Schwimmen im vergifteten Wasser

17. Mai 2021. "Sie sind nicht nur Idiot*innen, Inkompetente und Philister, sie haben auch keinerlei Ahnung von der Realität, wie Künstler*innen arbeiten, leben, planen und ihre Arbeiten präsentieren." Tim Etchells von Forced Entertainment findet deutliche Worte für den britischen Premierminister Boris Johnson und sein Regierungskabinett.

Etchells im Interview mit Stephanie Drees

Schwimmen im vergifteten Wasser

17. Mai 2021. Der Brexit hat für viele britische Künstler*innen unmittelbaren Einfluss auf ihre Schaffensmöglichkeiten. Zuvor war das Arbeiten in ganz Europa für sie durch die EU-Binnenfreizügigkeit unkompliziert, nun sieht alles anders aus. Forced Entertainment ist eine der renommiertesten britischen Theatergruppen der Post-Drama-Ära. Gegründet wurde sie 1984 – mitten in der Thatcher-Ära. Künstlerischer Leiter ist Tim Etchells. Im Interview mit Stephanie Drees spricht er über Auswirkungen einer Situation, von der viele dachten, sie nie zu erleben.

TimEtchells 300hf ChrisSaundersTim Etchells © Chris SaundersTim Etchells, wenn Sie als Künstler auf den Brexit schauen: Welche Frage beschäftigt Sie am meisten?

Tim Etchells: Meine Hauptsorge ist, dass die Abstimmung und die Entscheidung, die EU zu verlassen, die bestehenden rassistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen in der Kultur hier verstärkt haben. Die Dinge waren vorher nicht perfekt, aber es gibt eine erhöhte Giftigkeit im politischen und sozialen Gefüge, die wirklich schädlich ist. Es kostet buchstäblich Leben, wirkt sich auf die psychische Gesundheit aus und zerstört die Chancen von Menschen, die es besser verdienen. Es ist unverzeihlich.

Für mich ist diese Vergiftung des politischen und sozialen Wassers das Hauptproblem. Es gibt natürlich noch viele andere konkrete Dinge, über die man sich Sorgen machen muss. Jeder mit einem Gehirn könnte sehen, dass die wirtschaftlichen Folgen des Brexits schlimm sein werden, jeder mit einem Gehirn könnte die Gefahr sehen, dass in Nordirland Probleme aufflammen werden und so weiter. Aber die Tatsache, dass wir alle in dieser Atmosphäre des Müllnationalismus arbeiten, lieben und leben müssen, ist einfach miserabel – das sage ich als weißer Mensch. Die Erfahrung für People of Colour und Menschen mit Akzenten, die sie als "fremd" kennzeichnen, ist noch viel schlimmer. Das Wasser ist schlecht, wir werden alle krank.

Im Januar veröffentlichten britische Musiker*innen einen Protest-Brief in der britischen Zeitung The Times, im Februar folgte ein offener Brief von Schauspieler*innen auf der Website der Gewerkschaft Equity. Beide Schreiben beklagen: Problematisch machen den Brexit für britische Künstler*innen vor allem teure Visa und starke bürokratische Hürden. Was genau sind diese Hürden?

Tim Etchells: Im Bereich Performance: Es braucht Wissen und Zeit (und damit Geld), um Visa zu beantragen und Carnets (Zolldokumente für die temporäre Aus- und Einfuhr von Gütern, Anm. d. Redaktion) für Materialien zu bearbeiten, die zu bewegen sind. Das bedeutet, dass das, was wir tun, einfach zeitaufwändiger und teurer wird. Die Tatsache, dass es nicht standardmäßige, variable Vereinbarungen mit verschiedenen Ländern gibt (oder geben wird), macht das Leben auch komplexer und Geschäftsverhandlungen werden schwieriger. Außerdem besteht derzeit ein echtes Informationsvakuum – sehr oft sind sich professionelle Organisationen über genaue Szenarien nicht im Klaren, ihre Websites verweisen auf Regierungswebsites. Du liest die Regierungswebsite 30 Minuten lang und suchst vergeblich nach Informationen, die genau den Umständen entsprechen, die du planen möchtest. Am Ende wirst du auf die Website der Berufsverbände weitergeleitet, und bist wieder da, wo du begonnen hast. Es ist eine Endlosschleife.

Ich arbeite auch viel im Kontext der visuellen Kunst und dort wurde der gesamte Import und Export von Kunstwerken für Ausstellungen viel teurer und komplexer in Bezug auf Steuern wie zum Beispiel die Mehrwertsteuer. In vielen Fällen werde ich jetzt wahrscheinlich dazu übergehen, Arbeiten in Europa herstellen zu lassen, sie dort auszustellen und dann dort zu lagern … nur, um Großbritannien aus dem Verkehr zu ziehen. Der Dominoeffekt für die britische Wirtschaft (allgemein, nicht von meiner Arbeit ausgehend!) wird enorm sein. Jedes kleine Unternehmen, das glücklich und einfach Dinge nach und aus Europa transportierte, steht jetzt vor Problemen – von Kleidung über Lebensmittel bis hin zu Blumen. Alles völlig vorhersehbar. Alles schrecklich. Und noch schlimmer für einzelne Künstler*innen, die daran arbeiten, dieses Zeug zu verstehen und zu verhandeln.

Tourneen könnten ein weiteres Problem sein. Das renommierte Londoner National Theatre (NT) hat bereits angekündigt, seine Pläne für EU-Tourneen nach der Pandemie auf Eis zu legen, da die Kosten für Arbeitserlaubnisse, Visa und bisher unklare Sozialversicherungsbeiträge das Touren unrentabel machen könnten. Was bedeutet das für die britische Theaterlandschaft?

Tim Etchells: Ich weiß es nicht. Wir arbeiten offensichtlich immer noch an unseren Plänen und hoffen sehr, dass wir die Partnerschaften und kreativen Gespräche in Europa und anderswo, die wir in den letzten 36 Jahren aufgebaut und geführt haben, fortsetzen können.

Aber es macht mir große Sorgen, dass eine Organisation wie das NT ihre EU-Tournee aus dem Plan nehmen könnte – sie haben die Ressourcen und den Zugang zu Informationen, sie haben das Geld und ihre Shows. Ich hätte gedacht, sie müssten ziemlich hohe Zahlen verzeichnen (in Bezug auf Publikum, Ticketverkäufe etc.). Wenn sie es nicht schaffen, macht man sich wirklich Sorgen um kleinere Unternehmen, bei denen die Gewinnspannen (oder Break-Even-Punkte) so viel kleiner sind, bzw. später einsetzen. Es sendet kein gutes Signal.

Das Letzte, was dieses Land braucht, ist kulturelle Isolation. Es war schon vor dem Brexit viel zu isoliert.

Show 600 ChristianAltorferTim Etchells' Installation "The Show ..." in Zürich auf der Landiwiese, Heimat des Zürcher Theater-Spektakels
© Christian Altorfer

Internationale Kooperationen sind (auch) in der freien Theaterszene in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger geworden – europa- und weltweit. Wird die Szene so überleben können?

Tim Etchells: Hier wirken viele Kräfte. Es gibt einen Brexit, der die Möglichkeit, außerhalb Großbritanniens zu arbeiten, einschränkt. Und es gibt Covid, das die internationale Verbreitung von Projekten der darstellenden Künste (außer über das Internet!) gravierend unterbrochen hat.

Ich denke, die Leute hinterfragen zu Recht die Umweltauswirkungen des Tourens. Covid hat gezeigt, dass bestimmte Arten des Arbeitens immer noch stattfinden können – via Remote-Work, über das Internet oder über andere Arbeitsprozesse. Siehe Ant Hamptons "Showing Without Going"-Forschungsarbeit mit dem Theater Vidy-Lausanne oder das künstlerische Forschungsprojekt "Concept Touring" des Festivals LIFT und seiner Partner oder Jerome Bels gut dokumentierte Haltung gegen internationale Touren. Es gibt auch ein wachsendes Engagement für den Lokalismus, die Idee, mit und für Gemeinschaften zu arbeiten, was in gewisser Weise eine Abkehr von der Ära ist, in der Forced Entertainment gegründet wurde und "aufgewachsen" ist. Internationale Touren waren der akzeptierte Boden für radikale künstlerische Praxen.

Was Forced Entertainment betrifft: Die Gruppe hätte ohne das positive Engagement, die Unterstützung und die Inspiration, die wir außerhalb Großbritanniens gefunden haben, sicherlich nicht überlebt. Die Arbeit, die wir machen – deren ästhetische Strategien ganz anders funktionieren als das von Großbritannien favorisierte "well-made-play" – wäre ohne Partnerschaften und Möglichkeiten in ganz Europa und darüber hinaus einfach nicht möglich gewesen.

Laut den protestierenden Künstler*innen sei von der britischen Regierung Bewegungsfreiheit versprochen worden. Was wünschen Sie sich von der Regierung?

Tim Etchells: Idealerweise: überhaupt keine Grenzen. Freizügigkeit für alle. Pragmatisch: Stellt sofort wieder eine Situation her, in der sich britische und EU-Künstler*innen (im weitesten Sinne definiert) frei in und aus Europa heraus bewegen können, um ihre Arbeit zu erledigen. Das Problem ist, dass die Johnson-Regierung in ihren Verhandlungen diesen Problemen keinerlei Priorität gegeben oder dafür gearbeitet hat. Berichten zufolge, die ich gelesen habe, wurde ihnen eine gegenseitige Vereinbarung über die Freizügigkeit für Künstler*innen angeboten, die sie jedoch mit der Begründung ablehnten, dass sie EU-Künstler*innen keinen freien Zugang zum Vereinigten Königreich gewähren wollten. Sie sind nicht nur Idiot*innen, Inkompetente und Philister, sie haben auch keinerlei Ahnung von der Realität, wie Künstler*innen arbeiten, leben, planen und ihre Arbeiten präsentieren. Buchstäblich keine Ahnung.

Großbritannien und die EU machen sich gegenseitig für die Situation verantwortlich. Liegt es am mangelnden Willen?

Tim Etchells: Nach allem, was ich gelesen habe, würde ich die Schuld weitestgehend Großbritannien geben.

Hat die Coronakrise aus Ihrer Sicht etwas verändert, wenn es um die Wahrnehmung des Brexits im Land geht?

Tim Etchells: Corona hat die Auswirkungen des Brexits maskiert und verzögert. Und über Auswirkungen des Brexit, die zu spüren waren, wurde aufgrund des starken Covid-Fokus nicht so häufig berichtet. So weit wie Johnson und Co. öffentlich mit dem Brexit "durchgekommen" sind, oder noch durchkommen werden, hat Corona ihnen wahrscheinlich geholfen. Es ist eine große (und sinnige) Ablenkung. Es war ein gutes Jahr, um schlechte Nachrichten zu begraben, wie Johnson und Co. sagen.

Was bedeutet der Brexit für Großbritanniens Kreativwirtschaft – jenseits der bürokratischen Fragen?

Tim Etchells: Wir lernen, im vergifteten Wasser zu schwimmen.

Wie beeinflusst die derzeitige politische Situation die künstlerische Arbeit von Forced Entertainment?

Tim Etchells: Wir haben uns wahrscheinlich nie vorgenommen, ein Stück zu machen, das sich direkt mit einer aktuellen politischen Situation befasst. Gleichzeitig ist der Proberaum für mich immer eine Art verzerrender Spiegel, ein Wahrsageinstrument, eine Möglichkeit, die Temperatur der Zeit irgendwie zu messen und in den besonderen Moment der Entstehung eines Werks zu sprechen.

Kein Wunder also, dass "Real Magic", geschaffen während / um die Zeit der Brexit-Kampagne, und "Out of Order" – unsere beiden jüngsten Performances – Situationen extremer sozialer und politischer Blockaden zeigen, in denen Performer*innen in Zyklen von Gewalt gefangen sind oder in sich brutalisierenden Systemen, denen sie anscheinend nicht entkommen können. Es sind sicher komische Stücke, aber es liegt eine Verzweiflung in ihnen. Unsere Arbeit ist immer politisch. Die fragile gegenwärtige Situation unterstreicht und fördert diesen Aspekt.

Auf organisatorischer Ebene denke ich, dass auch die letzten Jahre wichtig waren. Das hängt mit der sich ändernden politischen Situation zusammen. Seit wir 2016 den Ibsen Award gewonnen haben, versuchen wir darüber nachzudenken, unsere Position (und einige unserer Ressourcen, insbesondere aus dem Preis) zu nutzen, um Chancen für andere Menschen zu fördern. Mit dem Preis haben wir eine neue Rolle in der Gruppe finanziert, die sich auf die Arbeit mit jungen Menschen konzentriert, insbesondere in Sheffield, aber auch in anderen Kontexten. Auf diese Weise haben wir versucht, die Arbeit und Ansätze, die wir im Rahmen eines Dialogs mit jungen Menschen entwickelt haben, anzubieten, ihnen beim Lernen zu helfen und neue Denk- und Seinsarten zu eröffnen. Gleichzeitig haben wir den Forced Entertainment Award ins Leben gerufen, der jetzt dreimal an eine*n andere*n Künstler*in oder eine andere Gruppe vergeben wurde. Der Preis beträgt £ 10.000 in bar, ist unverbindlich und bietet ein einjähriges Mentoring- und Unterstützungsprogramm für jene, die mit uns an ihrer Organisationsstruktur, ihrer Kommunikation, an der Entwicklung künstlerischer Pläne usw. arbeiten wollen.

Im Moment planen wir für die nächsten vier Jahre und obwohl unsere Ressourcen begrenzt sind, denken wir neben unserer eigenen Arbeit wir auch intensiv über die Unterstützung nach, die wir geben können. Das scheint in diesem Moment wichtig zu sein.

Das Gespräch führte Stephanie Drees.

Mehr von und über Tim Etchells und Forced Entertainment auf nachtkritik.de:

- Nachtkritik zur Zoom-Performance "End Meeting for All" von Forced Entertainment (4/2020)

- Nachtkritik zu "Out of Order" am Schauspiel Frankfurt (4/2018)

- Nachtkritik zu "Real Magic" in PACT Zollverein Essen (5/2016)

- Gastbeitrag: Tim Etchells on Live Streaming, Forced Entertainment's durational performances and "Complete Works" (6/2015)

Weitere Beiträge, Meldungen und Nachtkritiken im Lexikoneintrag zu Forced Entertainment.

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