Es reicht, ein Arsch zu sein

von Esther Slevogt

8. Juni 2021. In den aktuellen Debatten um Macht, Strukturen und ein anderes künstlerisches Arbeiten wird ja jetzt immer viel auf dem Genie herumgehackt. Was ist das, was im Theater brüllt, hurt und menschenwürdiges Arbeiten verhindert? Das Genie! Es benutzt sein Ausnahmetalent als Vorwand für missbräuchliches Verhalten. Durch seine außerordentliche Begabung befördert es außerdem Ausschluss: Exklusion statt Inklusion.

kolumne 2p slevogtIn Zukunft sind alle begabt, habe ich neulich in einem Zukunftsentwurf für das Theater gehört. Die Herausforderung bestehe künftig darin, Ausnahmetalente zu integrieren. Sie sollen nicht mehr vergöttert werden, aber doch ihre besonderen Ideen einbringen. Ganz davon abgesehen, dass ich in meinem bürgerlichen Kritiker*innenleben Genie und Ausnahmetalent im Theater gelegentlich ziemlich vermisse, beunruhigen mich solche Vorstellungen. Ich befürchte: Wenn alle begabt sind, ist es am Ende keiner mehr.

Ist es außerdem wirklich so, dass in den gegenwärtigen Strukturen die sogenannten Genies (also Ausnahmebegabungen) die Verwerfungen produzieren? Niemand brüllt, hurt oder benimmt sich daneben, weil er oder sie ein Genie ist. Dafür reicht es nämlich aus, schlicht ein Arsch* zu sein. Mir ist auch nicht bekannt, dass irgendein Theaterskandal der jüngeren Zeit von einem Genie ausgelöst worden ist. Im Gegenteil. Deswegen möchte ich dafür plädieren, das Wort aus der Debatte zu streichen. Es staubt, mufft und beschreibt keine gegenwärtigen Realitäten.

Gegen die göttliche Ordnung

Doch bevor er archiviert wird, kann es nicht schaden, einmal daran zu erinnern, dass der Geniebegriff ursprünglich ein Kampfbegriff gegen Macht und ihren Missbrauch war: gegen die Macht des Adels nämlich, der seinen Herrschaftsanspruch mit dem Gottesgnadentum begründete. Seine Macht kam dieser Vorstellung zufolge direkt von Gott und konnte von irdischen Mächten deshalb nicht angefochten werden. Dem hat das aufstrebende Bürgertum einst mit dem Genie frech die Figur des Künstlers gegenübergestellt und dessen Begabung als das eigentliche Gottesgnadentum behauptet. Vom Selbstbewusstsein, das diese Vorstellung einmal vermittelte, erzählen bis in unsere Gegenwart die palastartigen Bauten, die für die Kunst errichtet worden sind.

Heute brauchen wir keine Schlösser mehr, weil der Adel kein role model mehr ist. Aber das Selbstbewusstsein, dass diese Einrichtungen einmal vermittelt haben, brauchen wir noch immer dringend und es muss auf möglichst viele verteilt werden. Das wird aber nicht durch Zwangsvergesellschaftung oder sozialpädagogische Domestizierung von künstlerischer Begabung erreicht. Begabung ist der Überschuss, aus dem oft das Neue kommt. Begabung leuchtet und steckt zum Denken- und Sehenlernen an. Sie ist nicht mess- und kontrollierbar, fügt sich nicht in Systeme, sondern sprengt sie stattdessen ganz gern. Das macht sie natürlich verdächtig.

 

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. Außerdem ist sie Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt schrieb Esther Slevogt über Abgründe der aktuellen Debattenkultur.

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