Der Perlensucher

Konrad Kögler im Gespräch

21. Mai 2021. Konrad Kögler ist einer der aktivsten Theaterblogger. Auf rund 180 Aufführungsbesuche kommt er in regulären Jahren. Er bespricht das Gesehene meist direkt nach der Premiere auf seiner Website "Das Kulturblog", die 2015 aus der Tätigkeit beim mittlerweile eingestellten Magazin /e-politik.de/ hervorging. Seit Beginn der Corona-Pandemie verfolgt Kögler die Theaterkunst intensiv online und hat sich hier eine Seherfahrung erarbeitet, wie sie in ihrer Breite sonst nur bei hauptberuflichen Theatergänger*innen vorkommt. Über seine Eindrücke spricht er mit Christian Rakow.

Christian Rakow: Konrad Kögler, wer ist die Zielgruppe Ihres Blogs?

Konrad Kögler: Menschen, die sich für Film, Theater und Tanz interessieren, die mich über Google oder über meine Links auf Nachtkritik und anderen Portalen finden. Ich versuche, eine Balance in der Berichterstattung über Film und Theater zu halten, mal überwiegt das Kino, wie z.B. während der Berlinale, mal das Theater, wie alljährlich im Mai zum Theatertreffen oder im September, wenn sich die hochkarätigen Spielzeit-Eröffnungs-Premieren ballen.

Sie betreiben Ihren Blog nicht kommerziell, aber mit großer Regelmäßigkeit. Wie kam es zu der Entscheidung, mit Beginn von Corona nicht komplett auf Film umzusatteln, sondern weiter das Onlineangebot der Theater wahrzunehmen?

Als die Theater im Frühjahrs-Lockdown 2020 ihre Archive öffneten, fand ich es sehr spannend, Mitschnitte legendärer Inszenierungen zu sehen, die ich nur vom Hörensagen kannte. Zum anderen konzentrierte ich mich darauf, aktuelle Produktionen außerhalb von Berlin, Hamburg und München (den drei Städten, in denen ich am häufigsten bin) kennenzulernen, die ich sonst vermutlich nicht gesehen hätte, über die ich aber schon Positives gelesen hatte. Als Nachtkritik die ersten Streams anbot, war ich positiv überrascht, wie gut z.B. auch komplexere Inszenierungen wie "Ljod" von Jan-Christoph Gockel vom Staatstheater Mainz auf dem Bildschirm funktionieren.

Kulturblog"Das Kulturblog". Die Homepage von Konrad Kögler am 21. Mai 2021. Das Logo der Seite stammt von Jan Baumeister.

Dazu muss ich aber auch sagen: Für mich war es keine große Hemmschwelle, Theater auf dem Laptop oder TV-Bildschirm zu gucken. Meine ersten prägenden Theatererlebnisse hatte ich auf 3sat, das seine Übertragungen vom Theatertreffen leider in den vergangenen Jahren deutlich eingeschränkt hat. Die TV-Mitschnitte von Elfriede Jelineks "Sportstück" in der Inszenierung von Einar Schleef oder René Polleschs "Kill Your Darlings" haben die Messlatte so hoch gelegt, dass ich jahrelang nur selten ins Theater ging, weil die Live-Erlebnisse gewöhnlicher Repertoire-Abende mit solchen Highlights natürlich nicht mithalten konnten.

Nach welchen Gesichtspunkten wählen Sie die Abende, die Sie schauen und besprechen, aus?

Passt der Termin in meinen Kalender? Ist die Aufführung gut erreichbar? Mal ist es der Stoff, der mich interessiert, mal bin ich auf Regie oder Schauspieler*innen gespannt. Oft haben mich Besprechungen neugierig gemacht, nach Freiburg zu fahren oder einen Stream aus Oberhausen anzuklicken. Häufig sind es auch Bilder auf Instagram oder Facebook, die auf ein ungewöhnliches Bühnenbild oder eine besondere Handschrift hindeuten und mich neugierig machen.

Im Onlineangebot gab es historische Streams, Mitschnitte des gegenwärtigen Repertoires und bald auch originär fürs Netz produzierte Inszenierungen. Was stach für Sie heraus?

Für mich war es ein Gewinn, Inszenierungen, die zu ihrer Zeit bahnbrechend waren und denen bis heute ein Ruf vorauseilt, auf dem Bildschirm zu sehen. Die archaische Kraft von Klaus-Michael Grübers "Bakchen" an der Schaubühne oder die Eleganz und Präzision von Michael Thalheimers "Emilia Galotti" am DT Berlin wurden bei diesen Perlen aus dem Archiv spürbar. Für mich waren das nicht nur "Konserven", wie die historischen Streams oft flapsig-abfällig genannt wurden, und für mich hatten diese Arbeiten auch nicht nur einen "Informationswert", wie es Christopher Rüping einmal formulierte, sondern waren ein ästhetisches Erlebnis.

Liegt das auch an der Qualität der Kameraarbeit?

Ja, es hängt natürlich davon ab, ob mit professionellem Equipment gefilmt wurde und ob eine TV-Regie beteiligt war. Dann waren die Ergebnisse meist sehr sehenswert. Deshalb würde ich mir wünschen, dass 3sat seine Berichterstattung wieder ausbaut und nicht nur drei Abende der 10er-Auswahl des Theatertreffens für die Nachwelt sichert.

Was waren enttäuschende digitale Seh-Erlebnisse?

Wenn die Theater aus der Not des ersten Lockdowns heraus Generalproben-Mitschnitte anboten, die nie für die Öffentlichkeit gedacht waren und oft nur mit statischer Kamera aus einer Perspektive gefilmt wurden, muss man natürlich Abstriche machen. So enttäuscht, dass ich gleich abgeschaltet habe, war ich zum Glück nur selten.

hamlet3 560 thomas aurin uNur mit großen Einbußen übertragbar: Christopher Rüpings "Hamlet"-Version mit Nils Kahnwald und Katja Bürkle © Thomas Aurin

Ein Stream, der ganz zu Beginn des Lockdowns meilenweit hinter dem Live-Erlebnis zurückblieb, war ein interner Mitschnitt von Christopher Rüpings "Hamlet" aus der "Kammer 2" in München. Als ich Nils Kahnwald ein Jahr zuvor auf der Bühne sehen konnte, war das ein besonderes, immersives Theatererlebnis: Er steigert sich als "Hamlet" im ständigen Rollenwechsel mit Katja Bürkle in die Rolle eines Gefühls-Terroristen hinein. Auch wegen der Enge des Raums und durch den direkten Kontakt mit dem Publikum wirkte sein Spiel so überzeugend, dass ich für einen kurzen Augenblick vor Nils Kahnwald als Hamlet wirklich Angst hatte und dachte "Oje, dieser gefährliche amoklaufende Psychopath rennt hier durch die Gegend und die rettende Tür ist zu weit weg." Solche Sternstunden erlebt man natürlich nur live. Das kann kein Stream bieten. Aber wie oft kommt so etwas im Theater-Alltag vor? Äußerst selten. Wir reden hier ja auch über die Liga "Schauspieler des Jahres" und "Theatertreffen-Stammgast-Regisseur".

Könnte man sagen, dass Arbeiten, die klarer hinter der Vierten Wand spielen, leichter in den Stream zu übertragen sind als solche, die mehr Bühnenkomplexität bieten?

Auch komplexe, raumgreifende Arbeiten wie Jette Steckels "Romeo und Julia" vom Thalia Theater Hamburg, Falk Richters "Am Königsweg" vom Schauspielhaus Hamburg oder Ulrich Rasches "Das große Heft" vom Staatsschauspiel Dresden ließen sich sehr gut in den Stream übertragen. Da würde ich eher sagen, es liegt am technischen Aufwand und am Händchen der Bildregie.

Das groe Heft1 560 Sebastian Hoppe uRaumgreifend und doch streamfähig: "Das große Heft" in der Regie von Ulrich Rasche am Staatsschauspiel Dresden © Sebastian Hoppe

Ich wäre sehr gespannt, wie die beiden Inszenierungen als Stream wirken, die mich in den vergangenen Jahren auf der Bühne am meisten begeistert haben: "Machine Müller" von Kirill Serebrennikow vom Gogol Center, das Ulrich Khuon ans DT eingeladen hat, und "Eine göttliche Komödie. Dante Pasolini" von Antonio Latella am Residenztheater, das leider beim Theatertreffen 2020 Corona zum Opfer fiel. Beiden Arbeiten ist gemeinsam, dass sie die gesamte Breite und Tiefe des Raumes bespielen, dass sich die Regisseure einen Choreographen an die Seite holten und das Sprechtheater mit Elementen aus Tanz, Konzert und Installation eine sehr fruchtbare Verbindung einging, in beiden Fällen zusammengehalten von einer komplexen Text-Collage. Solche Gesamtkunstwerke für den Stream aufzubereiten, ist sicher die Königsdisziplin des Streamens.

Haben Sie in den Produktionen, die fürs Netz entstanden sind, neue Ausdrucksformen erlebt?

Es gab zwei Produktionen, auf die sich fast alle einigen können und die mich besonders überzeugten: Zum einen "werther.live" aus der Freien Szene, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten, die so einen tollen erfrischenden Ton treffen, den alten Goethe entstauben und so virtuos mit den sozialen Medien spielen.

zauberberg 4635 800 arno declair uStreamtheater mit Energieschub: Sebastian Hartmanns regietheatrale Version von Thomas Manns "Der Zauberberg" aus dem Deutschen Theater Berlin © Arno Declair

Zum anderen der "Zauberberg" von Sebastian Hartmann. Bei Hartmann hatte ich in den vergangenen Jahren oft das Gefühl, dass sich seine analogen Arbeiten erschöpft haben und in einer Dauerschleife festhängen. Im "Zauberberg" und mit der geballten Power eines sehr gut ausgestatteten Staatstheaters bekam seine Arbeit einen Energieschub.

Wie viel Mehrwert steckt für Sie im Live-Aspekt?

Ich sehe es als großen Vorteil, wenn Theater ihr Angebot zumindest für ein paar Stunden noch online lassen. Dieser reine Live-Effekt erzeugt Termindruck.

Wie wichtig ist die Anwesenheit des anderen Publikums? Nutzen Sie Live-Chats?

Wenn ich etwas angucke, dann konzentriere ich mich ganz darauf. Die Chats würden mich nur ablenken.

Gibt es Online-Programme einzelner Häuser, die Sie in ihrer Gesamtdramaturgie überzeugt haben?

Einige Häuser haben eine deutliche kuratorische Handschrift. Das Residenztheater in München entwickelte zum Beispiel eine ganze Reihe von Face-to-Face-Abenden, ein Schauspieler oder eine Schauspielerin, die einen Monolog sprechen. 15 Personen schauen im Zoom zu und sollen idealerweise die gesamte Zeit auch im Bild sein.

edwardII1 560 Anna Lukenda uWebserie auf "Dramazon Prime" vom Schauspiel Köln: Pınar Karabulut zeigt Edward II. Die Liebe bin ich von Ewald Palmetshofer nach Christopher Marlowe© Ana Lukenda

Interessant finde ich die Bandbreite der Dramazon Prime am Schauspiel Köln, das einige Formate ausprobiert hat, z.B. mit der Webserie "Edward II" von Pınar Karabulut. Auch ihre Theaterarbeiten spielen häufig mit Zitaten aus Film und Popkultur. Als Webserie funktioniert dieses ironische Spiel mit Genres und Erzählsprachen noch besser.

Aktuell läuft das Berliner Theatertreffen digital auf einer neu eingerichteten Online-Festivalplattform. Wie sind Ihre ersten Eindrücke?

Begeistert hat mich in diesem Jahr bisher wenig. Die Jury deckte zwar auf den ersten Blick eine ziemliche Bandbreite ab: Konservatives Sprech- und Schauspielertheater bekommt ähnlich viel Raum wie performative Konzepte aus der Freien Szene, die deutlich stärker vertreten ist als in früheren Jahren. Ich bin auf die Arbeiten zum Abschluss gespannt, die auch Nachtkritik gar nicht auf dem Radar hatte, "Name Her" und "Scores That Shaped Our Friendship".

werther live Screenshot 10 560 ephBeim Berliner Theatertreffen vermisst: "werther.live" von der Gruppe "punktlive" um Regisseurin Cosmea Spelleken bietet frisches Netztheater unter Corona-Pandemiebedingungen | Screenshot

Enttäuscht bin ich, dass der Fokus der 10er-Auswahl aber letztlich doch so eingeschränkt ist. Ich vermisse zum Beispiel ungewöhnliche Antworten auf die Corona-Abstandsregeln wie die Parcours-Arbeiten, die z.B. Rimini Protokoll in Kooperation mit dem Schauspiel Stuttgart in "Black Box" oder Stefan Bachmann am Schauspiel Köln mit "Schwarzwasser" entwickelten. Es ist eine Leerstelle, dass dieses Genre gar nicht vertreten ist. Stattdessen sehen wir meist erstaunlich konventionelle Arbeiten, die bekannte Stile und Ästhetiken reproduzieren. Immerhin schaffte es mit dem "Zauberberg" eine der beiden aus meiner Sicht bemerkenswertesten digitalen Arbeiten in die ansonsten zu sehr von analogen Arbeiten dominierte Festival-Auswahl. Ein Trost ist, dass "werther. live" auch ohne eine Einladung zum tt sein Publikum findet und von Festival zu Festival tourt.

 

Mehr über Zoom- und Netztheater auf nachtkritik.de:

Am virtuellen Lagerfeuer – Wie die Theater in der Corona-Krise Videokonferenz-Apps als Spielwiese entdecken (6/2020)

Intime Räume – Wie das interaktive Netztheater den Zuschauer für sich entdeckt (7/2020)

Der Aufstieg des Netztheaters während der Pandemie (10/2020)

mehr porträt & reportage