für Minderheiten und Diskriminierung zu interessieren, merken: Wenn wir diese Künstler/innen einladen, müssen wir dem Rechnung tragen und unser Personal sensibilisieren.

Welche Rolle spielen bei diesen Prozessen Initiativen wie das ensemble-netzwerk oder Pro Quote Bühne?

Anna Fries: Von Pro Quote Bühne bekomme ich nicht viel mit, aber das ensemble-netzwerk nehme ich als empowernd wahr. Da konnte mensch einen Lernprozess beobachten, von der ersten Ausgabe von "Burning Issues" bis zur dritten, die humbler und mit weiterem Blick auf die Dinge sah. Diesen Lernprozess haben wir auch durchgemacht, innerhalb von aktivistischen Strukturen ist viel in Bewegung.

Worin bestand der Lernprozess?

Henrike Iglesias: Es gibt einen weißen Feminismus, in dem wir auch einige Zeit zuhause waren, ohne uns dessen bewusst zu sein. Also die Illusion, dass wir, aus unserer Position heraus, für alle weiblich identifizierten Menschen sprechen können, dass uns die Bezeichnung "Frau" verbindet und wir alle mehr oder weniger die gleichen Erfahrungen machen – es hat ein paar Jahre gedauert, bis wir verstanden haben, dass die Gemeinsamkeiten doch eher begrenzt sind und dass wir unsere eigenen Privilegien reflektieren müssen, anderen zuhören und Platz machen müssen, um wirklich feministisch handeln und denken zu können. Aber der weiße Feminismus war, trotz seiner Verkürzungen, ein wichtiger Grundstein für eine Bewegung, die intersektionaler denkt und auf mehr Diversität angelegt ist.

Diversität, Geschlechtergerechtigkeit – die Forderungen nach Teilhabe sind nicht mehr zu ignorieren. Im Gefüge des Theaterbetriebs gibt es Verschiebungen. Wie blickt Ihr auf die Fälle von Machtmissbrauch, die es auch zuletzt wieder gab?

Theater und Macht 5 Interview IglesiasIllustration © Frank HöhneAnna Fries: Nach langer Erfahrung habe ich das Gefühl, da stimmt etwas inhärent am System nicht, das ganz viel mit Hierarchien zu tun hat. Es krankt von den Wurzeln her. Daher finde ich es schwer zu sagen, nehmt dieses Medikament, das ist die Lösung. Im Moment denke ich oft, kleinere, diversere Teams und auch langsamere Vorhaben ermöglichen eher, dass nicht so hierarchisch gearbeitet werden muss und mehr Transparenz stattfinden kann. Das ist dieses alte Thema: Warum beugt sich ein Bereich der Kunst, der sich mit besserem Leben auseinandersetzt, denselben Gesetzen, die er kritisiert, und dem turbokapitalistisch Veranlagten?

Marielle Schavan: Theater ist ein inhärent kollektiver Arbeitsprozess. Hier liegt für mich ein Denkfehler im System: Das Ganze dann doch in einzelnen Positionen voneinander zu trennen und diesen unterschiedliche Wertigkeiten beizumessen ist für mich künstlich konstruiert. Alle Theatermittel sind gleich wichtig für das Produkt – wenn das anerkannt würde, wäre schon viel getan und diese Hierarchie auf eine Art entkräftet.

Laura Naumann: Ich würde ganz frech hinzufügen: Es werden noch sehr viele Leute gehen müssen. Alle, die sexistisch oder rassistisch ihre Macht missbrauchen, müssen weg. Es wird immer jemand aufstehen müssen – selten hört jemand, der seine Macht missbraucht, von sich aus auf. Die Betroffenen müssen sagen können: Das geht so nicht. Die Macht-Missbrauchenden müssen ausgetauscht werden. Und im Team müssen alle aufpassen, nicht in diese Situation zu kommen. In kollektiven Leitungen zum Beispiel gibt es die Chance, einander ein Korrektiv zu sein. 

 

 

Kooperation

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Der Aufsatz entstammt dem Band
Theater und Macht – Beobachtungen am Übergang
Herausgegeben von der Heinrich Böll Stiftung und nachtkritik.de in Zusammenarbeit mit Weltuebergang.net unter redaktioneller Leitung von Sophie Diesselhorst, Christiane Hütter, Elena Philipp und Christian Römer. Berlin 2021. 

Hier finden Sie das pdf des Bandes und können ein kostenloses Printexemplar bestellen.

 

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Interview Henrike Iglesias: nichts Neues
Ex-StudentInnen zählen auf, was sie im Studium gelernt haben. Überraschung: das kollektive Arbeiten machten in den Siebzigern schon das Théâtre du soleil, das Théâtre de la Tempête, später La furra dels Baus, Footsbarn, Complicité, ach so viele, und nun, 40-50 Jahre später schreibt man sich das auf die Fahnen. Der Unterschied: die o.Genannten waren umwerfend gut.
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