Alle sind Monster!

von Gabi Hift

Wien, 19. Mai 2021. Und dann kommt sie doch noch, die große Welle der Freude, an diesem ersten Theaterabend nach sechseinhalb Monaten. Vor Einlass wirken alle erstaunlich ungerührt. Bekannte reden über ihre Impftermine, kommentierten die reibungslos funktionierenden 3G-Kontrollen (GEtestet/GEimpft/GEnesen). Business as usual. Am Ende dann maskengedämpfte Bravos für die Schauspieler*innen, freundlicher Applaus fürs Regieteam. Aber dann passiert's doch: Sarah Viktoria Frick muss jedes Mal, wenn sie vom Verbeugen auftaucht, vor Freude immer breiter lachen, aus dem Lachen wird ein Strahlen, der Funke springt über, sie hat Tränen in den Augen, und es gibt einen großen Jubel und noch viele, viele Vorhänge, und die Schauspieler*innen und das Team klatschen auch. Nachdem es vorbei ist, und die Leute auf die Anweisung warten, wann sie aufstehen dürfen, läuft auch noch der Intendant Martin Kusej von links nach rechts über die offene Bühne, wird "erwischt", es wird geklatscht, und er freut sich und ruft: "Schön, dass Sie da sind!".

Naturalistischer Sog

Midsommar: das Fest in der längsten Nacht des Jahres. Der Graf ist zu Verwandten gefahren, seine Tochter Julie trotzig zu Hause geblieben und feiert mit den Angestellten. "Heute ist sie wieder verrückt," sagt Jean, der Kammerdiener, er kommt von draußen, vom Tanz und erstattet seiner Verlobten, der Köchin Christine, Bericht. Der Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt hat das Kammerspiel von der Küche ins Badezimmer verlegt – was am Prinzip nichts ändert: Teile der Handlung finden im Off statt, man hört Gespräche aus dem Flur, Musik von draußen, muss sich vieles zusammenreimen.

FRAEULEINJULIE3 560 Susanne Hassler Smith uSog in der Glasvitrine: Die Bühne von Raimund Orpheo Voigt © Susanne Hassler-Smith

Das Badezimmer – in zeitlosem eleganten Art Deco eingerichtet – steckt als Ganzes in einer Glasvitrine, die auf metallenen Füßen steht. Am Anfang sieht man die nackte Bühne drum herum, der Museumseffekt ist interessant. Zuerst stört einen die Glaswand, gerade jetzt wäre man den Schauspieler*innen gern so nah wie möglich. Aber man vergisst sie bald mitsamt dem ganzen Verfremdungseffekt, denn gespielt wird naturalistisch bis in die Fingerspitzen und das entwickelt einen beachtlichen Sog.

Die älteste #metoo-Geschichte der Welt

Die Situation wirkt wie ein Exempel auf heutige Auseinandersetzungen: Die Grafentochter Julie und der Bedienstete Jean fechten wilde Statuskämpfe aus, denn keiner von beiden will sich dem anderen unterordnen. Als Adelige kann Julie ihrem Untergebenen befehlen. Als Mann hat Jean aber weit mehr Freiheiten als die Frau Julie. Beide wollen ihre Überlegenheit in dem einem Feld benutzen, um sich aus ihrer Unterdrückung im jeweils anderen Feld zu befreien. Das ist hochaktuell. Erstaunlich altertümlich und doch wie ein frischer Wind aus der Vergangenheit wirkt aber, wie die Punkte in diesem Kampf vergeben werden: nämlich noch ganz direkt, umgekehrt zur heutigen Mode, in der nach moralischer Überlegenheit ausgezählt wird. Julie und Jean versuchen nicht zu beweisen, wer das ärmere, schlimmer diskriminierte Opfer ist, im Gegenteil.

Sie versuchen den Kampf auf das Feld zu lenken, auf dem sie dominieren um dort den anderen mit Gewalt niederzuzwingen. Sie nutzt ihren Stand aus, um einen attraktiven Untergebenen sexuell gefügig zu machen. Und wäre sie ein Mann, dann wäre das die älteste #metoo-Geschichte der Welt: "nach Gutsherrenart". Er dreht sich den Spieß um, sobald sie "sich weggeworfen hat". Nun will er die Situation ausnutzen, um Geld von ihr zu erpressen, wenn er sie nicht in der Gosse liegen lassen soll. Am Höhepunkt des Kampfs bettelt keiner von beiden um Mitleid. "Knecht bleibt Knecht" beschimpft sie ihn, und er sie "Und Hure bleibt Hure".

FRAEULEINJULIE1 560 Susanne Hassler Smith uBrennende Luft: Maresi Rieger und Itay Tiran als Julie und Jean © Susanne Hassler-Smith

Zwischen den beiden brennt die Luft. Das sexuellen Begehren tarnt sich nur als Liebe, aber es hat dennoch eine metaphysische Dimension. Dass hier eine Frau Sex genauso dringend und aggressiv will, wie es sonst nur den Männern zugestanden wird, hat das Stück immer schon für Schauspieler*innen interessant gemacht, und auch für weibliches Publikum. Maresi Rieger und Itay Tiran spielen das äußerst aufregend, man glaubt ihnen vollkommen.

Nackte Körper und Seelen

Als es dann tatsächlich zum Sex kommt, sieht man – ein perfekter Softporno – die Umrisse ihrer nackten Körper durch die geriffelte Glasscheibe der Badezimmertür. Zusammen mit der in der Wanne versteckten Christine verfolgt man, wie Haut ans Glas gepresst wird, hört Wortfetzen und Geräusche, was natürlich äußerst anregend für die Phantasie ist – und schon bei der Uraufführung für einen Skandal gesorgt hat.

Dass einem soviel Voyeurismus erlaubt wird, ist eine Freude, nach dieser langen Zeit, in der man überhaupt keine echten fremden Menschen gesehen hat, nicht einmal nackte Gesichter, geschweige denn nackte Körper und Seelen. Man begreift stärker als sonst das Geschenk, das einem die Schauspieler*innen machen, ihre Großzügigkeit. In dieser ersten Phase inszeniert die Regisseurin, Mateja Koležnik, mit innigem psychologischem Naturalismus vom Blatt, den man sich heutzutage erst mal trauen muss. Sie ergreift nicht Partei, alle Figuren sind Monster, die ihre Machtmittel skrupellos einsetzen – auch die bigotte Christine, die sich das alles gefallen lässt, weil sie "ihren Platz kennt".

Propaganda und Paranoia

Aber dann läuft das Stück aus dem Ruder und die Aufführung, die Strindberg bis dahin bedingungslos gefolgt ist, ist mitgefangen/mitgehangen. Denn Strindberg wird nach den fulminanten Dialogen des Anfangs genau wie seine Julie "völlig verrückt". Er schreibt ihr einen gigantischen hysterischen Zusammenbruch auf den Leib, der nichts mehr für die Figur oder die Geschichte bedeutet, sondern seine, Strindbergs, abstrusen Thesen über degenerierte Mannweiber beweisen soll. Nackt und völlig hysterisch, beim Abwaschen von Sperma und Blut, vom halbherzigen Pulsadern-Aufschlitzen, muss die bedauernswerte Darstellerin ihre gesamte Lebensgeschichte ausbreiten. Dieses furchtbare Geschwurbel kann auch Maresi Riegner nicht in etwas psychologisch Glaubwürdiges verwandeln. Wenn Jean sagt: "Für mich sind sie einfach krank", dann kann man ihm nur zustimmen – und verliert jegliches Interesse.

FRAEULEINJULIE2 560 Susanne Hassler Smith uKlassen- und Geschlechterkampf: Maresi Rieger und Itay Tiran © Susanne Hassler Smith

Ohne eigene Haltung geht die Inszenierung an dem Punkt unter, an dem Strindberg aus einem grandiosen vielschichtigen Text plötzlich in abstruse Propaganda und Paranoia umkippt. Erst ganz am Ende entfernt sich die Aufführung von Strindberg. Im Original bringt Jean die inzwischen völlig willenlose Julie dazu, sich ohne weitere Erklärung umzubringen, so dass kein Verdacht auf ihn fallen kann. Das ist hier weggelassen. Stattdessen gehen beide auf ihre Zimmer und Christine putzt das Badezimmer, nichts wird mehr an die Geschehnisse der Nacht erinnern. Während im Stück an beiden Fronten – der Klassenkampf- und der Geschlechterfront – das Bild einer bevorstehenden blutigen Revolution am Horizont erscheint, bleibt hier alles wie es ist.

Psychologische Gewaltspirale

Das klingt theoretisch stringent, denn tatsächlich sind die Fronten von damals immer noch aufrecht. Und dass die biedere, stockkonservative Christine, die heute vielleicht zur religiösen neuen Rechten gehören würde, die Einzige ist, die hinauf kommt, ist eine schöne (und erschreckende) Idee. Aber es ist zu spät im Stück, es funktioniert nicht. Zwar spielt Sarah Viktoria Frick das ganz wunderbar – kurz vor Schluss schleudert sie Julie triumphierend entgegen: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt – SO IST DAS NÄMLICH!" Dabei fletscht sie die Zähne wie ein Rottweiler.

Aber es fügt sich nicht in die anfangs so dichte psychologische Gewaltspirale. Nach einem atemberaubenden Anfang trudelt die Aufführung in ein verwirrendes Niemandsland – und scheitert damit genau an der Stelle, an der Strindberg in seinen Horror vor den begehrten aggressiven Frauen abdriftet. Ein mutiges Unternehmen, mutig gescheitert. Schön, dass man so etwas wieder miterleben kann.

 

Fräulein Julie
von August Strindberg
Regie: Mateja Koležnik, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Ana Savić-Gecan, Choreografie: Matija Ferlin, Musik: Michael Gumpinger, Licht: Norbert Piller, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: Sarah Viktoria Frick, Maresi Riegner und Itay Tiran
Premiere am 19. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Fräulein Julie erscheine hier als "ätherisch-überdrehtes Wesen", findet Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (20.5.2021). Eins, das sich selbst über die Schenkel streift und dem Diener in den Schritt fasst. Doch in dieser Inszenierung komme deutlicher als in anderen hervor, dass es sich bei dem Stück in Wahrheit um eine Tragödie handele – und wer in ihr das Opfer sei. "Kurz und präzise" sei diese Arbeit, auch, weil in ihr nie die Hoffnung aufkomme, dass es ein gutes Ende geben kann.

"Ohnmächtige Wut. Große Schauspielkunst", sieht Petra Paterno in der Wiener Zeitung (20.5.2021) an diesem Abend. Regisseurin Mateja Koležnik gehe bei ihrer Inszenierung dieser "unstandesgemäßen Liaison" ein Wagnis ein: Schlüsselszenen werden nicht gezeigt und damit Spielregeln des Theaters unterlaufen. Doch funktioniert dieses elliptische Erzählen für die Kritikerin? Nicht wirklich, denn trotz "herausragender darstellerischer Leistungen" mangele es dem Abend an "Spannung und Rhythmus". Schließlich sage die Inszenierung über heutige Geschlechterkämpfe nichts aus, resümiert die Rezensentin und findet vor allem dies "schade".

Einen "tragischen Machtkampf der gegenseitigen Instrumentalisierung" zoome die Regisseurin in ihrer stark gekürzten Bühnenfassung herbei, analysiert hingegen Margarete Affenzeller im Standard (21.5.2021). Die Tonebene hebe Spannungsmomente hervor, Weinflaschen werden effektvoll entkorkt, Wasser gurgele atmosphärisch. Der knappe Raum erzeuge eine Verdichtung, die Qualitäten offenbare. "Jede kleinste Geste zählt", findet die Rezensentin und kommt zum Gesamteindruck, dass dieser Abend "eine filigrane Momentaufnahme, die wie eine Zeitlupenstudie wirkt" sei.

Martin Lhotzky von der FAZ (26.5.2021) erkennt keinen tieferen Sinn in der Nacktheit der Hauptdarstellerin, ebenso wenig in der Guckkastenperspektive.

 

 

 

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