König Lear - Renaissance Theater Berlin
Ein Platz an der kranken Sonne
von Michael Wolf
Berlin, 6. Juni 2021. Es ist ein wenig schade, dass diese Shakespeare-Bearbeitung nicht mehr lange spielbar sein wird. Schon zwei Jahre nach der Uraufführung ahnt man an einigen Stellen, dass die Zeit des Textes bald ablaufen könnte. Das aber sollte man nicht als Schwäche der Arbeit von Thomas Melle verstehen, sondern im Gegenteil als Qualitätsmerkmal, als Ausweis einer gelungenen Aktualisierung. Melle erzählt in seinem "König Lear" von gesellschaftspolitischen Kämpfen der Gegenwart. Die Machtverhältnisse werden sich verändern, derzeit aber sind sie in diesem "Lear" scharf gezeichnet.
Marginalisierte vs. Mächtige
Bei Shakespeare ging es noch vor allem um Generationenkonflikte. Der König will abtreteten. Er befragt seine drei Töchter, welche ihn am meisten liebt. Die beiden älteren versichern ihm ihre große Zuneigung, nur die jüngste, Cordelia, gibt sich schmallippig. Er verstößt sie daraufhin und gibt sie dem französischen König zur Frau. Ein Fehler, denn kaum hat ihr Vater den Thron verlassen, wollen die begünstigten Töchter ihn loswerden. Auch der Graf von Gloucester hat Probleme mit seinen Kindern, sein unehelicher Sohn Edmund schmiedet ein Komplott gegen ihn.
Melle erweitert diesen Konflikt zwischen Vätern und Kindern zu einem zwischen marginalisieten Gruppen und den Mächtigen der Gesellschaft. Lears Töchter Goneril und Regan stehen für einen radikalen Feminismus, der nicht wählerisch mit seinen Mitteln vorgeht, Hauptsache die alten weißen Männer treten ab. Sie haben daher auch gar kein Verständnis dafür, dass die Gräfin von Gloucester (bei Melle handelt es sich um eine Frau) zu Lear hält: "Wieso fraternisierst du mit den Schwänzen?" Gloucesters Sohn Edmund repräsentiert Menschen, die nichts geschenkt bekommen und dazu verdammt sind, mit unfairen Mitteln um ihren Platz in der Welt zu kämpfen. Am Berliner Renaissance Theater fängt er sich früh eine Ohrfeige von der Frau Mama.
Infantile Bösewichte, fiese Frauen
Melle und Regisseur Guntbert Warns lassen durchaus Sympathie für die Bösewichte dieser Geschichte zu. Die ältere Generation, Felix von Manteuffels Lear und Klaus Christian Schreibers Gloucester, nähren den Verdacht, dass ein Machtwechsel nun wirklich mal an der Zeit wäre. Gloucester ist eine so selbstmitleidige wie selbstgerechte Dame, Lear ein dementer Zausel, der zwischen Wutanfällen und Albernheiten changiert.
Die Frauen sind zwar um einiges fieser gezeichnet, sie wirken aber auch erwachsener, was daran liegen könnte, dass sie weniger Aufhebens um ihrer Geschlechtsteile machen, denn ja, man bekommt in der Tat ein paar Schwänze zu sehen. Catrin Striebeck und Jacqueline Macaulay als machthungrige Feminstinnen hingegen kleben sich die Brüste und den Unterleib ab. Schamlos sind sie und bereit, sich mit den Mitteln der alten Elite skrupellos nach oben zu kämpfen. Ihr Motto: "Auch wir finden's traurig, auch wir leiden mit / Doch kein Paradies ohne Höllenritt. / Bald sind es solche wie wir, die entscheiden / Vielleicht lässt sich dann das Schlimmste vermeiden."
Aufreibende Streitigkeiten
Und doch gibt es Gründe, den Aufstieg der Entrechteten mit Skepsis zu betrachten. Katharina Thalbachs Cordelia ruft ihre Schwestern mit dem Schwert in der Hand zur Ordnung: "Ihr wollt das System nur verändern, zu euren Gunsten / Und nicht stürzen, wollt euren Platz an der kranken Sonne". Auch Matthias Mosbachs Edmund mag man nicht wirklich abnehmen, für die armen Schlucker zu sprechen, da kann er noch so enthusiastisch mit einer schwarzen Flagge herumwedeln. Kaum ist die Mutter verjagt, schwingt er sich zum Diktator auf.
Selbst wenn tatsächlich ehrbare Motive dahinter steckten, führt der ganze Mord und Totschlag doch kaum zum Ziel. Bis zum überraschenden Ende ist kein Sieg der vermeintlich fortschrittlichen Kräfte in Sicht, stattdessen gehen sie hier ständig aufeinander los. Auch das liegt nicht fern der Realität. Die gegenseitige Abneigung von Feministinnen unterschiedlicher Denkschulen etwa zeigt, wie bereitwillig sich die Kämpferinnen und Kämpfer für eine gute Sache in internen Streiterein aufreiben.
Kein bisschen aus seiner Zeit gefallen ist dieser "Lear" also. Zumindest jetzt noch nicht, schon bald wird es neue Konflikte geben. Bis dahin sind diesem Text noch viele Inszenierungen zu wünschen. Und danach kann Thomas Melle den "Lear" gerne noch ein weiteres Mal bearbeiten.
König Lear
von William Shakespeare
übersetzt und bearbeitet von Thomas Melle
Regie: Guntbert Warns, Bühne: Momme Röhrbein, Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Harry Ermer.
Mit: Jacqueline Macaulay, Felix von Manteuffel, Matthias Mosbach, Michael Rotschopf, Martin Schneider, Klaus Christian Schreiber, Catrin Striebeck, Katharina Thalbach, Moritz Carl Winklmayr.
Premiere am 6. Juni 2021
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause
renaissance-theater.de
Schminke, Licht und Stoff: Gunda Bartels vom Tagesspiegel (8.6.2021) hat Spaß daran, die "immer noch handgemachte Theaterillusion nah dran entstehen zu sehen". Sonst gebe es wenig zu lachen: Auch in Thomas Melles Fassung würden die mythischen Britannier von den Mechanismen der griechischen Tragödie zerrieben: "Verblendung, Machtgier, Eitelkeit, Verrat, Narrheit, Katharsis, Brutalität überall. Nur, dass Lear statt Soldaten jetzt auch Follower hat." Manchmal stimme der Rhythmus nicht in dieser ersten großen Inszenierung des neuen Theaterleiters Guntbert Warns. Gloucesters Blendung sei als blutige Slapsticknummer zugerichtet, "bei der das Timing schleppt". Der Schlagabtausch zum Tragödienfinale hingegen sei in pantomischer Slowmotion zu Stroboskopgewittern "eine tarantinoeske Szene..., die absurden Witz und Präzision hat". Für die Nach-Lockdown-Bespielung einer Privatbühne kann sich Gunda Bartels zwar leichtere Kost vorstellen als den komplexen Klassiker, aber: "Groß ist die Spielfreude nach der unfreiwilligen Bühnenabstinenz."
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Im Zentrum des Stücks steht aber weniger die Karikatur eines alten, weißen Mannes, den in der Berliner Inszenierung Felix von Manteuffel spielt, sondern ein mit strenger Hand und grausamer Brutalität regierendes Matriarchat. Hier setzte Warns gegenüber der Münchner Inszenierung von Stefan Pucher einen deutlich anderen Akzent: An den Kammerspielen waren Gro Swantje Kolhoff und Julia Windischbauer als Regan und Goneril ein aufgekratztes, rappendes Girlie-Duo. Ihre machtgeile Blutrünstigkeit wurde am Anfang durch die Aufbruchsstimmung nach dem Sturz des Patriarchats überdeckt.
In Berlin lassen Catrin Striebeck und Jaqueline Macaulay keinen Zweifel, aus welchem Holz sie geschnitzt sind: sie sind genauso gierig und korrupt wie all die Exemplare toxischer Männlichkeit, die sie ablösen wollen. Sie kämpfen mit denselben Mitteln, ihr Gesichtsausdruck ist verbittert. Alles, was sie sagen, klingt harsch und zynisch.
Der Fokus der Inszenierung auf diese beiden Frauen, die im Partnerlook auftreten, sorgt dafür, dass andere prominente Gäste an diesem Abend nur eine Nebenrolle spielen: Publikumsliebling Katharina Thalbach hat als Cordelia nur wenig Bühnen-Präsenz und auch Matthias Mosbach, der als „Baal“ an Claus Peymanns Berliner Ensemble eine Urgewalt war, wird von den beiden Herrscherinnen als Diener und Lustknabe schnell domestiziert.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/06/07/konig-lear-renaissance-theater-berlin-kritik/