Ode an einen Oktopus

von Elena Philipp

Berlin, 13. Mai 2021. Anders als wir, so anders wie ein Alien. Mit einem zentralen und acht dezentralen Gehirnen, eins in jedem Tentakel, deren Saugnäpfe als hochkomplexe Sinnesorgane funktionieren. Intelligent wie kaum ein Wesen, das mensch bislang erforscht hat, sind Oktopoden wundersame Wesen. Ihr Evolutionspfad hat sich vor 500 bis 600 Millionen Jahren von dem der Säugetiere getrennt. Naturforscher*ins Traum: Könnte man nur mit diesen Tieren kommunizieren!

Eine Interspezies-Begegnung erhofft sich auch Stefan Kaegi in seiner einstündigen Mensch-Tier-Performance "Le Temple du Présent. Solo pour Octopus". Im aufgezeichneten Stream beobachten wir Sète, ein weibliches Exemplar, im "theatralen Aquarium", gefüllt mit 1.300 Litern Salzwasser und von Kameras umstellt. Sphärischer Glockenklang begleitet das Aufblenden, vor einem nachtblauen Hintergrund tentakelt sich Sète als schwarze Gestalt durch ihr kleines Reich. Zauberisch wie eine Opernkulisse wirkt dieses erste Bild. Ein mondartiger Lichtspot weckt das Interesse des Oktopus. Zumindest legt das eine Text-Einblendung nahe, die sich, mit einer Uhrzeit versehen, liest wie ein Beobachtungsprotokoll. Verfasst haben es vielleicht die immer wieder verschwommen an den Kameras sichtbaren Kolleg*innen der menschlichen Protagonistin dieses Duo-Solos, Nathalie Küttel, die zuvor an einem stark verkabelten Rechner eingeblendet worden war. Eine angedeutete Laborsituation: Zwischen Kunst und Wissenschaft bewegt sich die Inszenierung.

TempleDuPresent1 600 PhilippeWeissbrodtIm theatralen Aquarium: die Oktopus-Performerin und ihre menschliche Kollegin (Nathalie Küttel) © Philippe Weissbrodt

Aufgeführt und dabei aufgezeichnet wurde sie in einem Bühnensetting. In einer Einstellung sieht man Publikum im Saal, mit Maske und auf Abstand. Mitgeschnitten wurde die Vorstellung am 7. Januar im Théâtre de Vidy, ausgestrahlt hat sie jetzt das NT Gent. Live musste den Zuschauer*innen natürlich etwas geboten werden, zumindest nach der Theaterlogik. Und so nimmt Nathalie Küttel von ShanjuLab – einem dem Théâtre de Vidy angedockten Labor für die theatrale Recherche von Tier-Präsenz (Laboratoire de recherche théâtrale sur la présence animale) – beherzt Kontakt auf. Von außen legt sie ihre Hände ans Glas, und Sète reagiert auf ihre Anwesenheit, folgt den Bewegungen, aus denen Küttel nach und nach einen Tanz ums Aquarium choreographiert. Schließlich verliest die Performerin und Tierforscherin die zweite Duineser Elegie von Rilke. Der im Bild eingeblendete Übertitel beschreibt, dass Sète in diesem Part der Vorstellung immer sehr ruhig sei.

Schmeckt der Weltraum nach uns?

Eine gewagte Deutung, denn wie der Oktopus überhaupt wahrnimmt, was hier stattfindet, ist unklar – immerhin wird auch erwähnt, dass Oktopoden keinen Gehör im uns vertrauten Sinn haben. Die Rilke-Lesung richtet sich also ans Publikum, beschreibt sie doch eine atmosphärische Entgrenzung des Menschen in seine Umwelt und eine andere Art der Interspezies-Kommunikation: "Schmeckt denn der Weltraum, in den wir uns lösen, nach uns? Fangen die Engel wirklich nur Ihriges auf, ihnen Entströmtes, oder ist manchmal, wie aus Versehen, ein wenig unseres Wesens dabei?" Ein im Rahmen der Inszenierung gekünstelt poetisch wirkender Moment.

TempleDuPresent2 600 PhilippeWeissbrodtOktopoden-Power: die geheimnisvolle Sète © Philippe Weissbrodt

Knapp dreißig Minuten dauert der erste Teil der Performance, dem immer wieder Audio-Statements von Wissenschaftler*innen unterlegt sind – aus der Psychologie, Neuro- oder Kognitionswissenschaft, der Philosophie und Zoologie. Vom Faszinosum Oktopus künden sie mal faktisch, mal spekulativ. Ob sich die Berührung eines der unabhängig aktionsfähigen Tentakel für das Tier wie eine Fremd- oder eine Selbstberührung anfühlt, ist dabei eine der spannenderen Fragen. Dann öffnet Nathalie Küttel die Abdeckung des Aquariums und taucht sanft ihre Hände ins Wasser. Sète, die ihre Farbe von hellbeige zum rötlichen Braun wechselt, weicht erst zurück in eine Ecke und beginnt schließlich doch, Küttels Hände mit ihren Tentakeln zu erkunden. Ein Sinnbild für die erhoffte Interspezies-Kommunikation!

Tier-Mensch-Manipulation

Aber was sich entspinnt, wirkt nicht wie eine harmonische Interaktion, sondern wie ein Ringen, eine gegenseitige Manipulation. Immer wieder löst Küttel die Saugnäpfe der Molluske von ihren Händen, Sète spuckt Wasser, was übertitelt wird als Versuch, Küttel aus ihrem Revier zu vertreiben, und einmal wird eingeblendet, Sète habe ihre Pflegerin und Co-Performerin gebissen. Verständliche Reaktion, denkt man als Zuschauerin, schließlich wird ein auf engsten Raum beschränktes Tier zu einer Begegnung gezwungen. Anders als im oscarprämierten Dokumentarfilm "My Octopus Teacher", dessen Macher*innen den Lebensraum des Tieres aufsuchten, in dem sie fremd waren und in dem der Oktopus über Nähe und Kontaktaufnahme entschied. Gerecht wird "Le Temple du Présent" damit weder der Kunst noch der Wissenschaft. Mystifiziert als beinahe übermenschliche Intelligenz, als humor- und empathiebegabtes, in der reinen Gegenwart aufgehendes Tier, wird Sète in "Le Temple du Présent" für eine Show instrumentalisiert.

 

Le Temple du Présent – Solo pour Octopus
Konzept und Regie: Stefan Kaegi, in Kooperation mit Judith Zagury & Nathalie Küttel (ShanjuLab), Wissenschaftliche Beratung: Graziano Fiorito, Dramaturgie: Katja Hagedorn, Musik: Stéphane Vecchione, in Zusammenarbeit mit Brice Catherin, Bühnenbau: Atelier des Théâtre Vidy-Lausanne, Lichtdesign und Szenographie: Pierre Nicolas Moulin, Video: Oliver Vulliamy, Untertitel: Bruno Deville, Bastien Genoud.
Mit: Sète, dem Oktopus, Stéphane Vecchione, Judith Zagury / Nathalie Küttel
Koproduktion: Berliner Festspiele, Rimini Apparat, Centre Pompidou, Printemps des Comédiens, Produktionsleitung: Anouk Luthier, Produktion: Théâtre Vidy-Lausanne, ShanjuLab Gimel, République Ephémère, Théâtre Saint-Gervais
Premiere am 13. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten

https://www.ntgent.be

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