Die Kinder machen sich Sorgen

von Max Florian Kühlem

Köln/Online, 8. Juni 2021. Die laufende Ausgabe des Impulse Theater Festivals verdeutlicht noch einmal, wie mies Corona für die Kultur war. Eigentlich wollte das Team dieses Jahr den 2020 ausgefallenen 30. Geburtstag dieser wichtigsten Plattform für Freies Theater im deutschsprachigen Raum nachfeiern. Doch der für Orte in Köln geplante Showcase geriet ähnlich wie im vergangenen Jahr in eine merkwürdige Dazwischen-Situation: Man hat zuletzt schweren Herzens digital geplant mit neuen Stücken und ausgefallenen aus dem Vorjahr. Produktionen, die nur vor Publikum möglich wären, wurden mit einem Preisgeld entschädigt. Und auf einmal ist Live-Spiel doch wieder gestattet. Also, zumindest ein bisschen, unter Auflagen. Heraus kommt  ein zerrissenes, zerschossenes Festivalprogramm, das seinen gesellschaftspolitischen Anspruch nur mühsam behaupten kann.

Wohl jeder Mensch, der in der vorsichtigen Öffnungseuphorie nach langer Zeit wieder einem Live-Kulturereignis beigewohnt hat, wird erfahren haben: Es ist durch nichts zu ersetzen. Am allerwenigsten durch abgefilmte Bühnenereignisse, die nicht für den digitalen Raum gedacht und gemacht sind. Da sitzt man voller Sehnsucht vor dem Bildschirm, wie ein Trauerkloß, wie ein depressiver Teenager. Dass ausgerechnet depressive Teenager vom anderen Ende der Welt aus dieser Post-aber-irgendwie-auch-noch-mitten-im-Lockdown-Lethargie reißen können, war die vielleicht größte Überraschung des Festivals.

ansicht 9185Samara Hersch: Body of knowledge © Pier Carthew

Samara Hersch, die zwischen Amsterdam und Melbourne lebt, präsentiert eine Pandemie-Version ihrer seit 2019 tourenden, englischsprachigen Arbeit "Body of Knowledge". Dafür benötigen sehr wenige digitale Theater-Besucher*innen sehr viel Technik: ein Smartphone mit dem Messenger-Dienst Whatsapp, einen Computer mit der Video-Telefonie-Software Zoom und am besten auch ein Headset. Der Kanal Zoom liefert bloß eine kurze Begrüßung von Samara Hersch, briefmarkengroße Bilder der anderen Teilnehmer*innen und die Entspannungsmusik zum eigentlichen Ereignis: die Whatsapp-Anrufe vom anderen Ende der Welt.

"Ich habe in den ersten Wochen nur geweint."

In drei Telefonanrufen sind jeweils zwei Teilnehmer*innen mit einem Teenager aus Melbourne verbunden. "Einen berührenden Dialog zwischen den Generationen – über Nähe, Sexualität, Zukunftsängste und Trauer", verspricht der Ankündigungstext nicht zu viel. Die Stimmen, die behaupten, Dash, Ash und Zadie zu heißen und zwischen 17 und 19 Jahre alt zu sein, gehen gleich ans Eingemachte: "Wie habt ihr den Lockdown erlebt? Ich habe in den ersten Wochen nur geweint." Oder: "Irgendwann müssen wir alle dem Verlust eines nahen Familienmitglieds begegnen. Wie kann ich die dafür nötige Stärke entwickeln?" Oder: "Letztens habe ich keine Verbindung mehr zu den Dingen und Menschen um mich herum gespürt, als sei ich eingesperrt in diesem Körper und nichts habe einen Wert oder eine Substanz. Kennt ihr das?"

Letztere Frage bewegte den Autor dieser Zeilen, der Theatermacherin zu mailen, ob es sich in ihrem Stück wirklich um echte Teenager handele und ob sich eigentlich jemand um deren psychisches Wohlergehen sorge. Dem ist Herschs Antwort zufolge so. Die Performer*innen erzählen, teilweise leicht fiktionalisiert, von sich selbst, stellen ganz persönliche Fragen. Man stehe in engem Kontakt zu ihnen und ihren Familien. "Those with more serious questions are also engaged with professional psychologists on a regular basis."

"Body of knowledge" führt das ganze Drama des Aufwachsens noch einmal vor Augen, das gerade für sensible Menschen mit unangenehmen Einsichten und exponentiell wachsender Verunsicherung einhergehen kann. Sie macht auch das Drama des Lockdowns deutlich und was er bei jungen Menschen ganz offensichtlich angerichtet hat. Sie führt ältere Teilnehmer*innen, die sich vielleicht schon bequem eingerichtet haben in diesem rätselhaften Leben, für eine kurze, aber intensive Zeit zurück in einen Lebensabschnitt, in dem alles neu und offen war, als man einen Halt brauchte, sich einen Erfahrungsschatz erst langsam erarbeitete.

anerkennung 560 Robin Junicke uÜlkü Süngün: "Takdir. Die Anerkennung" © Robin Junicke

Dieser also tatsächlich berührende Dialog der Generationen stellt einen thematischen Ausreißer dar im Programm, das sich sonst sehr explizit mit den im Theaterbereich gerade größten Diskursen um Rassismus, (sexuelle) Identität und Herkunft beschäftigt. Hierunter fallen Julian Warners The History of the Federal Republic of Germany as told by Fehler Kuti und die Polizei, das Rassismus bei der Polizei behandelt, und Joana Tischkaus "Playblack", das als Spin-Off ihres Deutschen Museums für Schwarze Unterhaltung und Black Music den strukturellen Rassismus des weißen Blicks sezierte. Als beeindruckendes (Live-)Ereignis zum Thema Rassismus kommt noch Ülkü Süngüns temporäres Mahnmal "Takdir. Die Anerkennung" dazu.

Sagt ihre Namen!

Die Bildende Künstlerin aus Stuttgart baut ihre schlichte, aber wirkungsvolle Performance auf dem erschreckenden Gedanken, dass die meisten Deutschen zwar die Namen der Täter der rechtsextremen NSU-Terrorzelle kennen, allerdings kaum jemand die ihrer Opfer. Die sind nämlich vor allem türkischer Herkunft – und obwohl seit dem ersten Anwerbeabkommen mit der Türkei von 1961 viele Menschen mit einem "ı", einem "ş" oder "ç" im Namen mitten unter uns leben, entwickelt kaum jemand Interesse dafür, welche Laute mit ihnen verknüpft sind. Dies ist wohl einer der deutlichsten Hinweise für strukturellen Rassismus: Der Klang von Namen aus bestimmten Kulturräumen ist in Deutschland vor allem als Signal für Vermieter*innen von Belang, die am Telefon gleich wieder auflegen können.

Ülkü Süngün spannt nun einen Bogen von strukturellem Rassismus bis zu schwerst-kriminellem, dem Mord. Sie bringt Menschen auf dem Kölner Ebertplatz in Eins-zu-eins-Situationen bei, die Namen der NSU-Mordopfer richtig auszusprechen. Am Ende geht sie mit dem ganzen Publikum jeweils die gesamte Liste durch: Habil Kılıç, Mehmet Kubaşık, Abdurrahim Özüdoğru, Enver Şimşek, Süleyman Taşköprü, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Halit Yozgat, Theodoros Boulgarides und Michèle Kiesewetter.

Dies könnte Teil einer kollektiven Psychotherapie sein, die quasi alle Bewohner*innen dieses Landes mit seiner zutiefst rassistischen Geschichte bitter nötig hätten – wenn es denn jemanden interessieren würde. Das Publikum besteht allerdings vor allem aus dem Innersten der Blase: aus Mitarbeiter*innen dieses und anderer Festivals, Aktivist*innen der Initiativen "Herkesin Meydanı – Platz für alle" und "Keupstraße ist überall" und Pressemenschen. Immerhin hat irgendwer ein Transparent aufgehängt: "Wie viel Staat steckt im NSU?" Und Aktivist Peter Bach fordert im Nachgespräch dazu auf, am Mittwoch, 9. Juni, 19 Uhr am Gedenken zum 17. Jahrestag des Anschlags auf der Keupstraße teilzunehmen. Man wünscht ihm mehr Zulauf.

Impulse Krone 600 RobinJunickeTanja Krone und Friedrich Greiling: Mit Echten singen © Robin Junicke

Immerhin 50 Zuschauer*innen haben Tanja Krone und Friedrich Greiling, die in der TanzFaktur live und vor Ort spielen dürfen beziehungsweise singen – und damit ist die Inszenierung voll ausgelastet, denn mehr Zuschauer*innen können pandemiebedingt nicht dabei sein. Die visuell unaufregende Performance "Mit Echten singen" ist  im Prinzip ein Konzert. Den Text hat Tanja Krone aus Interviews kompiliert, die sie in ihrer sächsischen Heimat über das Wendejahr geführt hat. Leider sind die interessanten und ehrlichen Reflexionen des System-Shifts und der treibende Soundtrack des Mittekill-Musikers am Premierenabend für die Menschen an den heimischen Empfangsgeräten nur in minimalster Ton- und Bildqualität zu haben. Schuld soll ein Unwetter sein. Ob der Blitz direkt ins Internet eingeschlagen ist? Wer noch einen Grund gesucht hat, demnächst doch lieber wieder auf Live-Theater zu setzen, hat hier jedenfalls einen gewaltigen gefunden, denn Krones Texte sind kaum zu verstehen und Greilings Musik ein pappiger Brei mit zerfaserndem Beat.

Warten auf die Frauen

Na, und dann versteckt sich im Programm des Showcase noch die durchaus kurzweilige Merkwürdigkeit des Clips "Love, Heteraclub, Grüße aus dem Trainingscamp". Diese Lockdown-Zwischenlösung dauert nur zehn Minuten und liefert Bilder des Hamburger Clubs Queens, der im Februar 2020 ungefähr einen Monat lang öffnen konnte. Seitdem wartet der Ort für "heterasexuelle Frauen, ihre queeren Freund*innen und Pimps" auf die Erweckung aus dem virusbedingten Dornröschenschlaf. Man sieht Mitarbeiter des Clubs, die sich danach verzehren, den Besucherinnen wieder in Separés oder One-to-One-Performances begegnen zu können. Im Trainingscamp proben sie Nähe-Situationen getrennt durch deckenhohe Plastikfolien. Und ja, ungefähr so hat sich dieses Impulse-Festival angefühlt.

 

Impulse Theater Festival 
2. bis 13. Juni 2021

Body of Knowledge (at home)
Künstlerische Leitung: Samara Hersch
Creative Technology: Fred Rodrigues, Nathan Fain; Künstlerische Mitarbeit: Cassandra Fumi; Dramaturgie: Maria Rößler; Produktionsassistenz: Bec Reid; Photos: Pier Carthew

Takdİr. Die Anerkennung
von Ülkü Süngün
Ein temporäres Denkmal für Theodoros Boulgarides, Michèle Kiesewetter, Habil Kılıç, Mehmet Kubaşık, Abdurrahim Özüdoğru, Enver Şimşek, Süleyman Taşköprü, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar und Halit Yozgat.

Mit Echten singen
On Stage: Tanja Krone, Friedrich Greiling
Backstage: Johanna-Yasirra Kluhs, Eva Lochner, Leonie Kusterer
Mit Texten von: Ulla, Manu, Herr H., Carmen K., Randy, Herr N., Frau M., Eric, Marco, Josi, Kati, Verena, Katja, Antje
Mit Dank an HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, Dresden.

Love, Heteraclub, Grüße aus dem Trainingscamp
von Sibylle Peters
Konzept: Sibylle Peters; Kamera: Ansuman Biswas u.a.; Schnitt: Nils Loefke, Sibylle Peters; Text und Performance: Sibylle Peters, Charlotte Pfeifer, Ansuman Biswas, Nina Klöckner, Nils Loefke, Simon Mantei, Maik Reif, Michael von Schönberg, Bakary Trawally, Eidglas Xavier.

www.impulsefestival.de

 

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