Lieben ist eine Art von Angewiesenheit

von Simone Kaempf

Berlin, 20. Mai 2007. Der Brief kommt auf rosarotem Papier daher, rosarot wie anderswo ein Liebesgeständnis. Der Schauspieler Sebastian Rudolph sitzt an einem schlichten Schreibtisch und liest den Brief, der aus den ersten Sätzen von Jelineks Stück besteht, stockend, als sei er eine unverständliche Mitteilung der Polizeibehörde.

"Lieben ist eine bestimmte Art von Angewiesenheit, mein sonderbarer Herr. Ich habe Ihnen schon einmal geschrieben, vor Jahren, und den Führerschein für mich in die Hand gedrückt." Eine verführerische Frauen-Tonbandstimme übernimmt den Text, spricht vom Verlangen nach dem Verlangen. Um den Mann, Typ unschuldiger Angestellter, ist es dann geschehen. Zwischen drei Frauen, die mit übereinander geschlagenen Schenkeln an anderen Tischen sitzen, läuft er staunend und stolpernd, als könne er sich nicht entscheiden, überrumpelt vom Anblick und vom Angebot, das sich ihm bietet.

Verfügbare Körper und Körper, die sich entziehen

Diese Anfangsszenen in Nicolas Stemanns Inszenierung am DT Berlin erzählen nicht nur, wie einem Elfriede Jelineks neues Stück "Über Tiere" erst einmal ziemlich sperrig vorkommt und es dann eine unentrinnbare Verführungskraft entwickelt. Sie führen auch geschickt mitten ins Thema des Textes, der ständig von den Körpern spricht, die sich entweder entziehen oder die verfügbar gemacht sind.

Im ersten Teil von "Über Tiere" ist viel von Entsagung die Rede, vom "Geben und gleichzeitig Nichtgeben", davon, "Gegenstand" zu sein, "der sich vor dem Gebrauch versteckt, indem er ihn ersehnt." Der gegenteilige zweite Teil basiert auf Gesprächsfetzen aus polizeilichen Abhörprotokollen, die Jelinek vor zwei Jahren zugespielt wurden. Damals flog auf, dass bei einem Wiener Escort-Service minderjährige Mädchen bestellt wurden. Die Kunden waren Prominente aus besten Kreisen: Anwälte, Politiker, Manager, die sich am Telefon in infantiler Managersprache über Vorlieben, Sonderleistungen, Aufpreise ausließen, wenn sie Mädchen bestellten.

Vom Liebesbrief zum Sado-Maso-Keller

"Weißt Du, wer da spricht?", diese Frage wiederholt sich mehrmals in Stemanns Inszenierung, die aber nicht anklagend, eher überraschend spielerisch den Bogen schlägt vom rosaroten Liebesbrief bis in den Sado-Maso-Keller, in dem sich Frauen an Gitterstäben reiben. Und die die Figuren, die in Jelineks Textlawine sprechen, leibhaftig auf die Bühne holt, samt den Klischeebildern, die mit ihnen verbunden sind.

Eine Frau (Almut Zilcher), die klagt, nie einen Schönheitswettbewerb gewonnen zu haben verschwindet im Bühnenboden in einem sprechenden Mund und wird flugs als posierende Blondine ausgespien – schaumgeborene Venus männlicher Sprachfantasien, die von ständiger Verfügbarkeit fabulieren. In der parodistischen Variante von hanseatischer Pfeffersackhaftigkeit reden zwei Männer davon, dass "alles Geschäft sei" und das Geschäft geile Macht, und sprechen sich dabei nicht von ungefähr mit dem Vornamen Dieter an. Nahtlos spielen sie in der nächsten Szene eine Interview-Szene nach mit Orginalzitaten von Jelinek, die versichert, dass alles Originalsprache sei, Beweismittel sozusagen.

Stemanns kombiniert Bildertheater mit Klamauk

Ruedi Häusermann hat die Uraufführung des Textes vor zwei Wochen in Wien, so liest man, "als musikalische Durchquerung" mit zwölf Klavieren und einer Schauspielerin, mit Mozartscher Musik als Echo und Kontrapunkt zum Jelinek-Text inszeniert. Stemanns Kombination aus Bildertheater und Klamauk ist ein gangbarer und nicht minder treffender Weg, um in Jelineks Text die harten Brüche zu beleben. Dabei gibt es die zarten, ja romantischen Klänge auch in seiner Inszenierung.

In der Musik, die immer wieder eingespielt wird, singt Barbara Streisand von der Liebe. Doch ihr schmachtender Gesang klingt wie der reine Hohn. Zu den Klängen spricht die gealterte Liebende (Margit Bendokat) vor ihrer Wohnzimmerlampe davon, dass Sex eine Weltreligion sei, auf die sie gerne verzichten würde. Steigt dann in ein Bett, um sich die Religion wie einen Teufel auszutreiben. Was einer krankhaften Ausstülpung verletzter Gefühle gleichkommt.

Romantik? Gibt's nur im Kino

Gespielt wird in den Kammerspielen, der kleineren Bühne des Deutschen Theaters, die teilweise bis auf die schwarzen Brandmauern freigelegt ist. Es müssen nur zwei Gitterwände herunterfahren, um das Bild von Sado-Maso-Phantasien zu wecken. Genauso gut könnte der düstere Raum auch ein Gefängnis sein. Mit solchen Projektionen und Zuschreibungen spielt Stemann auf beklemmende Weise. Beklemmend, weil auch den Romantizismen der Liebe nicht zu trauen ist, weil ihnen alle heilende Kraft abgesprochen wird. Wenn zuvor von "Arschficken und Schmusen" die Rede ist, was soll man dann von der Videoeinspielung halten, in der sich grobpixelig ein lachendes Pärchen küsst? Zumal, wenn hier so nahtlos von Liebenden zum Freier zum Geschäftsmann gesprungen wird.

Der Abend rüttelt an der Unterscheidung, die noch immer ein Fundament unserer Kultur bildet: dass Liebe, für die bezahlt wird, als etwas Künstliches erscheint, freiwillige Liebe dagegen Natur ist. Wie Stemann die Vermischung zeigt, ist es ein Grauen – und Romantik etwas, was es nur auf der Leinwand gibt.

 

Über Tiere
von Elfriede Jelinek
Regie und Bühne: Nicolas Stemann, Mitarbeit Bühne: Anne Hölzinger, Kostüme: Marysol del Castillo.
Mit: Almut Zilcher, Margit Bendonkat, Nora von Waldstätten, Regine Zimmermann, Sebastian Rudolph, Ingo Hülsmann.

www.deutschestheater.de


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Kritikenrundschau

Der Text kombiniere Abhörprotokolle einer Begleitservice-Agentur, in denen sich prominente Politiker als Nutznießer des Frauenhandels erweisen, mit dem "Begehren einer Frau, begehrt zu werden", schreibt Christine Wahl auf Spiegel online, "eine ganz andere, aber gleichermaßen tieftraurige – weil strukturell unerfüllbare – Form des Verlangens: Zu Gehör kommt hier der männliche – der Objekt-Blick – einer Frau auf sich selbst." Vor keinem Kalauer zurückscheuend, entzöge Stemann "jedem Deutungsanflug postwendend wieder mit einem inszenatorischen Bruch den Boden" und führe "jedwede Opfer-Assoziation umgehend ad absurdum." Die Inszenierung setze, so Frau Wahl weiter, Jelineks "jedwede identifikatorische Kuscheligkeit" unterlaufende Textfläche "einmal mehr ästhetisch kongenial um: "Ich weiß nicht, wer da spricht" - das akademisch gern verhandelte Urdilemma des "weiblichen Sprechens" im Patriarchat - ist der wohl am meisten zitierte Satz des Abends."

Im Berliner Tagesspiegel (22.5.2007) schreibt Jan Oberländer: "Herrschaft und Gewalt wurzeln in der Sprache, das ist seit jeher Jelineks Punkt." Allerdings ist "Stemanns Inszenierung kein engagierter Emanzipationsabend. Vielmehr beschreibt sie den Prozess einer künstlerischen Zugänglichmachung." Stemann und die seinen unternähmen "eine staunende, verzweifelte, und sympathisch nichtswisserische Reise durch Jelineks Wortspielwüste", in der ständig die "Rollenzuschreibungen wechseln, bisweilen mitten im Wort." Die Inszenierung erzeuge, schreibt Herr Oberländer, "delirante Momente".

Der Abend sei ein "einziges Ausweichen, Ausprobieren und Wiederholen, ein Springen von Identifikation zu Identifikation. Bloß: Wohin wird gesprungen?"In der Berliner Zeitung (22.5.2007) führt Ulrich Seidler aus, der Jelinek-Text sei am Anfang "beunruhigend persönlich", wenn aus der Vielstimmigkeit ein "wütend-verzagtes weibliches Subjekt" zu hören sei, "ein fahriges, exhibitionistisches Lamento einer Frau, die unerfüllbare Ansprüche an das Begehren hat, diese Unerfüllbarkeit pflegt und gleichzeitig an ihr leidet. Sprache und Wahrheit scheinen sich bei Jelinek wie Sex und Liebe zueinander zu verhalten: Den unfassbaren Idealen wird banalisierende Gewalt angetan." Ähnlich, so Seidler weiter, wie bei "Ulrike Maria Stuart" "zerpflückt der Regisseur den Text zu einer allerdings nicht ganz so bunten und überbordenden Revue … Lauter fantasievolle Sprechakt-Varianten, die alle irgendwie plausibel sind, zum Text passen, ihn zum Klingen bringen – und gar nicht den Anspruch haben, ihn bis in seine Geheimnisse und Intimität hinein zu entschlüsseln."

Christopher Schmidt unternimmt in der Süddeutschen Zeitung (22.5.2007) eine kleine Psychoanalyse der "antiautoritären Regie-Generation". Stemann und "andere wie Friederike Heller in ihren Handke-Arbeiten arbeiten mit den Texten der schreibenden Eltern auch die Paradoxien ihrer eigenen Sozialisation auf. Und zu denen gehört es, dass Elfriede Jelinek ihren Lieblingssohn Stemann heftig zum Muttermord anfeuert, der für den Jelinek-Wiederholungstäter mittlerweile schon ein Ritualmord ist. Solch erdrückende Liberalität hat den Kindern ein veritables Distinktionsdilemma beschert. Jenseits ideologischer Gewissheiten bleibt ihnen außer Autoaggression nur die Metaebene, die Kritik der Kritik." Für seine Abrechnung mit den "sich viktimisierenden Hardcore-Feministinnen aus der Müttergeneration" zieht Stemann alle Register. Er macht "Diskurs-Karaoke und postideologisches Ensemble-Kabarett. Indem er Jelineks Haltung selbst als ideologisch entlarvt, entlockt er dem Text zugleich seine Polyvalenz ... Es ist, als wollte der Exorzist Stemann sagen: Nicht Ficken ist schlecht, sondern du bist schlecht gefickt."

Für Petra Kohse ist die Inszenierung "eine polyphon arrangierte Textinstallation zum Thema Geschlechterrollen und Körper-An- und Verkauf geworden, in der keiner geschont wird". Weiter heißt es in der Frankfurter Rundschau (22.5.2007): "Stemann hat den Vernichtungs- und Benutzungscharakter in Geschlechterbeziehungen deutlich im Privaten verankert. Das will den Frauenhandel in keiner Weise entschuldigen. Sondern es betont kurzweilig und zwingend, wo die Duldung dieser Machenschaften ihren Anfang nimmt. Wo es beginnt, dass man sich selbst zur Ware macht – sei es als Frau oder als Mann."

Auch Katrin Bettina Müller in der taz (23.5.2007) bemüht sich angesichts der sehr frei mit der Vorlage umgehenden Inszenierung, zunächst einmal den mäandernden und monologisierenden Text der Nobelpreisträgerin zu beschreiben und einzuordnen: "Aber der lange Monolog von "Über Tiere" ist nicht nur ein Text, der die theoretische Figur von der verweigerten Subjektwerdung der Frau in eine lange, durchaus anrührende Klage übersetzt, sondern auch um das Komische einer solchen Konstruktion weiß: ein Ich, das nicht "Ich" sagen kann und gerade diese Negierung des Selbst doch zur großen, fast geschwätzigen Produktivkraft umbaut." Das theater, das daraus werde sei bei Nicolas Stemann "ein bös unterhaltsames". Ein großer "Mund, auf den Bühnenboden projiziert, öffnet sich gelegentlich unter den Schauspielern und saugt sie weg."

Matthias Heine schreibt auf Welt online (23.5.2007): "Auch die Autorin selbst kommt zu Wort ...Aber wenn sie immer wieder betont, wie ´authentisch´ diese Texte seien, dann klingt das Wort auch wie ein Begriff aus dem Jargon der Prostitution. ... Die innigeren Töne des Textes überhört man leicht: Wenn Jelinek darüber sprechen lässt, dass Beziehungen zwischen Männern immer nur Marktbeziehungen sein können, dann ist dabei nicht besserwisserischer Triumph zu hören, sondern auch Trauer ... Dann öffnet Stemann die Pforten der Hölle: Zwischen roten Samtvorhängen sieht und hört man ganz hinten eine junge Frau, die wahrhaft wie am Spieß schreit. Das Komische verbrennt im Inferno."

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