Tanz mit Diskurswolf

von Martin Pesl

Wien, 5. Juni 2021. Obwohl er selbst nie auftritt, hat René Pollesch eines mit Kabarettist:innen gemein: Sie müssen oft Monate im Voraus zu Marketingzwecken den Titel ihres neuen Programms nennen und dazu einen knackigen Ankündigungstext verfassen, obwohl sie noch keine Zeile geschrieben haben. Polleschs neueste Inszenierung "Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer" – erster Vorbote der neuen Berliner Volksbühne – feierte seine Premiere im Rahmen der Wiener Festwochen, die diesmal erst Ende April ihren Katalog herausgaben. Polleschs Text darin liest sich trotzdem wie "Schreib uns bitte irgendwas, wir gehen heute in Druck." Etwas mit Zahnärzt:innen, der "vierten Sache" und dem Tanzfilm. Flapsig, verschwurbelt, ganz sympathisch, aber nicht aufschlussreich. Pollesch halt.

Mit frontalem Blick ins Publikum

Nun, niemand bohrt, was die "vierte Sache" ist, werden wir nie erfahren, getanzt und gefilmt wird dafür aber ordentlich. Auch Frau Kathrin Angerer ist anwesend und stellt sich an einer Stelle sogar selbst so vor (während alle einander sonst Bill, Dusty oder Liebling nennen). Charakteristisch rehäugig mit ängstlichem Duckface Tragik verströmend und dadurch erst recht Komik ausstrahlend, erläutert sie sogar halbwegs schlüssig, warum sie keine Gewehre dabei hat.

Gewehre Angerer 1 560 LunaZscharnt uConférencier im weißen Anzug: Martin Wuttke – mit Rosa Lembeck + Marie Rosa Tietjen. © Luna Zscharnt

Pollesch scheint diesmal verblüffenderweise daran gelegen, die Zusammenhänge hinter seinen ausufernden, mit Füllwörtern gespickten Selbst-, Zwie- und Gruppengesprächen zu erklären. Zu diesem Behufe nimmt Martin Wuttke eine Conférencier-Rolle im weißen Anzug mit frontalem Blick ins Publikum ein. Dass er schon nach dem ersten Satz "Ein Filmstudio in Hollywood, 1938" mehrmals mit seinen allzu glatten Steppschuhen ausrutscht, ist natürlich Absicht, die sehr, sehr häufige Zuhilfenahme der Souffleuse Leonie Jenning eher nicht. Sie macht die Inhaltsangabe zu einer zähen Angelegenheit.

Sport und Krieg

Nach und nach kristallisiert sich dennoch folgende Ausgangssituation heraus: Im besagten Jahr '38 soll Bertolt Brechts "Die Gewehre der Frau Carrar" verfilmt werden, ein Stück über den Spanischen Bürgerkrieg, dessen Ausgang zum Zeitpunkt der Entstehung noch unklar war. Etwa zeitgleich wurde aufgedeckt, dass Wrestling-Kämpfe in den USA geskriptet waren, ihr Ausgang also alles andere als unklar. Von dieser Diskrepanz zwischen Krieg und Sport ausgehend geht es dann hauptsächlich darum, wie erzählenswert ein Leben ist, wie viele Sätze es also verdient und wer Star genug ist, alleine die Showtreppe runterzuschreiten.

Besagte Treppe gibt es im Bühnenbild Nina von Mechows, der Star ist sie aber nicht. Der Star ist der Spinning-Room. Dieses Gadget zur effektvollen Tanzfilmherstellung dreht sich senkrecht um die eigene horizontale Achse. Eine Kamera ist fest im Raum montiert und dreht sich mit, sodass es auf der Leinwand aussieht, als gingen die Menschen darin die Wände hoch oder hingen von der Decke. Zu den unterhaltsamsten Szenen gehören jene, in denen Martin Wuttke und Thomas Schmauser, sowieso schon mit dem Text kämpfend, auch noch durch das rotierende Innere der Bar "Fame or Shame" purzeln.

Gewehre Angerer 2 560 LunaZscharnt uNichts Luschiges: Der Tanzchor auf der Showtreppe  © Luna Zscharnt

Das andere Highlight sind die Tanznummern. Sieben Tänzerinnen, manchmal begleitet von weniger prominenten Mitgliedern des Ensembles wie Josefin Fischer oder Lilith Krause oder von der Souffleuse mit ihrem Textbuch, bewegen sich zu erhebender Musik im Gleichschritt, oft hinter dem kolossalen Spinning-Room, von der Krankamera spektakulär eingefangen und live an die Wände projiziert.

Souveräne Tänzerinnen

Das wirkt toll und lässt die sich um Kopf und Kragen redenden Schauspielvirtuos:innen, die sich den Tanzchor eigentlich geholt haben, um ihn mit leicht herablassender Ironie durch den Diskurswolf drehen zu können, alt aussehen. Diesen Eindruck, das muss man Pollesch lassen, hat er vorhergesehen: Wenn Thomas Schmauser gegen Ende sagt, die Tänzerinnen seien am tollsten, weil sie gar nichts Luschiges an sich hätten, fühlt man sich ertappt.

Dennoch hinterlässt es einen fahlen Beigeschmack, dass das, was fleißig geprobt wurde, was ohne unbedingte Perfektion gar nicht möglich, nach jeder deutschen Regietheaterlogik also als langweilig abzustempeln wäre, hier deutlich besser funktioniert als jene Elemente, auf die sich das Pollesch-Theater normalerweise verlassen kann: ein Text, der zwar zu klug ist, um ihn zu verstehen, aber so interessant, dass man es gerne würde. Und souveräne Stars, die sich nicht von ihren leicht genervten textsicheren Kolleginnen an die Wand spielen lassen – Rosa Lembeck und Marie Rosa Tietjen sieht und hört man dann aber doch verhältnismäßig gerne zu.

 

Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer
von René Pollesch
Uraufführung
Inszenierung: René Pollesch, Bühne: Nina von Mechow, Kostüme: Tabea Braun, Video: Kamera: Marlene Blumert, Jan Speckenbach, Licht: Kevin Sock, Dramaturgie: Johanna Kobusch.
Mit: Kathrin Angerer, Josefin Fischer, Lilith Krause, Rosa Lembeck, Marie Rosa Tietjen, Thomas Schmauser, Martin Wuttke, Souffleuse: Leonie Jenning, Tanzchor: Lilia Bassenge, Luna Caric, Greta Geyer, Eleni Murkudis, Anna Marlene Steinberg, Juna Wendisch, Ida Aga Zinnen.
Premiere am 5. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

Es herrsche wie häufig in Polleschs Theaterarbeit absichtsvolles Chaos, planvolle Orientierungslosigkeit, heitere Hektik, schreibt Petra Paterno von der Wiener Zeitung (7.6.2021). "'Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer' fügt sich nahtlos in das Pollesch-Universum ein, ohne jedoch sonderlich zu funkeln."

Als lebhaft, mitunter auch holprig, beschreibt Margarete Affenzeller vom Standard (6.6.2021) die Inszenierung. "Die vielschichtigen, manchmal unergründlichen Pollesch-Baupläne sind nach wie vor aufregend und inspirierend. Die Diskrepanz zwischen dem Wie und dem Was des Gesagten macht die Spannung aus." Sie schließt: "Dramatik mit guter Laune – davon lässt man sich gern ins Theater zurücklocken."

Der neue Intendant habe "Lust auch an der großen Form", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung anlässlich der Berlin-Premiere (1.10.2021). Entsprechend zeige der Abend einen "Hang zu Opulenz" samt "immerhin elfstufige(r) Glamourtreppe". Die "Unklarheiten und irreleitenden Anspielungen" – etwa die, was an diesem Filmset eigentlich gedreht werde – lockten das Publikum und hielten es gleichzeitig auf Abstand. Am Ende stehe "eine herrliche Spinnerei", so der Kritiker.


Der Abend wirke, als sei "Sand ins Getriebe gekommen", findet Jan Küveler in der WELT über die Berliner Premiere (1.10.2021). Daran könnten auch die "flutschenden" Bühnenaufbauten nichts ändern: "All das bewegliche Brimborium dient auch dazu, der Ödnis entgegenzuwirken, die sich durch das unaufhörliche, halb schwachmatische, halb theoriegesättigte Geseiere der Leute auf der Bühne unweigerlich einstellt." Trotz eines Ensembles, dem man "keinen Vorwurf" machen könne, wollten Text und Regie "erkennbar nirgends hin". 


"Wie in einer Screwball-Komödie werfen sich die sieben Schauspieler die Sätze zu", schreibt Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (1.10.2021). Es gehe um "Hollywood und seinen Glanz, um Bertolt Brecht (...) und aktuelle Diskurse". Es sei aber auch ein Abend, dessen Zentrum "merkwürdig leer" bleibe, und: "Je länger die knapp zwei Stunden dauern, desto mehr wünscht und hofft man, dass der Abend noch den entscheidenden Dreh hinbekommt." Das aber bleibe ein Wunsch, so der Kritiker.

 

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