Harte Leben

von Martin Krumbholz

Recklinghausen / online, 27. Mai 2021. So lapidar der Titel dieses Films, der ursprünglich ein Theaterabend hätte werden sollen, so ernüchternd ist der Blick, den er auf die Verhältnisse wirft – auf die Klassenverhältnisse, um genau zu sein. Denn was die sechs Frauen aus drei Generationen über ihr Leben zu erzählen haben, das verortet sie unmissverständlich als Angehörige einer Klasse, der es, allen Versprechungen zum Trotz, nicht gut geht. Europa? Das ist ein Kontinent, sagt eine von ihnen am Schluss. Schon mal im Ausland gewesen? Nein. Es scheint keinen Unterschied zu machen, ob sie im postkommunistischen Polen oder im spätkapitalistischen Deutschland leben; ob sie an PiS oder an Hartz IV leiden. Auf die Differenzen legt der Film von Julia Roesler / werkgruppe 2 keinen Wert, die Erfahrungen ähneln sich frappierend, und sie sind überwiegend bitter.

"Der Mensch läuft dem Geld hinterher und verliert sich dabei"

Gespielt wird von sechs deutschen und polnischen Schauspielerinnen, die oft in ein und derselben Szene Deutsch und Polnisch sprechen und sich wechselseitig befragen. Doch ihre Dialoge basieren auf Interviews, die ein Jahr lang mit Arbeiterinnen im Ruhrgebiet und in Niederschlesien geführt wurden. Das nicht unwesentliche mimetische Element, also die Übersetzung einer womöglich zögernden, gebrochenen Rede in eine Art Spielfluss, in eine scheinbar flüssige Rhetorik, erzeugt eine Verschiebung, die man bei der Betrachtung eher beiläufig registriert. Soll man den Darstellungsgestus "realistisch" nennen? Am Schluss sieht man kurz die Vorbilder der Figuren – zu kurz, um sich vorstellen zu können, wie sie tatsächlich gesprochen und agiert haben.

Arbeiterinnen4 600 FilmstillKarolina im Brautkleid in "Arbeiterinnen" © Filmstill/werkgruppe 2

Karolina, sie ist wohl Mitte zwanzig, trägt ein Brautkleid, das ein ganzes Zimmer füllt. Ihr Verlobter habe sich das so gewünscht, erklärt sie, und übrigens liebe er sie und sie ihn, er sei ihr Erster und wohl auch ihr Letzter. Dass sie aus einer anderen Beziehung bereits ein Kind hat, ist kein wirklicher Widerspruch, es dokumentiert nur die gelegentlich schmerzliche Reibung zwischen Realität und Selbstbild. In der Regel sind die Selbstbeschreibungen der Frauen sogar erschreckend illusionslos. "Der Mensch läuft dem Geld hinterher und verliert sich dabei", sagt eine von ihnen. Und oft reicht das Geld nicht einmal fürs Nötigste, an eine festliche Hochzeit nicht zu denken. Auf die Frage, was man denn anders hätte machen sollen, meint später Frau Rehberg, die Älteste: Vor allem nicht so früh heiraten.

Früher war's ein bisschen besser

Früher, bei Opel und Nokia, sei man ja noch einigermaßen gut bezahlt worden, meint Andrea. Aber jetzt, bei dauernd wechselnden Jobs … Schon mal auf einer Demo gewesen? Ja, wenn aktuell was in die Brüche geht, werde marschiert, aber zwei Jahre später sei alles vorbei und vergessen. Die Gewerkschaften hätten doch gar keine Bedeutung mehr. Es werde nur noch gekuscht. Ania dagegen meint, früher in Polen habe man für Kaffee oder Wurst anstehen müssen, "aber das war es wert". Soll heißen: Das Leben im Sozialismus war, irgendwie, einfacher. Aber will man tatsächlich zurück in die alten Strukturen? Die Frage wird nicht gestellt und wäre auch müßig. Allerdings, die Sache mit dem "Goldenen Westen" hat sich als fadenscheinig erwiesen. Der ist eben leider auch nicht so.

Männer in unsichtbaren Nebenrollen

Frau Rehberg sagt, bei ihrer Frühverrentung nach 37 Arbeitsjahren habe sie "den Krebs als Geschenk" bekommen. "Aber schlecht geht es mir nicht", fügt sie hinzu. Früher hat man wohl mal von "Mutterwitz" gesprochen, aber das Muttersein ist ja im Zweifelsfall eine der fast unvermeidlichen Aporien, auch wenn eine andere der Frauen versichert, keins ihrer acht Kinder missen zu wollen. "Ich weiß nicht, ob ich ein Kind gekriegt hätte, wenn ich gewusst hätte, was in zehn, elf Jahren passiert", erklärt ungeschminkt die alleinerziehende Denise, die Jüngste.

Arbeiterinnen2 600 Filmstill"Arbeiterinnen" eine Stimme geben © Filmstill/werkgruppe 2

Und die Männer? Sie fehlen nicht nur physisch, sie spielen auch, das muss man ohne Groll registrieren, keine wirkliche Rolle. "Wenn du wüsstest, wie ich dich hasse", will eine der Frauen zu ihrem Mann gesagt haben – und der habe nur gelacht. Einer der bitteren Sätze dieses kurzen Abends, die sich einprägen. Wie auch der: "Würde ein Reicher für eine Woche mit einem Armen tauschen müssen, er würde nicht klarkommen." Der Film dokumentiert, das ist sein eminentes Verdienst, dass die Arbeiterinnen eben doch klarkommen (wenn auch schlecht), vor allem aber, dass sie, allen Elends ungeachtet, ihre Würde bewahren.

Arbeiterinnen
von werkgruppe 2
Regie: Julia Roesler, Drehbuch: Silke Merzhäuser, Julia Roesler, Musikalische Leitung: Insa Rudolph, Musik: Esra Dalfidan, Katrin Mickiewicz, Insa Rudolph, Visuelles Konzept/ Schnitt: Isabel Robson, Kamera: Miriam Tröscher (D), Piotr Jaxa (PL), Ausstattung: Léa Dietrich, Viva Schudt, Dramaturgie: Silke Merzhäuser, Piotr Rudzki, Judith Heese, Konzept und Recherche: werkgruppe2, Piotr Rudzki.
Mit: Bożena Baranowska, Ingrid Domann, Janina Sachau, Beatrix Strobel, Janka Woźnicka, Marta Zięba.
Premiere am 27. Mai 2021
Dauer: 75 Minuten, keine Pause
Koproduktion der Ruhrfestspiele mit Werkgruppe 2, Schauspiel Essen, Teatr Polski

www.ruhrfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist authentisches Material, frei von Pathos und Klassenkampf-Allüren", schreibt Bernd Aulich in der Recklinghäuser Zeitung (29.5.2021). Dass aus dem als Theater geplanten Stück coronabedingt ein Film geworden ist, hat der "eindringlichen Wirkung" aus seiner Sicht nicht geschadet. 

Von einem "eindrückliche(n) Theaterfilm" spricht Britta Heidemann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (29.5.2021). Die Regisseurin Julia Roesler habe mit der "werkgruppe 2", dem Schauspiel Essen und dem Breslauer Teatr Polski ein Format entwickelt, das aus Gesprächen mitt realen Frauen (die teils am Ende des Films zu sehen sind) "Frauenfiguren entwickelt, die das Schicksal ihrer Generation spiegeln."

 

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