Die Ratten sind überall

von Andreas Thamm

Bamberg, 19. Mai 2021. Ein Haus in den Bergen. Aus Stahl, Glas und Beton ins Nichts gebaut. Hier gibt es Aussicht, Bücher und Kunst, Rehe und Geld: Der Mensch, der es sich leisten kann, flieht vor den anderen Menschen. Er heißt Tom und macht in Satelliten. Seine Frau, Sue, ist jünger und schwanger, doch davon weiß Tom nichts. Das Publikum der Bamberger Premiere von Roland Schimmelpfennigs jüngstem Stück "Der Riss durch die Welt" muss glauben, was es über das beeindruckende Anwesen zu hören kriegt. Die Bühnengestaltung ist betont minimalistisch, eine Fensterfront teilt den Raum in zwei Hälften.

Bücher, Rehe, Geld

Aber man kriegt ja viel zu hören, über die Aussicht, die Rehe und immer wieder über die Bücher, "überall Bücher" erzählt Sophie, die junge Künstlerin. Sie ist mit ihrem Freund Jared ins Haus in den Bergen eingeladen worden. Weil sie Künstlerin ist und Tom ein Mäzen, sie will ein Projekt von apokalyptischer Schönheit vorstellen: Der Riss durch die Welt, ein Fluss aus Blut, eine Welle aus Müll, eine Katastrophe biblischen Ausmaßes, eine Strafe, so stellen Sophie und Jared sich das vor, aufrüttelnd und, irgendwie, bedeutsam.

DerRissdurchdieWelt2 560 Martin Kaufhold uDas Haus, die Aussicht, die Lügen: die Bühne von Trixy Royeck © Martin Kaufhold
In der Unterzeile nennt Roland Schimmelpfennig sein Stück 170 Fragmente einer gescheiterten Unterhaltung. Der Ausgang ist klar: Hier kommen vier nicht zusammen, der Abend wird eskaliert sein am Ende. In den folgenden 95 Minuten wird sich dieser Abend dem Zuschauer Stück für Stück zusammensetzen, ein Cut-Up, das vor und zurückspult und viel mit Redundanz und Rhythmus arbeitet, den Wellenschlag der Konversation ins Extreme verzerrend, auf jeden Ausbruch folgt die Rückkehr zur Banalität: "Möchten Sie eine Decke?"

Das Kammerspiel eignet sich hervorragend, um gesellschaftliche Rollen scharf am Klischee schrammend herauszuarbeiten. Schimmelpfennig ruft den zynischen Schnösel Tom auf, in dem sich Stephan Ulrich so dermaßen suhlen kann. "Sie sind der ahnungslose, alte Mann!", wirft der impulsive junge Mann, Jared ihm an den Kopf. Tom genüsslich: "Das ist mein Fachgebiet (…) Alt, ahnungslos und reich." Dass einer so sensationell herablassend lächeln kann! Jared wiederum: Er war eigentlich gar nicht eingeladen, soll etwas Echtes mitbringen in diese Wohlstandsgesellschaft. "Sie sprachen immer vom Ghetto", konstatiert Sue Mal um Mal. Aber ob es dieses Ghetto wirklich gibt, ob Jared wirklich im Knast war, oder ob das Teil seines Spiels ist, kann nicht aufgelöst werden.

Die Künstlerin im Leopardenmantel

Er trägt Jogginghose und Tattoos an Händen und Hals. Die Jungen wollen anders sein als die Alten. Und doch: Die beiden Männer spiegeln sich in aufplusternder Männlichkeit. Es ist auch ein Hahnenkampf, hinter dessen Lautstärke, die drei Frauen auf der Bühne fast verschwinden. Oder vor Scham und Abscheu verschwinden möchten: Weint Sophie mit dem Rücken zum Publikum hinter der Glasscheibe, weil ihr Freund ihrem Vorhaben im Weg steht? Sie die Künstlerin erkennt man als solche am Leopardenmantel und den blauen Haaren. Alles vintage, soll zufällig aussehen, ist aber sorgfältig zusammengestellt, findet wiederum Sue. Das indirekte, das Sprechen übereinander und über sich legt weitere Schichten der Beziehungen frei, das, was vielleicht irgendwo unter den wiedergekäuten Phrasen liegt. "Sie war scharf auf ihn", sagt Jared über Sophie und sie andersherum über ihn und so weiter.

DerRissdurchdieWelt3 560 Martin Kaufhold uSophie und Jared: Clara Kroneck + Ansgar Sauren (etwas im Hintergrund: Antonia Bockelmann) © Martin Kaufhold

Und dann ist da noch Maria, die Jared immer wieder das Sektglas reicht, das er immer wieder, patsch, krach!, an die Glaswand pfeffert. Die Köchin, die Haushälterin: "Wir sagen Maria, sie gehört zur Familie", sagt Sue in einem dieser wunderbaren Sätze, die die Unehrlichkeit, den Selbstbetrug, um den es eigentlich geht, offenbart. Maria steht außerhalb des seltsamen Tanzes, der hier aufgeführt wird, den sie immer wieder wie retrospektiv nacherzählt, und kostet doch dieselbe Verachtung, dieselbe ironische Grundhaltung zum Tun ihrer Mitmenschen. Als sie, Ewa Rataj, ein endzeitliches Bild aufruft – "die Ratten sind überall und mit den Ratten kommen die Krankheiten" – bleibt der gemeinte Schauder leider blass.

Zerbrochene Leben zu Jazz-Klängen

Die Bamberger Intendantin Sibylle Broll-Pape lässt diesem Textgeflecht aus großen Konzepten und biblischen Halluzinationen in ihrer Inszenierung viel Raum. Das braucht es auch, damit in den Köpfen diese spannende Art der individuellen Version einer Chronologie entstehen kann, eine Geschichte ohne Verlass. Die clevere Schiebefenster-Bühne stellt immer wieder Gruppen her, verdeutlicht Annäherung und Trennung, die SchauspielerInnen bleiben recht häufig Vortragende, nur Jared, Ansgar Sauren, darf so richtig Action machen und gegen die unsichtbare Wespe kämpfen, von der Sophie erzählt.

Der ganze Abend ist ein sprachlich feines, theatertechnisch arg zurückhaltendes Durchexerzieren der offensichtlichen Widersprüche: das Geld vom Schnösel haben müssen, um die Existenz des Schnösels anzugreifen – und der verborgeneren, die von der Sehnsucht danach erzählen, dass endlich mal wieder was Existenzielles passiert: Hagel, Zerstörung, Pocken, Heuschrecken, Ghetto. Was davon ist wahr?

Am Scheitelpunkt des Abends zerspringen nicht wirklich alle Scheiben. Tom wirft sein Portmonee ins Feuer. Weil er alles verachtet und an nichts glaubt, weil ihm langweilig ist. Und Jared will ihm für diese Demütigung an die Gurgel gehen, weil er echt ist und noch Probleme kennt. Keiner kann aus seiner Rolle, seiner Haut. Maria muss die Scherben zusammenfegen, im Hintergrund trompetet ein angenehmer Jazz.

 

Der Riss durch die Welt
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Sibylle Broll-Pape, Bühne und Kostüme: Trixy Royeck, Dramaturgie: Remsi Al Khalisi, Regieassistenz: Franziska Okolo, Ausstattungsassistenz: Anais Buzduga.
Mit: Stephan Ullrich, Antonia Brockelmann, Clara Kroneck, Ansgar Sauren, Ewa Rataj.
Premiere am 19. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

theater.bamberg.de

 

Kritikenrundschau

Im Fränkischen Tag (22.5.2021) schreibt Christoph Hägele zum Stück: Gedruckt auf Papier sei Roland Schimmelpfennigs "Der Riss durch die Welt" ein gedankenschwerer und steril anmutender Text. "Zum Leben erweckte" ihn das hervorragende Ensemble, findet der Kritiker. Einen Abend wie diesen habe man schmerzhaft vermisst, seufzt er erleichtert in seinem Rundum-Lob. In der Kritik der Gesellschaftskritik liege der Sprengstoff des Stücks. In Bamberg sieht der Kritiker dies hervorragend umgesetzt und "selbstreflexives Theater, das den eigenen Mitteln zu misstrauen gelernt habe".

Auch Andreas Reuss zeigt sich in der Bayerischen Staatszeitung (22.5.2021) angetan von dieser Inszenierung. Handlung gebe es kaum, diese sei von Schimmelpfennig aber auch nicht angelegt, der im Stück das Scheitern einer Unterhaltung in Fragmenten zeige. "Grandios" vorgetragene Monologe von Ewa Rataj, die auch den kommentierenden Chor spreche, veranlassen den Kritiker zu diesem Urteil – und auch das Spiel ihrer Kollege*innen, die laut Reuss allesamt "Herausragendes" auf der Bühne leisteten.

 

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