Jenseits von Identität

von Wolfgang Behrens

11. Mai 2021. Wenn man sich auf der Streaming-Seite von Disney+ herumtreibt, wird man in gar nicht so wenigen Fällen vor dem eigenen Angebot des Konzerns gewarnt. In Bezug auf bestimmte Figurendarstellungen, etwa in Trickfilmen wie "Dumbo", "Aristocats" oder "Dschungelbuch", heißt es dann: "These stereotypes were wrong then and are wrong now." "Diese Stereotype waren damals falsch und sind es noch heute."

Ja, stimmt wohl! Oder stimmt vielleicht. Ob so liebenswerte Darstellungen wie die einer Katzen-Jazzband in den "Aristocats" schon gleich grundverkehrt sind, nur weil ein paar Stereotype bedient werden – darüber kann zumindest diskutiert werden. Aber schon mit der Diskussion ist es ja so eine Sache. Denn wer wann wo wie etwas sagen darf, das ist längst selbst Gegenstand einer erbitterten Diskussion.

Utopische Idee

Wer Diskussionen wie führen darf, das hat auf nachtkritik.de eine lange Geschichte. Und natürlich gab es Entwicklungen: ein immer zupackenderes Gatekeeping, sichtbarere Moderation, das Bemühen um Etikette und Sachlichkeit, das vorbehaltsreiche Ringen um Ausschlusskriterien (vielleicht – ich möchte es glauben – hat dieser mitunter quälende Prozess dazu geführt, dass das Diskussionsklima auf Nachtkritik im Ganzen doch weniger rau ist als in anderen sozialen Medien). Aber von all dem möchte ich nicht erzählen. Sondern von der utopischen Gründungsidee des maskierten oder anonymisierten Sprechens.

Als ich noch ein Kritiker war und nachtkritik in den Startlöchern stand, da war ein Credo der Erfinder*innen dieser Seite, dass die Diskussion über Theater offener werden müsse. Die Kritik dürfe keine Einbahnstraße sein, es müsse Gegenrede geben, und die dürfe auch aus dem Inneren der Theater, also von den unmittelbar Kritisierten kommen.

Für das gute Argument

Nicht zuletzt deswegen entschied man damals, dass die Kommentarfunktion anonym nutzbar sein solle. Um die Sache müsse es gehen und nicht um die Leute, die ihre Meinungen kundtun. Ein gutes Argument bleibe ein gutes Argument, egal, von wem es geäußert werde.

kolumne 2p behrensUnd zugleich wollte man diejenigen schützen, die vielleicht aus dem Theater heraus kritisch über ihr eigenes Theater schreiben – oder über Produktionen, an denen sie selbst beteiligt waren. Nicht, dass am nächsten Tag die Intendantin oder der Regisseur auf der Matte steht mit der Anrede: "Sieh mal her, Andrea*s, das hast Du gestern bei nachtkritik gepostet, also das war's jetzt für Dich. Wiedersehen!"

Die Sache gestaltete sich indes komplizierter. Zuerst einmal musste sichergestellt werden, dass jemand, der unter einem prominenten Klarnamen kommentierte auch wirklich die- oder derjenige war. Denn irgendwie verlieh ja der Klarname einem Statement doch ein anderes Gewicht. Warum eigentlich? Kam es nicht mehr ausschließlich auf das Argument an? Nun ja, es stellte sich heraus, dass – wenn es nicht gerade um Mathematik geht – die Perspektive ein Teil des Arguments ist. Wenn eine Regisseurin sagt: "Ich habe das aber so gemeint", dann kann das eben niemand Anderes so für sie schreiben.

Klarnamen kann man abprüfen, Funktionen oder anonyme Selbstzuschreibungen indes nicht. Wenn jemand unter dem Nickname "dramaturgin", "Inspizient" oder "Alte weiße Frau" postet, dann kann man die Perspektive, aus der dadurch zu schreiben behauptet wird, glauben oder nicht. Tatsächlich aber maßen sich die Schreibenden so einen bestimmten Erfahrungshorizont an. "Regieassistent" scheint "Zuschauerin", was interne Theatervorgänge betrifft, klar überlegen zu sein.

Alles aber, was an eigener Erfahrung in die Argumente einfließt, macht deren Glaubwürdigkeit abhängig von der tatsächlichen Sprecher*innenposition. "Ich habe an vier Theatern gearbeitet und nur tolle männliche Intendanten erlebt" ist eine Aussage, die erst interessant wird, wenn sie jemand tätigt, der nachweislich an vier Theatern mit männlichen Intendanten gearbeitet hat. Wenn ein solcher Kommentar anonym von der Pressesprecherin eines Intendanten gepostet wird, der gerade wegen Machtmissbrauchs in der Diskussion steht, fällt das Argument in sich zusammen.

War es also damals falsch und ist es noch heute, auf anonyme Kommentare zu setzen? Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht.

Identitätspolitische Kehrseite

Theaterleute zu schützen, die sich außerhalb der Hierarchie äußern wollen, halte ich nach wie vor für richtig. Und eine weitere Kehrseite der Medaille ist die identitätspolitische. Wenn ich ein Argument vorbringe, kann es tatsächlich einen riesigen Unterschied machen, ob ich ein weißer Mann bin. Oder eine muslimische Frau. Oder eine Trans*person. Oder ein grüner Politiker. Oder eine lesbische AfD-Politikerin. Oder ein schwarzer Schauspieler. Vielleicht aber möchte ich ja, dass einmal nur mein Argument gehört wird und nicht gleich jemand sagt: "Ah, das sagt er ja nur, weil er ein weißer heterosexueller westdeutscher Dramaturg ist, der früher einmal ein Kritiker war und nun sehen muss, wo er bleibt. Und so einer darf zu Stereotypen-Darstellungen in Disney-Filmen eigentlich nichts sagen. Gar nichts."

Vielleicht ist ja mein Restglauben an einen alle Identitäten hinter sich lassenden universalistischen Dialog auch einfach nur hemmungslos naiv?

Ich weiß es wirklich nicht.

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 

In seiner vorherigen Kolumne erklärte Wolfgang Behrens, was die Impfkampagne vom Theater lernen kann.

 

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