Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten - Theater Koblenz
Lügen als Privatangelegenheit
von Dorothea Marcus
Koblenz / online, 30. Mai 2021. Eine Mutter erschießt den Vergewaltiger ihrer Tochter im Gericht, weil er Unwahrheiten über sie verbreitet. Ereignet hat sich dieser Fall tatsächlich – und wurde im Jahr 1981 durch die Medien getrieben, so schön die Mutter, so spektakulär dieser Akt der Selbstjustiz. Sarah Amanda Dulgeris macht in "Beretta Kaliber 22" eine Art multiperspektivisches, überzeitliches Tribunal aus dem Fall Marianne Bachmeier von 1981. Im Schwarzweiß-Film, der historische Distanz und Allgemeingültigkeit suggeriert, sitzen sieben Schauspieler in Anzug oder Arztkittel in einem Bühnenraum, der mit projizierten Strukturen eine Art Gitter andeutet, ein (inneres) Gefängnis, in das von Weitem Licht fällt und das nun nicht mehr direkt erlebt werden kann.
Ein Gebot, zehn Autor*innen, zehn Folgen
Zu sechs Jahren wurde Marianne Bachmeier nach ihrer Tat verurteilt, nach drei davon wieder freigelassen, bis sie jung an Krebs starb – ein Leid von unerbittlicher, tragödienhafter Wucht. Zumal, wenn man ihre Vorgeschichte bedenkt, die zwei Töchter, die sie zur Adoption freigab, die männliche Gewalt, der sie ausgeliefert war. Im Stück wird sie nur "Mutter B" genannt, als sei sie ein prototypischer Fall, was zu ihrem fürchterlichen Ausnahmeschicksal nicht ganz passt.
Und doch erfasst die Autorin präzise, was das Thema der zehn Autor*innen des Studiengang "Szenisches Schreiben" der UdK Berlin war, die diese Streamserie fürs Theater Koblenz geschrieben haben: das achte Gebot des Dekalogs, "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten". Es ging also darum die Konsequenz des Lügens auszumessen, auf Gesellschaft und Privates. Die zehn Folgen, die seit Anfang Mai auf der Webseite des Theaters Koblenz ausgestrahlt wurden und jetzt noch bis Ende August alle dort verfügbar sind, sind vom Intendanten Markus Dietze inszeniert, was sie zuweilen ein wenig gleichförmig erscheinen lässt. Manchmal ein, meist zwei Menschen im schlichten und kargen Dekor, aber auch mal in den Theater-Werkstätten oder im Koblenzer Rheinhafen (wären zu den jungen Autoren nicht auch einige Nachwuchsregisseure spannend gewesen?). Gut ausgeleuchtet ist hier jeder, das gesamte Ensemble des Theaters erhält Raum zu Entfaltung und schauspielerischem Glanz.
Toxische Beziehungen
Perfide schillert das Stück "Hausmusik" von Rosa Rieck und spielt mit dem Motiv des Daumenlutschers aus dem Struwwelpeter, aber auch mit Macht und Rollentausch in einer symbiotisch-sadistischen Mutter-Kind-Konstellation: Da sitzt der "Sohn", gespielt vom deutlich über 60jährigen Reinhard Riecke als geschminktes altes Kind mit Fliegermütze und kurzer Hose stumm am Tisch, während die Mutter in Menschenfresserfantasien schwelgt. Er will Konzertpianist werden und erhält kein Essen – später trägt er ein winziges Klavier vorbei und serviert seiner operettenhaft ausstaffierten Mutter (Claudia Felke) gruselig aussehende Linsen mit Bockwürstchen.
Toxische Beziehungen ziehen sich durch die jeweils rund zwanzigminütigen Folgen: In "Zigaretten zum Nachtisch" von Patty Kim Hamilton begegnet sich ein ehemaliges Paar auf der Hollywoodschaukel mit lauernd-aggressivem Neid und Begehren, fast jeder Satz ist eine Enthüllung einer weiteren psychologischen Problemlage. In "Rabenmutter" von Katharina Kern, subtil gespielt von Cynthia Thurat, hadert eine Mutter mit Liebe und Wut auf die Tochter, mit ihrer Mutterschaft, mit dem wegrasenden Leben – das auch im Stück geschickt geschnitten im Schnelldurchlauf vergeht. In "Gänseblümchen pflücken" von Sofiya Sobkowiak treibt eine selbstgefällige Mutter mit blonder Perücke (Raphaela Crossey) die unsichere Tochter (Esther Hilsemer) dem Vergewaltiger förmlich in die Arme, weil es aus Muttersicht doch stets darum geht, einen Mann haben zu müssen: vererbte, internalisierte Tyrannei vermeintlicher Weiblichkeit.
Die Wirkweise von Bühnentexten
Überhaupt besteht hier fast alles aus Familienkonstellationen: In "Die Brücke in der Nacht" von Lisa Wentz begegnet sich ein Geschwisterpaar nach Jahren vor der Beerdigung der verhassten Mutter, er ist Straßenmusiker und sie (Magdalena Pircher) verkörpert das ganze Angewidertsein von der Unentrinnbarkeit des familiären Bandes. Etwas zu übertrieben auf der Klaviatur der Thriller-Atmo spielt Regisseur Dietze bei "Mädchen im Wald", da atmet, quietscht, kreischt es, während die Autorin Lena Reißner mit wenigen Strichen die alptraumhafte Isolation einer paranoiden schwangeren Frau in nordisch anmutender Waldeinsamkeit zeichnet. Gruselig lässt David Prosenc als ihr Mann die Grenzen zwischen Fürsorge und Bedrohlichkeit verschwimmen.
Erholsam kryptisch bleibt dagegen "The screaming impossibility of death" von Elisabeth Pape, spielt mit Neid, Konkurrenz, Distinktionszwang und Erfolgsdruck im Künstlerdasein und an mehreren Orten von Koblenz. In "Gethsemane" vom Duo Sokola/Spreter schließlich kommt eine Frau in ein anonymes Hotelzimmer und rechnet mit dem faschistischen Großvater ab, nimmt Tabletten, trinkt, geht in die Badewanne – und bringt sich schließlich um nach dem erfolglosen Versuch, das vererbte historische Trauma zu bewältigen ("aber niemand schloss die Löcher, die sie aufriss in sich"). Psychologisch erscheint das etwas zu dick aufgetragen, nicht ganz glaubwürdig, zu sehr behauptet, und doch sieht man dem sorgfältigen Setting und der Schauspielerin Dorothee Lochner gerne zu.
Und obwohl alle szenischen Miniaturen sich eher mit dem Lügen, Verheimlichen, Lavieren in zwischenmenschlichen Beziehungen beschäftigen als zum Beispiel mit gesellschaftlichen Konsequenzen von Fake News, hat die Stream-Serie der Nachwuchs-Dramatiker*innen doch einen großen Reiz: Denn selten kann man die Wirkweise von Bühnentexten so nah erleben, verdichtete Welten in kürzesten Momenten. Sehenswert.
Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten
"beretta kaliber 22" und "beretta kaliber 22 version 2.0" von Sarah Amanda Dulgeris | "Hausmusik" von Rosa Rieck | "Zigaretten zum Nachtisch" von Patty Kim Hamilton | "Rabenmutter" von Katharina Kern | "Gänseblümchen pflücken" von Sofiya Sobkowiak | "The Screaming Impossibility of Death" von Elisabeth Pape | "Die Brücke in der Nacht" von Lisa Wentz | "Mädchen im Wald" von Lena Reißner | "Gethsemane" von Sokola//Spreter
Regie: Markus Dietze, Kamera: Leo Eßbach, David Finn, Thiemo Hehl, Musik: Søren Nils Eichberg, Schnitt: Britta Bischof, Markus Dietze, Thiemo Hehl, Dramaturgie: Margot Weber.
Mit: Wolfram Boelzle, Raphaela Crossey, Ks. Claudia Felke, Jana Gwosdek, Esther Hilsemer, Marcel Hoffmann, Christof Maria Kaiser, Bruno Lehan, Dorothee Lochner, Isabel Mascarenhas, Jonas Mues, Magdalena Pircher, David Prosenc, Reinhard Riecke, Cynthia Thurat, Lukas Winterberger.
Gesamtdauer: 3 Stunden 13 Minuten
www.theater-koblenz.de
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