Alle sind Monster!

von Gabi Hift

Wien, 19. Mai 2021. Und dann kommt sie doch noch, die große Welle der Freude, an diesem ersten Theaterabend nach sechseinhalb Monaten. Vor Einlass wirken alle erstaunlich ungerührt. Bekannte reden über ihre Impftermine, kommentierten die reibungslos funktionierenden 3G-Kontrollen (GEtestet/GEimpft/GEnesen). Business as usual. Am Ende dann maskengedämpfte Bravos für die Schauspieler*innen, freundlicher Applaus fürs Regieteam. Aber dann passiert's doch: Sarah Viktoria Frick muss jedes Mal, wenn sie vom Verbeugen auftaucht, vor Freude immer breiter lachen, aus dem Lachen wird ein Strahlen, der Funke springt über, sie hat Tränen in den Augen, und es gibt einen großen Jubel und noch viele, viele Vorhänge, und die Schauspieler*innen und das Team klatschen auch. Nachdem es vorbei ist, und die Leute auf die Anweisung warten, wann sie aufstehen dürfen, läuft auch noch der Intendant Martin Kusej von links nach rechts über die offene Bühne, wird "erwischt", es wird geklatscht, und er freut sich und ruft: "Schön, dass Sie da sind!".

Naturalistischer Sog

Midsommar: das Fest in der längsten Nacht des Jahres. Der Graf ist zu Verwandten gefahren, seine Tochter Julie trotzig zu Hause geblieben und feiert mit den Angestellten. "Heute ist sie wieder verrückt," sagt Jean, der Kammerdiener, er kommt von draußen, vom Tanz und erstattet seiner Verlobten, der Köchin Christine, Bericht. Der Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt hat das Kammerspiel von der Küche ins Badezimmer verlegt – was am Prinzip nichts ändert: Teile der Handlung finden im Off statt, man hört Gespräche aus dem Flur, Musik von draußen, muss sich vieles zusammenreimen.

FRAEULEINJULIE3 560 Susanne Hassler Smith uSog in der Glasvitrine: Die Bühne von Raimund Orpheo Voigt © Susanne Hassler-Smith

Das Badezimmer – in zeitlosem eleganten Art Deco eingerichtet – steckt als Ganzes in einer Glasvitrine, die auf metallenen Füßen steht. Am Anfang sieht man die nackte Bühne drum herum, der Museumseffekt ist interessant. Zuerst stört einen die Glaswand, gerade jetzt wäre man den Schauspieler*innen gern so nah wie möglich. Aber man vergisst sie bald mitsamt dem ganzen Verfremdungseffekt, denn gespielt wird naturalistisch bis in die Fingerspitzen und das entwickelt einen beachtlichen Sog.

Die älteste #metoo-Geschichte der Welt

Die Situation wirkt wie ein Exempel auf heutige Auseinandersetzungen: Die Grafentochter Julie und der Bedienstete Jean fechten wilde Statuskämpfe aus, denn keiner von beiden will sich dem anderen unterordnen. Als Adelige kann Julie ihrem Untergebenen befehlen. Als Mann hat Jean aber weit mehr Freiheiten als die Frau Julie. Beide wollen ihre Überlegenheit in dem einem Feld benutzen, um sich aus ihrer Unterdrückung im jeweils anderen Feld zu befreien. Das ist hochaktuell. Erstaunlich altertümlich und doch wie ein frischer Wind aus der Vergangenheit wirkt aber, wie die Punkte in diesem Kampf vergeben werden: nämlich noch ganz direkt, umgekehrt zur heutigen Mode, in der nach moralischer Überlegenheit ausgezählt wird. Julie und Jean versuchen nicht zu beweisen, wer das ärmere, schlimmer diskriminierte Opfer ist, im Gegenteil.

Sie versuchen den Kampf auf das Feld zu lenken, auf dem sie dominieren um dort den anderen mit Gewalt niederzuzwingen. Sie nutzt ihren Stand aus, um einen attraktiven Untergebenen sexuell gefügig zu machen. Und wäre sie ein Mann, dann wäre das die älteste #metoo-Geschichte der Welt: "nach Gutsherrenart". Er dreht sich den Spieß um, sobald sie "sich weggeworfen hat". Nun will er die Situation ausnutzen, um Geld von ihr zu erpressen, wenn er sie nicht in der Gosse liegen lassen soll. Am Höhepunkt des Kampfs bettelt keiner von beiden um Mitleid. "Knecht bleibt Knecht" beschimpft sie ihn, und er sie "Und Hure bleibt Hure".

FRAEULEINJULIE1 560 Susanne Hassler Smith uBrennende Luft: Maresi Rieger und Itay Tiran als Julie und Jean © Susanne Hassler-Smith

Zwischen den beiden brennt die Luft. Das sexuellen Begehren tarnt sich nur als Liebe, aber es hat dennoch eine metaphysische Dimension. Dass hier eine Frau Sex genauso dringend und aggressiv will, wie es sonst nur den Männern zugestanden wird, hat das Stück immer schon für Schauspieler*innen interessant gemacht, und auch für weibliches Publikum. Maresi Rieger und Itay Tiran spielen das äußerst aufregend, man glaubt ihnen vollkommen.

Nackte Körper und Seelen

Als es dann tatsächlich zum Sex kommt, sieht man – ein perfekter Softporno – die Umrisse ihrer nackten Körper durch die geriffelte Glasscheibe der Badezimmertür. Zusammen mit der in der Wanne versteckten Christine verfolgt man, wie Haut ans Glas gepresst wird, hört Wortfetzen und Geräusche, was natürlich äußerst anregend für die Phantasie ist – und schon bei der Uraufführung für einen Skandal gesorgt hat.

Dass einem soviel Voyeurismus erlaubt wird, ist eine Freude, nach dieser langen Zeit, in der man überhaupt keine echten fremden Menschen gesehen hat, nicht einmal nackte Gesichter, geschweige denn nackte Körper und Seelen. Man begreift stärker als sonst das Geschenk, das einem die Schauspieler*innen machen, ihre Großzügigkeit. In dieser ersten Phase inszeniert die Regisseurin, Mateja Koležnik, mit innigem psychologischem Naturalismus vom Blatt, den man sich heutzutage erst mal trauen muss. Sie ergreift nicht Partei, alle Figuren sind Monster, die ihre Machtmittel skrupellos einsetzen – auch die bigotte Christine, die sich das alles gefallen lässt, weil sie "ihren Platz kennt".

Propaganda und Paranoia

Aber dann läuft das Stück aus dem Ruder und die Aufführung, die Strindberg bis dahin bedingungslos gefolgt ist, ist mitgefangen/mitgehangen. Denn Strindberg wird nach den fulminanten Dialogen des Anfangs genau wie seine Julie "völlig verrückt". Er schreibt ihr einen gigantischen hysterischen Zusammenbruch auf den Leib, der nichts mehr für die Figur oder die Geschichte bedeutet, sondern seine, Strindbergs, abstrusen Thesen über degenerierte Mannweiber beweisen soll. Nackt und völlig hysterisch, beim Abwaschen von Sperma und Blut, vom halbherzigen Pulsadern-Aufschlitzen, muss die bedauernswerte Darstellerin ihre gesamte Lebensgeschichte ausbreiten. Dieses furchtbare Geschwurbel kann auch Maresi Riegner nicht in etwas psychologisch Glaubwürdiges verwandeln. Wenn Jean sagt: "Für mich sind sie einfach krank", dann kann man ihm nur zustimmen – und verliert jegliches Interesse.

FRAEULEINJULIE2 560 Susanne Hassler Smith uKlassen- und Geschlechterkampf: Maresi Rieger und Itay Tiran © Susanne Hassler Smith

Ohne eigene Haltung geht die Inszenierung an dem Punkt unter, an dem Strindberg aus einem grandiosen vielschichtigen Text plötzlich in abstruse Propaganda und Paranoia umkippt. Erst ganz am Ende entfernt sich die Aufführung von Strindberg. Im Original bringt Jean die inzwischen völlig willenlose Julie dazu, sich ohne weitere Erklärung umzubringen, so dass kein Verdacht auf ihn fallen kann. Das ist hier weggelassen. Stattdessen gehen beide auf ihre Zimmer und Christine putzt das Badezimmer, nichts wird mehr an die Geschehnisse der Nacht erinnern. Während im Stück an beiden Fronten – der Klassenkampf- und der Geschlechterfront – das Bild einer bevorstehenden blutigen Revolution am Horizont erscheint, bleibt hier alles wie es ist.

Psychologische Gewaltspirale

Das klingt theoretisch stringent, denn tatsächlich sind die Fronten von damals immer noch aufrecht. Und dass die biedere, stockkonservative Christine, die heute vielleicht zur religiösen neuen Rechten gehören würde, die Einzige ist, die hinauf kommt, ist eine schöne (und erschreckende) Idee. Aber es ist zu spät im Stück, es funktioniert nicht. Zwar spielt Sarah Viktoria Frick das ganz wunderbar – kurz vor Schluss schleudert sie Julie triumphierend entgegen: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt – SO IST DAS NÄMLICH!" Dabei fletscht sie die Zähne wie ein Rottweiler.

Aber es fügt sich nicht in die anfangs so dichte psychologische Gewaltspirale. Nach einem atemberaubenden Anfang trudelt die Aufführung in ein verwirrendes Niemandsland – und scheitert damit genau an der Stelle, an der Strindberg in seinen Horror vor den begehrten aggressiven Frauen abdriftet. Ein mutiges Unternehmen, mutig gescheitert. Schön, dass man so etwas wieder miterleben kann.

 

Fräulein Julie
von August Strindberg
Regie: Mateja Koležnik, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Ana Savić-Gecan, Choreografie: Matija Ferlin, Musik: Michael Gumpinger, Licht: Norbert Piller, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: Sarah Viktoria Frick, Maresi Riegner und Itay Tiran
Premiere am 19. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Fräulein Julie erscheine hier als "ätherisch-überdrehtes Wesen", findet Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (20.5.2021). Eins, das sich selbst über die Schenkel streift und dem Diener in den Schritt fasst. Doch in dieser Inszenierung komme deutlicher als in anderen hervor, dass es sich bei dem Stück in Wahrheit um eine Tragödie handele – und wer in ihr das Opfer sei. "Kurz und präzise" sei diese Arbeit, auch, weil in ihr nie die Hoffnung aufkomme, dass es ein gutes Ende geben kann.

"Ohnmächtige Wut. Große Schauspielkunst", sieht Petra Paterno in der Wiener Zeitung (20.5.2021) an diesem Abend. Regisseurin Mateja Koležnik gehe bei ihrer Inszenierung dieser "unstandesgemäßen Liaison" ein Wagnis ein: Schlüsselszenen werden nicht gezeigt und damit Spielregeln des Theaters unterlaufen. Doch funktioniert dieses elliptische Erzählen für die Kritikerin? Nicht wirklich, denn trotz "herausragender darstellerischer Leistungen" mangele es dem Abend an "Spannung und Rhythmus". Schließlich sage die Inszenierung über heutige Geschlechterkämpfe nichts aus, resümiert die Rezensentin und findet vor allem dies "schade".

Einen "tragischen Machtkampf der gegenseitigen Instrumentalisierung" zoome die Regisseurin in ihrer stark gekürzten Bühnenfassung herbei, analysiert hingegen Margarete Affenzeller im Standard (21.5.2021). Die Tonebene hebe Spannungsmomente hervor, Weinflaschen werden effektvoll entkorkt, Wasser gurgele atmosphärisch. Der knappe Raum erzeuge eine Verdichtung, die Qualitäten offenbare. "Jede kleinste Geste zählt", findet die Rezensentin und kommt zum Gesamteindruck, dass dieser Abend "eine filigrane Momentaufnahme, die wie eine Zeitlupenstudie wirkt" sei.

Martin Lhotzky von der FAZ (26.5.2021) erkennt keinen tieferen Sinn in der Nacktheit der Hauptdarstellerin, ebenso wenig in der Guckkastenperspektive.

 

 

 

Kommentare  
Fräulein Julie, Wien: primitiver Triumph
Naturgemäß sind wir alle Monster, und sind auch so wie der Diener Jean.
Mein gesprächiger Begleiter im Traum, der mir unbekannt war, sagte zu mir:
Warum rufst du die schöne Frau nicht an? Und ich dachte träumend:
Schöne Frau? - das ist sie einmal gewesen. - Der Traumbegleiter und ich
waren in einer Großstadt (Berlin?), die ihm vertraut war, unterwegs, und
gingen "billig" essen. Er sagte zu mir: Man kann sich das Essengehen in
Restaurants kaum noch leisten.

Wie kann sich eine "Komtesse", Fräulein Julie - nur zu einem Domestiken
herunter- herablassen? Ich habe dieses Herablassen m e i n e r "Julie"
niemals verziehen. Wie kann man sich auch nur so erniedrigen, so demütigen! Ihr Fall in die Tiefe war vollzogen, und das "Fräulein" ist
nie wieder hoch gekommen. Warum sollte ich sie also anrufen? Wer weiß,
mit wem sie, die hochmütige "Grafentochter" sich gegenwärtig herumtreibt!
dachte ich (nicht ohne Eifersucht) in meinem obskuren halbdunklen Traum
letzte Nacht.

In dem Kammerspiel Fräulein Julie von Strindberg, beginnt das Fräulein
(sie ist überreizt, hochmütig, herrisch, und nicht zuletzt auch manns-toll) zu begreifen, dass es für sie keinen Sinn hat, weiterzuleben.
Erniedrigt und gedemütigt, wie sie ist, findet sie nicht die Kraft, aus
ihrer Erkenntnis die Konsequenz zu ziehen. Erst als Jean, der abstoßende
Domestik, seinen niedrigen Triumph auszukosten beginnt, und sie geradezu
antreibt - tötet sie sich. - Ich habe diese Selbsttötung der (mannstollen) Komtess nie anerkannt, und fand sie unglaubwürdig. Denn auch eine
"moderne", eine manns-dolle Julie tut es nicht -sie sucht sich geschwinde
einen anderen Liebhaber, und kommt dermaßen über die Demütigung und
Niederlage hinweg. Oder besser: sie tröstet sich schnell mit einem der
Bewunderer, denn sie hat schon längst, die ganze Zeit, eine Anzahl davon
im Hintergrund, die nur darauf warten, dass die Affaire mit dem schonungslosen Diener Jean - der verlobt ist, endlich zu Ende geht. Es ist ja doch die Frage, ob Strindberg selbst diese "Lösung" (Selbsttötung) für seine Figur anerkennen konnte.
Denn was für ein niederer, primitiver und erbärmlicher Triumph des Mannes
über das Weib (auch heute noch!) ist dieses schmähliche In-den-Tod-Treiben aus HaSS gegen eine Menschen-Schicht, deren aristokratische
Lebensführung allein noch keineswegs der Beweis ist, dass diese Schicht
schlechter war als diejenige, die mit unmoralischen Exponenten wie dem
Diener Jean(der elegant und brutal ist) - zu einem triumphalen Aufstieg
bereitsteht! - Auch hier, so kann man sagen, ist August Strindberg über
sein Ressentiment als
SOHN EINER MAGD
nicht hinausgekommen . . .
Fräulein Julie, Wien: merkwürdig
Wenn ich es richtig verstanden habe, ist der Selbstmord nicht "weggelassen", sondern vorgezogen? Oder? Kurz nach dem "Softporno", bevor die "abstruse Propaganda und Paranoia" beginnt. Julie schneidet sich doch die Pulsadern auf und es ihr im Heute nicht sehr gut zu gehen. Merkwürdig ist nur der Gedanke, dass man das jetzt der Schauspielerin anlastet, weil Gabi Hift "jegliches Interesse verliert". Aber vielleicht sollte so ein Stück wie die JULIE generell verboten werden. Das wäre sicher richtiger.
Fräulein Julie, Wien: Die Frage
Warum sollte ein Stück Literatur aus einer überkommenen Zeit verboten werden? Die Frage ist doch nur, warum wer es heute spielen muss?
Fräulein Julie, Wien: Wohin?
Das Theater und besonders das Burgtheater erhält die ganzen patriarchalen Strukturen, den Geniekult des 19. Jahrhundert einfach aufrecht und verdient sein Geld damit. Das ergibt gesellschaftlich keinen Sinn mehr. Wohin soll Strindberg uns heute noch führen?
Fräulein Julie, Wien: Verbieten?
Und wer bitte schön soll das Stück verbieten? Wünschen Sie eine Theaterstücke-Verbieten-Behörde? Vielleicht könnte die auch gleich das Bücher-Verbrennen mit übernehmen? Und das Bilder-Verunglimpfen? Bräuchte man nur noch ein Gericht, das die Einhaltung der Verbote überwacht.....
Fräulein Julie, Wien: Strindberg
#2 Ich habe mich hoffentlich verlesen!
Verbot??? Geht's noch????
Fräulein Julie, Wien: trübe Gewässer
#2 Ja, scheint so gemeint. Ein Verbot von Stücken, die einem überholt und nicht in die Weltanschauung passen!!! Hoppla! Da gerät man ja in ganz trübe Gewässer.
Fräulein Julie, Wien: verstören + aufrütteln
Sag mal Stefanie und alle auf diesen Kommentaren unterwegs seienden
Gutmenschen, die ihr wisst, was auf Bühnen noch sein darf, wer weg und was verboten werden muss: Um was geht es Euch? Ihr beherrscht in Zukunft die Bühnen dieser Welt und nur noch Eure Weltsicht darf vorkommen? Woher nehmt ihr Euch das Recht zu denken, ihr seid befugt dazu? Wer hat Euch gewählt, erwählt oder wodurch seid ihr berechtigt, über andere zu herrschen und zu sagen welches Stück aufgeführt werden darf und welcher weiße Mann nicht mehr auftreten darf, nicht mehr Regisseur sein darf oder überhaupt weiter leben darf? Was geht vor in Euren Köpfen? Wie soll die Welt denn aussehen, in der ihr leben wollt? Und braucht ist in dieser bereinigten und anscheinend immer während richtigen Welt noch Theater?
Theater warum und wozu?
Damit ihr euch in eurer Weltsicht immer und dauerhaft bestätigt fühlt?
Theater gibt es auch, um Euch zu verstören, Euch aufzurütteln, Euch zu emotionalisieren, Euch wach zu machen, damit ihr überprüfen könnt, ob Euer Herz und euer Verstand noch funktioniert.
Wollt ihr anscheinend nicht.
Ihr wisst, was richtig ist.
Warum geht ihr ins Theater?
Fräulein Julie, Wien: Beunruhigung
Sehr geehrte Redaktion!
Ich bin sicher, ich habe mich nicht verlesen, und ich bin sicher, es ist beim Schreiben gedacht worden, deshalb würde ich doch sehr gern wissen, wer sich hinter dem Pseudonym "Stefanie" verbirgt -
ich würde gern wissen, welche Kenntnisse die Schreiberin besitzt, um so über die Theater im Allgemeinen, das Burgtheater im Besonderen urteilen zu dürfen, was sie unter dem Geniekult des 19. Jahrhunderts versteht und worin sie eben den an den Theatern erhalten sieht, und wieso sie meint, die Tätigkeit der Theater mache gesellschaftlich keinen Sinn mehr - wieso sie meint, der Autor Strindberg wolle Leser und Publikum irgendwo hin führen (das kann nicht Aufgabe eines Kunstwerks - Drama oder Aufführung - sein),
woher sie das Recht nimmt, ein Verbot eines alten Textes zu fordern (sie meint, ein generelles Verbot wäre richtiger),
und woher sie das Recht nimmt, im Namen einer Gruppe ("uns") zu sprechen.

Ein sehr altes chinesisches Sprichwort sagt:
"Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, dann muß das nicht am Buch liegen!"
Aber damit ist die Sache leider nicht gemacht.

Aus den Zeilen von "Stefanie" klingt ein unverhohlener Machtanspruch -
und mit solchem Machtanspruch sind in Deutschland schon einmal Bücher und Menschen verbrannt worden.

Mit Beunruhigung
und mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Fräulein Julie, Wien: Deutungshoheit
Lieber Peter Ibrik -

ich lese aus den Zeilen von "Stefanie" keinen
unverhohlenen Machtanspruch heraus, sondern vor allem historische Hohlheit. Allerdings lese ich aus der Anwtwort von Uwe-Eric Laufenberg - wer immer gerade diesen Namen für den Kommentar benutzt- einen unverhohlenen Machtanspruch heraus. Und der ekelt mich im Grunde mit seiner sich Erziehungsmacht anmaßenden Deutungshoheits-Selbstherrlichkeit genauso an wie der geistlose Schrei nach Strindberg-Stück-Verbot.

So etwas beunruhigte mich als weit verbreitete Macher-Haltung im staatlich subventionierten und geförderten Theater sowie seinen Förder-Institutionen allerdings schon so vor 30 Jahren, dann trat Gewöhnung an diese Art sich ausbreitender seelischen Inkompetenz von TheatermacherInnen gegenüber Publikum ein.

Grüße in das maienhafte Pankow - D. Rust

Anmerkung: Der Name des erwähnten Kommentators wurde verifiziert. Beste Grüße aus der Redaktion.
Fräulein Julie, Wien: Museen vergangener Privilegien
Ja, das scheint Ihnen allen im Namen der Historie sehr ernst und Sie sehen in eine düstere Zukunft, in denen Ihrer aller Freiheit bedroht ist. Vielleicht sogar Ihr Job. Kann sein. Kann aber auch sein, dass es einzig darauf ankommt, wer sich diese Verbote setzt. Wenn sich die Mitarbeiter eines Theaters selbst dieses Verbot auferlegen, zum Beispiel Uwe Laufenberg und seine Kolleginnen, um dem entgegenzuwirken, dass sich ihre Institutionen in Museen vergangener Privilegien verwandeln, dann ist das doch eine interessante Perspektive. Strindberg? Weg damit.
Fräulein Julie, Wien: Unterhaltung und Vergnügen
Sehr geehrter Herr Rust!
(Oder muß ich sagen: Sehr geehrter Herr oder Frau "Tages Spiegel"?)
Danke für Ihren freundlichen Gruß nach Pankow, das am Pfingstsonntag wenig maienhaft war: Man konnte den Eindruck haben, ein April-Wetter werde mit sehr großer Verspätung geliefert, die Temperaturen entsprechend angepaßt.

Ich bin nicht Ihrer Meinung, hinter der Wortmeldung, die sich unter "Stefanie" verbirgt, findet sich nur "historische Hohlheit" - ich vermute, Sie verstehen darunter ein Unverständnis gegenüber Menschheits- und Kunstgeschichte. Die Formulierungen der ersten Wortmeldungen, die Forderungen sind eindeutig apodiktisch und radikal.
Die erneute Wortmeldung ist es ebenfalls: "Weg damit."
Sie verbirgt sich und ihre Ansichten hinter einem Pseudonym. Warum?
Sie fordert Herrn Laufenberg und die Damen seines Theaters (man beachte:
nur die Damen) zur Selbst-Amputation auf. Sie behauptet, die Theater würden sich in "Museen vergangener Privilegien verwandeln". Wo sind Indizien oder Beweise dafür?
Und: Sie antwortet auf keine der von mir formulierten Fragen - allenfalls kann ich mir die Behauptung annehmen, ich würde um meine Zukunft und eventuell um meinen Job fürchten. Dafür bin ich aber zu alt.
Ich wüßte doch sehr gern, wer das ist, der glaubt sich auf derartig unflätige Weise und ohne Argumente äußern zu müssen.
Und wir sollten uns davor hüten, solche Äußerungen unter der Überschrift
"Dummheit" abzulegen. Wir leben leider in einer Welt, in der sehr viele Dummheiten laut nachgebrüllt werden, und sich zu einer mächtigen Gewalt
entwickeln können.
Am Rande:
Ich teile nicht die Ansicht von Herrn Laufenberg, der - wenn ich es recht
verstanden habe - dem Theater eine erzieherische und pädagogische Absicht zuordnen möchte. Kunst und die Theaterkunst besonders muß in erster Linie unterhaltsam sein und Vergnügen bereiten, auch die Erschütterung der Tragödie ist ein ästhetisches Erlebnisse. Freilich sind es die Erlebnisse,
die den Menschen und seine Persönlichkeit formen. Ich habe es mit meiner eigenen Theaterarbeit immer so gehalten - und bin sehr selten auf "seelische Inkompetenz" (was ist das ?) bei Kollegen getroffen.

Mit freundlichen Grüßen
aus dem jetzt nachtdunklen Pankow
Peter Ibrik
Fräulein Julie, Wien: Zu Strindberg
August Strindberg (ganzer Name August Johan Strindberg, und Johan ist
auch "Jean", also...) hat sein Leben lang darunter gelitten, dass er der
Sohn einer früheren Kellnerin war. Er hat in Berlin zu einem radikalen
"Antifeminismus" hingefunden. Nach Siri von Essen heiratete er die
Österreicherin Frida Uhl. Diese Ehe, sie hielt nur vier Jahre - war eine
Katastrophe, und dem entsprechend wurde der "Kampf der Geschlechter"
für ihn immer mehr zum Thema seines Lebens. Nach der Scheidung näherte
sich Strindberg der Philosophie Nietzsches, dessen Zarathustra-Wort
"Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!" dem Dichter aus der
Seele gesprochen war. - Frida Uhl war die Tochter von Friedrich Uhl,
einem angesehenen Theaterkritiker und Chefredakteur der amtlichen
"Wiener Zeitung". Strindberg wohnte mit ihr in Saxen im Schloss Dornach,
einem früheren Gutshof, der dem Großvater von Frida Uhl gehörte und in
einem Gasthauszimmer "Rosenzimmer" (Asyl Rosenzimmer in "Nach Damaskus") beim Kirchenwirt in Klam in Oberösterreich. (Strindberg schildert in "Inferno" die Visionen, die er während eines Spazierganges durch die Klamschlucht erlebte.) - Noch verheiratet hatte Frida mit dem deutschen Dramatiker und Schauspieler Frank Wedekind einen Sohn, Friedrich (er arbeitete 1961 für die Illustrierte QUICK). Er wurde von Strindberg als Sohn akzeptiert. Frida Uhl wurde in ihrem Geburtsort Mondsee im Salzkammergut begraben, wo sie zuletzt gelebt hatte.
Otto Weininger und Strindberg. Dieser schrieb nach seiner ersten Lektüre
von "Geschlecht und Charakter" 19O3 einen euphorischen Dankesbrief an
Weininger: "Schließlich - das Frauenproblem gelöst zu sehen ist mir
eine Erlösung, und so - nehmen Sie meine Verehrung und meinen Dank!"
Nach Weiningers Tod ehrte Strindberg Weinigers Gedächtnis "als das eines
tapferen männlichen Kämpfers" und verfasste einen Nachruf, den Karl Kraus
dann in der "Fackel" abdruckte:
"Unabhängig von Ansichten ist wohl das Faktum, daß das Weib ein rudi-
mentärer Mann ist...es war dieses bekannte Geheimnis, das Otto Weininger
auszusprechen wagte; es war diese Entdeckung des Wesens und der Natur
des Weibes, die er in seinem männlichen Buche mitteilte, und die ihm
das Leben kostete." - (Suizid Weiningers in Ludwig van Beethovens Sterbe-
haus, Wien. Er hatte sich davor dort eingemietet). - Otto Weininger:
Die Werte höheren Lebens seien der Frau ebenso unzugänglich wie die Welt
der Ideen. Je weiblicher das Weib, desto mehr verkörpere es eine rein
geistlose Geilheit. Erst durch den Mann empfange die Frau ein Leben aus
zweiter Hand. - Dazu kommen noch seine antisemitischen Ansichten.
Der Jude, behauptet Weininger (er selbst war jüdischer Herkunft) sei im
Wesenskern, "stets lüstern und geil", "der geborene Kommunist", von Natur
aus "ein Kuppler" und nicht eigentlich fromm, da er "gar nicht glauben"
könne.)
Weininger: "Das Weib besitzt kein Ich, das Weib ist das Nichts". -

Und der bekannte oberösterreichische Maler und Zeichner Alfred Kubin
sagt: Weininger war "der größte Mensch dieses Jahrhunderts" . . .
Fräulein Julie, Wien: Zur Sache
Liebe Kommentierende,

bitte bleiben Sie bei der Sache. Hier geht es um die Wiener "Fräulein Julie". Grundsätzliche, nicht auf die Besprechung oder die Inszenierung bezogene Einlassungen zum Zustand des Theaters, der parlamentarischen Demokratie, der Religionen, des Abendlandes etc. sind zwar mithin interessant, aber fehl am Platz. Wir werden sie daher auch nicht veröffentlichen. Zur Erinnerung hier unsere Kommentarregeln: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102

Mit besten Grüßen aus der Redaktion
Janis El-Bira - jeb
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