Urwiener Epiphanie

von Gabi Hift

Wien, 26. Mai 2021. "Was hier?? In dieser muffigen Atmosphäre soll ich mein Stück spielen?", ruft der Theatermacher Bruscon aus und schaut angewidert in den Zuschauerraum, "trostlos!” Und erntet gleich einen glücklichen Lacher. Denn das Volkstheater glänzt derartig in seiner frischrenovierten Pracht, dass das auch grad in Renovierung befindliche Burgtheater auf der anderen Seite vom Ring es nicht leicht haben wird, mit so einem Prunk mitzuhalten. Die erste Runde um die Gunst des in den letzten Jahren arg geschrumpften Stammpublikums haben die Neuen gewonnen. Jetzt kommt Runde zwei der Aufnahmeprüfung: Kann die Truppe um Kay Voges Wienerisches Volkstheater? Was immer das heutzutage heißen soll. Und da herrscht ziemliches Misstrauen: Wie soll das gut gehen? Ein Deutscher und dann auch noch so ein postmoderner Dekonstruierer.

Vollkommen klassisch

Kay Voges hat seine Theatermacherinszenierung aus Dortmund mitgebracht – so wie Peymann seinerzeit die seine aus Bochum. Das kann man als Reverenz verstehen, oder als Provokation. Der prunkvolle, rotsamtene Vorhang öffnet sich zu Verdis Gefangenenchor, und es beginnt, womit kaum einer gerechnet hat: Andreas Beck, ein Bär von einem Mann, spielt das anachronistische Bernhardsche Theaterscheusal vollkommen klassisch, ohne Mätzchen, mit funkelnder Sprache und glasklaren Gedanken, hinter denen man Gefährlichkeit und Verzweiflung spürt. Die Bernhardschen Schimpftiraden glänzen bei Beck frisch und neu und man ist sofort in den Bann gezogen. Kongenial an seiner Seite Uwe Rohbeck als wieselflinker Wirt des Gasthauses in Utzbach, in dem der Staatsschauspieler Bruscon mit seiner Sippschaft an diesem Abend seine selbstverfasste Menschheitskomödie "Das Rad der Geschichte" aufführen will.Theatermacher1 560 Nikolaus Ostermann Volkstheater u"Was, hier??" Im neuen Glanz: Uwe Rohbeck Nick Romeo Reimann, Anna Rieser, Anke Zillich © Nikolaus Ostermann

Aber alles hat sich gegen ihn verschworen. Der Feuerwehrmann will ihm nicht erlauben, die Notbeleuchtung am Ende auszuschalten. Seine Frau und seine Kinder sind Antitalente, Frauen sowieso eine Katastrophe am Theater, dumm, träge, unfähig durch die Hölle zu gehen. Er quält und demütigt seine beiden Kinder und seine ewig hustende Frau im Namen der Kunst auf das Scheußlichste. Obwohl man meint, darüber sicher nicht mehr lachen zu können in einer Zeit, in der es diesen Regiemonstern, den selbsternannten Genies überall an den Kragen geht, und der Missbrauch, wie ihn Bruscon betreibt, im grellen Rampenlicht steht, muss man erstaunlicher Weise mitten im Entsetzen doch lachen.

Dann nach einer Stunde, als die Aufführung bevorsteht, Bruscon sieht schon Leute im Zuschauerraum sitzen, "seltsam verwachsene Menschen, hässlich, mit Masken, wahrscheinlich eine Seuche, Schweinepest", geht statt dem "Rad der Geschichte" das Stück noch einmal von vorn los. Oben am Portal leuchtet eine 2 auf, man sieht eine Zahlenreihe von 1 bis 9, und es schwant einem Fürchterliches: Wird das Stück nun acht mal wiederholt werden? ("Aber das war doch sehr gut gerade", flüstert eine Frau in der Reihe hinter mir ihrem Begleiter zu, "was brauchen die jetzt so einen Blödsinn machen?"). Runde zwei ist schneller, härter, schnoddriger. Die Familie schiebt einen riesigen ausgestopften Eisbären in die staubige Utzbacher Lagerhalle. Der Sohn, der im ersten Teil einen Arm in Gips hatte, hat jetzt beide Hände verbunden. Beck imitiert stellenweise Peymann.

Heute ist Blutwursttag

In Runde drei ist Uwe Rohbeck, der bis dahin den Wirt gespielt hat, Bruscon, und Andreas Beck ist der Wirt. Rohbeck trägt genau denselben Anzug mit breiten Nadelstreifen wie Kay Voges und macht ihn auch ganz deutlich nach. Beck & Rohbeck sind ein grandioses Komikerduo. Beck ist ungefähr doppelt so groß und dreimal so schwer wie der kleine, spillerige Rohbeck. Wo Beck ruhig und gefährlich ist, tänzelt Rohbeck über die Bühne, flattert mit den Händen und zwitschert mit dem Gesicht. Im Gegensatz zu Rohbeck spielt Beck jetzt einen denkbar schlechten Nebenrollenspieler. Er vergisst seine wenigen Stichwortsätze, setzt sich als Wirt auf den Stuhl, den er eigentlich dem Theatermacher hinstellen sollte, und verwandelt das beiläufige "Heute ist Blutwursttag" in einen melodramatischen Riesenauftritt. Der Hahnenkampf reißt die Zuschauer*innen zu Lachsalven hin. Die beiden werden der Liebe des Wiener Publikums wohl ab jetzt nicht entgehen. Theatermacher3 560 Nikolaus Ostermann Volkstheater uFamiliendrama mit Eisbär (Andreas Beck, Anna Rieser, Nick Romeo Reimann) © Nikolaus Ostermann

In Teil 4 wird das Räuberrad auf die Bühne gerollt, das berühmte Markenzeichen von Castorf. Nun wird Nick Romeo Reimann, der bis dahin den Sohn gespielt hat, zum Theatermacher, und ist in Begleitung eines völlig einbandagierten Krüppels im Rollstuhl, den er als seinen Vater mit denselben Worten beschimpft, mit denen er in den früheren Varianten als Sohn gedemütigt worden ist. Gespielt wird in einer unglaublich lustigen, weil grauenhaften, Musicalvariante. Reimann mit Schmachtlocke ganz in himmelblau, als das, was man in Wien "lackierter Aff" nennt, verwurstet die Bernhard-Texte furchtlos zu Schlagern – und Uwe Rohbeck singt im roten Kleidchen herzergreifend, als wäre er Ingrid Caven. Danach rast das Ensemble bei den Nummern 5 bis 8 in die Abgründe eines Alptraums, in dem die Mutter, Anke Zillich, die Theaterhölle dirigiert.

Alle agieren wie Geisterbahnpuppen, Schritte und knarrende Türen sind mit Geräuschen aus Horrorfilmen unterlegt, aus den Mündern kommen verzerrte Stimmen von anderen Schauspieler*innen, (das erinnert an Vegard Vinge, ein weiteres Theatergenie), Bühnennebel und horrorbunte Farben fluten die Bühne, an den Wänden schlängeln sich grandiose halluzinogene Videos von Mario Simon. Und schließlich übernimmt die Tochter, Anna Rieser, die Führung, die Brüste mit schwarzen Klebestreifen ausgeixt und die Schrift "Fickt die Väter" auf dem Jackett, tobt sie als Punkrockerin – mit Maske - durch die Zuschauerreihen, hinter ihr eine Chorus Line aus Hitlerfiguren im Tütü.

Gemeinsam in Theaterhaft

Dieser rasende Performance-Ritt durch sämtliche Regiestile macht am Anfang großen Spaß, scheint aber auch ein bisschen wie eine musterschülerhafte Demonstration: als würde die Truppe all ihre verrückten neumodischen Späße und Techniken den Wienern vor die Füße legen wie eine Katze, die stolz eine Galerie toter Mäuse vor einem aufreiht. Aber dann spürt man auf einmal eine ganz andere Wirkung der Wiederholungen, die Quantität verwandelt sich in Qualität und das rasende Karussell schleudert einen hinaus in eine neue Dimension. Aus dem Untergrund der immer wiederholten Hasstiraden, von denen man ja im Alltag in letzter Zeit überall umzingelt ist, schält sich ein tiefer Kern der Sehnsucht. Aus dem ekelhaften Sumpf von Hybris und Ressentiment der wechselnden Theatermacher erhebt sich der verrückte Glaube ans Theater, die tiefe Notwendigkeit etwas auszudrücken, das man nicht benennen, von dem man aber auch nicht lassen kann, die "Theaterhaft", in der alle gefangen sind.

Kay Voges gelingt in seinen Inszenierungen immer wieder die Annäherung ans Transzendente in einer säkularen Welt. Er kreiert scheinbar lächerliche und groteske Rituale, die das Publikum auf einmal mit Macht mitreißen. Hier schafft er nun etwas auf den ersten Blick besonders Absurdes: die Installation der Schimpftirade als spirituelle Praxis. Etwas Passenderes kann es für einen Einstand am Wiener Volkstheater gar nicht geben. Wenn zuletzt auf dem sich schließenden Vorhang die Schrift "Das Ende des Theaters" erscheint, wird wieder befreit gelacht, weil, genau wie am Anfang, das Umgekehrte wahr ist: Das Ende des Theaters ist vom Tisch, das Theater wird niemals enden oder höchstens durch den Tod. Das Volkstheater fängt wieder an, prachtvoll und barock und mit einer Truppe, die alle zum Lachen gebracht und den Wienern zu einer Urwiener Epiphanie verholfen hat. Wenn der Jubel am Ende nicht täuscht, dann hat die Zeit einer gemeinsamen Theaterhaft begonnen.

 

Der Theatermacher
von Thomas Bernhard
Regie: Kay Voges, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüm: Mona Ulrich, Komposition und Arrangement: T.D. Finck von Finckenstein, Video Art: Mario Simon, Dramaturgie: Matthias Seier, Michael Eickhoff.
Mit: Nick Romeo Reimann, Anna Rieser, Uwe Rohbeck, Andreas Beck, Anke Zillich.
Wiener Premiere am 26. Mai 2021
2 Stunden 40 Minuten, keine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

Ein "Proseminar in Sachen Bernhard-Inszenierungen" hat Stephan Hilpold gesehen und schreibt schlecht gelaunt in Der Standard (27.5.2021): Man quäle sich eher von Version zu Version, als dass man der nächsten neugierig entgegenblicke – "Ja, es gab in den vergangenen Jahrzehnten Regisseure, die Bernhards Texte aufgebrochen und ihre misogynen und gesellschaftsstabilisierenden Aspekte aufgezeigt haben. Voges’ Zugriff auf den 'Theatermacher' gleicht aber eher einem selbstverliebten Ritt durch Inszenierungsmoden. Hoffentlich kriegt man am Volkstheater nicht zu viele davon zu sehen."

"Die Aufführung ist weitgehend ein Import aus Dortmund, wo Voges vor Wien das Schauspielhaus leitete. Warum bekommen wir statt einer Novität oder eines spannenden Klassikers Fertignahrung serviert? Deutscher Kulturimperialismus? Natürlich würde man das niemals fragen, wenn die Aufführung überzeugte. Das tut sie aber nicht", schreibt Barbara Petsch in Die Presse (27.5.2021). "Immerhin, das Ensemble wirkt kraftvoll." Aber unterm Strich hätte Voges "besser ein eigenes Stück schreiben sollen statt den 'Theatermacher' zu dekonstruieren."

"Die Wiederholung, die immer wieder Neues bringt, ist eine nachgerade naturgemäße Versinnbildlichung für einen Text von Thomas Bernhard", schreibt Christina Böck von der Wiener Zeitung (27.5.2021). "Voges gelingt es aber, dass Pointen fast nie wiederholt werden, der Einfallsreichtum ist beachtlich. Er bricht mit den Erwartungen, die nicht wenig von der Peymann-Tradition zementiert wurden. Der Schlagbohrer, der diesen Zement aufraut, ist zwar schon sehr laut, aber auch unterhaltsam. Und vor allem gelingt es, das Spiel im Theaterspiel in den Vordergrund zu holen."

Voges greife zum Holzhammer "und zertrümmert das Stück, bis endlich die Satzfetzen durcheinanderwirbeln, die Figuren ihre Identitäten vergessen und vertauschen, das Chaos ausbricht und plakativ der Niedergang von Kultur und Gesellschaft zelebriert wird“, schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (31.5.2021). Am Ende bleibe ein Trümmerhaufen. "Aber anders als beim Dichter ist das kein seelischer, sondern "nur" ein künstlerischer."

Kommentare  
Der Theatermacher, Wien: wir "depperten" Ösis
Eine Aneinanderreihung aller möglichen Regiestile!
Irgendwie kindisch. Schaut`s mal was man so alles machen kann mit dem Bernhard: Irre oder?
Den Schmerz den die Kritikerin hinter all dem Schnickschnack erspürt hat, blieb mir leider verborgen.
Auf mich wirkt der Abend extrem rückwärts gewandt. Das ganze Inszenierungsbesteck der nuller Jahre wird mir als wilder neuer Zugriff verkauft.
In Wien!! Echt!
Da hat man in Dortmund einfach keinen blassen Schimmer, tut mir leid. Dass wir "depperten Ösis" in Wien schlicht ALLES geboten kriegen, was das deutsche Theater so zu bieten hat. Und das wir das eventuell nicht immer mögen, heisst eben noch lange nicht, dass wir davon nichts wissen und dringend weitere Aufklärung brauchen. Ich nicht!
Der Theatermacher, Wien: abgenutzt
Das ist halt alles ein bissl abgenutzt - und hat man so selbst am Volkstheater schon gesehen. Bernhard wurde in Wien schon vor langer Zeit anders und besser inszeniert. (...)

*Dieser Kommentar wurde um eine Passage gekürzt, die eine nicht überprüfbare Tatsachenbehauptung enthält*
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