Ein Unsichtbarer schlägt zu

von Andrea Heinz

Wien, 8. Juni 2021. Dass Ludwig Wittgenstein auch für popkulturelle Zwecke immer gut zu gebrauchen ist, das wussten Tocotronic schon 1995, als sie sangen: Ich muss reden, auch wenn ich schweigen muss. So ähnlich scheinen sich auch Dead Centre das gedacht zu haben bei ihrer neuesten Arbeit am Akademietheater: In "Alles, was der Fall ist" arbeiten sie mit Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus", und sie reden über das, worüber man nicht reden kann.

Dem Bösen auf der Spur

Wittgenstein kam die Idee zum "Tractatus" angeblich, nachdem er von der Gerichtsverhandlung eines Autounfalls gelesen hatte, bei dem ein Modell zum Einsatz kam, und so geht es auch hier um einen Autounfall: Die sogenannte Amokfahrt von Graz, bei der 2015 ein 26-Jähriger mit einem SUV durch die Grazer Innenstadt raste und dabei drei Menschen tötete und 36 verletzte.

Ansonsten lässt man Wittgenstein hier besser außer Acht: Er dient nur als Stichwort- und Assoziationsgeber. Wer sich mit seiner Philosophie auskennt, wird an einigen Stellen widersprechen müssen, und wer es nicht tut, sollte sich besser ein Buch von ihm kaufen. Aber darum soll es ja auch gar nicht gehen. Worum dann? Ausgehend von der Grazer Amokfahrt versucht der Abend in einer fast schon detektivisch anmutenden Versuchsanordnung zu ergründen, was zu dieser Tat geführt haben könnte; zu verstehen, woher "das Böse" kommen und wie man darüber überhaupt reden könnte, wenn man doch nicht darüber reden kann.

Alles was der Fall ist 2 600 MarcellaRuizCruz uDie Modellbauer Tim Werths und Philipp Hauß © Marcella Ruiz Cruz

Was die Inszenierung sehenswert (und sicherlich auch zur besten, die Dead Centre in Wien bisher vorgelegt haben) macht, ist nicht zuletzt die technische Umsetzung. Zu Beginn sieht man auf der Bühne die leere Bühne, die sich allerdings bald als Projektion herausstellt – am Rande der (echten) Bühne steht Philipp Hauß vor einem abgefilmten Miniaturmodell (Wittgenstein! Die Gerichtsverhandlung!) der Bühne, schiebt eine kleine Philipp-Hauß-Figur, Miniatur-Bäume, einen Papp-Hund und anderes Zeugs darauf herum (Zeugs, das später noch eine Rolle spielen wird) und phantasiert mit dem Publikum darüber, wie man auf dieser leeren Bühne "Macbeth" inszenieren könnte. "Macbeth" nämlich ist der Referenztext, vorgestellt als Stück, in dem es darum geht, "woher das Böse stammt", was jetzt vielleicht auch etwas kurz gegriffen ist, aber gut. Es ist ein großartiger, spielerischer Moment, und fast möchte man sagen: Es ist der beste an diesem Abend.

Der Täter bleibt unsichtbar

Hauß beginnt (er ist kurzzeitig Ludwig Wittgenstein, das gerät aber auch schnell wieder in Vergessenheit), den "Unfall" in Graz nachzustellen, die restlichen Spieler*innen (Alexandra Henkel, Andrea Wenzl, Tim Werths, Johannes Zirner) tauchen mittels Greenscreen-Technik als Opfer im Modell auf. Verschiedene detailgetreu nachgebaute Settings schiebt Hauß dort nun hinein, die Schauplätze der Amokfahrt, das Elternhaus des Täters, das Frauenhaus, in das er seine Frau gejagt hat, ein Wald in Bosnien, von wo er als Vierjähriger mit seinen Eltern vor dem Krieg geflüchtet ist. Er, der Täter, wird zuerst ausgeblendet, es soll ja um die Tat, die Tatsache gehen. Dank grünem Ganzkörperanzug, den er vor dem Greenscreen trägt, wird er in der Projektion unsichtbar, kann aber unter seiner grünen Tarnkappe trotzdem seine Frau angreifen, was natürlich, rein theatertechnisch, ein genialer Move ist.

Alles was der Fall ist 1 600 MarcellaRuizCruz uAuf der grünen Bühne (designed von Nina Wetzel) © Marcella Ruiz Cruz

Immer wieder werden Text und Spielweise mit "Macbeth" verschnitten, die Grenzen verschwimmen mehr und mehr, der Täter wird irgendwann nicht nur sichtbar, sondern zu Macbeth selbst, denn die Frage ist natürlich, wenn man es herunterbricht, in beiden Fällen dieselbe: Wo kommt die böse Tat her, wie kann man sie erklären? Man könnte da jetzt wahnsinnig schön mit und über Wittgenstein diskutieren, der sagt, nur über die Tatsachen der Welt könne man sinnvoll sprechen. Jedoch: Wo verläuft die Grenze zwischen Physik und Metaphysik, hat sich die durch neue Hirnforschung nicht schon längst verschoben, ist ein Gedanke nicht am Ende auch eine Tatsache, über die man sinnvoll sprechen kann? Müsste man alles diskutieren, aber das will der Abend nicht, und muss er ja auch nicht. Er ist eher ein Spiel, als dass er eine*n erkenntnistechnisch großartig weiterbringen würde, aber als assoziationsreiches Spiel ist er durchaus gelungen, nicht zuletzt wegen der 1A technischen Umsetzung (Videodesign: Sophie Lux, Live-Kamera: Mariano Margarit) und der fein dahin schnurrenden Dramaturgie.

Ungutes Gefühl

Nur eines lässt ein ungutes Gefühl zurück: Dass die Eltern und die Frau des Täters, ihre Leben und was sie wohl gesagt oder getan haben könnten, hier so sorglos imaginiert werden. Das etwas Holzschnittartige der Darstellung ist wohl der Logik des Abends geschuldet, macht darin ja durchaus auch Sinn – trotzdem sind es aber lebende Menschen, die sich ihr Schicksal nicht ausgesucht haben und über die nun hier Mutmaßungen angestellt werden.

 

Alles, was der Fall ist
von Dead Centre nach Ludwig Wittgenstein
Deutsch von Anna Opel und Victor Schlothauer
Regie: Ben Kidd, Bush Moukarzel, Bühne und Kostüme: Nina Wetzel, Videodesign: Sophie Lux, Live-Kamera: Mariano Margarit, Sounddesign und Musik: Kevin Gleeson, Licht: Marcus Loran, Dramaturgie: Andreas Karlaganis.
Mit: Philipp Hauß, Alexandra Henkel, Andrea Wenzl, Tim Werths, Johannes Zirner.
Premiere am 8. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at



Kritikenrundschau

Auf "befremdliche Weise packenden eineinhalb Stunden", die den "Schrecken des Humanismus an die Wand" malten, wohnte Ronald Pohl vom Standard (10.6.2021) im Akademietheater bei. Das Kollektiv Dead Centre bemühte sich "um eine raffinierte Übersetzung von Wittgensteins Annahmen ins Sinnfällige. Entwirft nicht auch die Theaterkunst Modelle? Solche, die nur innerhalb ihrer Grenzen funktionieren? An einem klitzekleinen Bühnenmodell nimmt Wittgenstein (Hauß) die zauberhaftesten Verwandlungen vor."

Für Wolfgang Kralicek von der Süddeutschen Zeitung (10.6.2021) ist es "wahrscheinlich" gut, dass Wittgenstein keine Stücke geschrieben hat, denn: "Die 80-minütige Hommage an sein Denken ist ein smartes, aber schon auch etwas trockenes Gedankenspiel. Das Ende ist ernüchternd: Das Modell hat nur gezeigt, was der Fall war – nicht aber, warum."

Die Inszenierung "umkreist die Frage, ob sich mit Hilfe des logisch-analytischen Denkens Mord und Totschlag in der Welt begreifen ließe", so Petra Paterno in der Wiener Zeitung (10.6.2021). Die "besten Momente" entstünden dabei, wenn "Hauß alias Wittgenstein über das Theater monologisiert". Darüber hinaus "vermag der Philosoph bei alldem szenischen Hin und Her" aber "herzig wenig" auszurichten.

Jede Illusion werde im "artifiziellen Metatheater" von Dead Centre "sofort dekonstruiert", findet Thomas Kramar in der Presse (10.6.2021): "Wobei etliche Szenen dennoch intensiv wirken. Etwa der Zoom aufs - und ins - Videospiel, wie es der Amofahrer gespielt hat." Das wirke auch in seinem Willen zur Digitalästhetik wie ein Gruß ans Volkstheater unter dessen neuem Intendanten Kay Voges: "Was die Konkurrenz will, das können wir schon lang!"

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