Heimatkunde mit Höcke(r)

von Sabine Leucht

Mainz, 12. Juni 2021. "18.000 Bunker, Höckerlinien, Stollen, Panzersperren, 3,5 Milliarden Reichsmark, die Hälfte der Staatsfinanzen des Deutschen Reichs. Ein 630 km langes Grenzbefestigungswerk von der Schweiz bis an den Niederrhein." Na, wie heißt das Ungetüm, das heute unter Natur- und Denkmalschutz steht? Ganz ehrlich, die Autorin dieser Zeilen musste es erst nachschlagen und ist zur Geschichtsnachhilfe nach Mainz gefahren.

Mythos und Murks

Dort steht in der neuen Produktion des bewährten Dokumentartheater-Duos Regine Dura und Hans Werner Kroesinger der Schauspieler Vincent Doddema auf der Studiobühne des Staatstheaters und erteilt Absolution: Es sei noch gar nicht so lange her, gibt er zu, dass er sich selbst gefragt habe, ob der "Westwall", oder – im Alliierten-Sprech: die "Siegfriedlinie" – im ersten oder zweiten Weltkrieg erbaut worden sei. 

Eineinhalb Stunden später weiß man nicht alles, aber doch viel über die Abstrusität, mit der Hitler sein Land gen Westen hin abzuschotten und wehrhaft zu machen gedachte. Worüber man wenig erfährt, sind militärstrategische Überlegungen oder warum genau das Ding so ein Murks war und nur so lange hielt wie der Nazi-Mythos der Unbezwingbarkeit. Ohnehin interessieren sich Dura und Kroesinger weniger für den Wall selbst als für die Menschen, die halfen, ihn zu errichten: Mehr als 500.000 waren es von 1938 bis 1940, viele von ihnen Zwangsarbeiter oder arme Bauern der an den Grenzstreifen anschließenden Gebiete. Westwall2 280 Armin Dillenberger Leandra Enders Monika Dortschy Vincent Doddema c Andreas Etter uDie Abstrusität der Geschichte: Armin Dillenberger, Leandra Enders, Monika Dortschy, Vincent Doddema © Andreas Etter

"Westwall" arbeitet sich einigermaßen chronologisch von deren Rekrutierung bis zum Kriegsende voran und dazwischen eher sprunghaft an Verfahren und Instrumentarien ab, mit denen das NS-Regime die eigene Bevölkerung knechtete, überwachte, strafte und schließlich vertrieb. Zwischentitel wie "Disziplinierung" oder "SS-Sonderlager" werden auf herabhängende Banner projiziert, aus einem Verfahren gegen zwei Brüder wird enorm ausführlich zitiert. Sie haben sich zuschulden kommen lassen, über die Betondicke miteinander zu sprechen.

Das alles ist gewohnt detailversessen aus Zeitzeugenberichten, Gestapo-Akten, Tagebucheinträgen, Nazi-Liedgut, Propaganda- und Erbauungsliteratur destilliert – und um die schwere Kost bekömmlich zu machen, werden Gags wie der recht alberne Monolog des Höckers Nummer 33.478, genannt "Höcki" drübergestreut, der seit 83 Jahren in der Region Bergzabern / Steinfeld in der Südpfalz steht und sich fragt, wie es weitergehen soll. Die Antwort darauf gibt Höckis Alter Ego "Björn Höcker" (sic!), der Deutschland eine tausendjährige Zukunft verspricht.

Verkaufsverpackung für den Heimatkunde-Stoff

Derlei eher luftige Intermezzi verleihen dem Abend etwas Anbiederndes, wie man es von manchen Lehrern kennt, die der Strahlkraft ihres Faches misstrauen. Auch das Spiel der vier Akteure hat etwas davon. Mit einem Sofa, das ab und zu gemeinschaftlich umgestoßen wird (und aus ist es mit der Gemütlichkeit!), Nachbildungen besagter auch "Drachenzähne" genannter Höcker, jeder Menge Schaufeln und mit Aktenordnern flankieren Monika Dortschy, Leandra Enders, Armin Dillenberger und Vincent Doddema den Text. Manchmal zupackend und überraschend, öfter aber den Inhalt nur doppelnd oder illustrierend, und dabei lustig alle deutschen Dialekte markierend, als sei das Theatrale die Verkaufsverpackung für den Heimatkunde-Stoff.

Westwall3 560 Armin Dillenberger Leandra Enders Monika Dortschy Vincent Doddema c Andreas Etter uEs ist aus mit der Gemütlichkeit: Armin Dillenberger, Leandra Enders, Monika Dortschy, Vincent Doddema © Andreas Etter

Schlimm wird's, wenn Nazipropagandasprüche extra-ironisch mit szenischen Anführungszeichen versehen werden, damit ja keine Missverständnisse aufkommen, wo Dura / Kroesinger doch eigentlich gerade gut darin sind, Gewissheiten zu zerstreuen. Wo sich die Schauspieler hingegen ohne forcierte Distanzierung auf die Texte einlassen, werden individuelle Schicksale fast wie von selbst exemplarisch. Und überraschenderweise wirkt auch das so simple wie gängige Mittel der Einblendung von Fotos aus der Zeit, die zusammengedrängte Arbeiter zeigen, verhärmt, aber noch erwartungsfroh, hatte man doch Lohn und Brot und die Illusion von Sinnhaftigkeit.

Manch ein Unternehmen hat sich am Westwall eine goldene Nase verdient und manch ein "einfacher Mann" die wie Unkraut aus dem Boden schießenden immer wieder neuen Gesetze und Gängelungen begrüßt. Wenn man (vermittelt über die Schauspieler*innen) hört, wie diese Leute sich über die "Ausländer" (am Bau) und die plattesten Banalitäten aufregen und dabei problemlos die Realität verdrängen, wirkt der Komplex, den der Abend behandelt, plötzlich alles andere als nur historisch.

Was machen wir jetzt mit diesem Wall?

Als der Krieg begann, mussten die Anrainer und kleinen Bauern, die sich für den vermeintlichen Schutzwall krummgearbeitet hatten, binnen einer Stunde die rote Zone räumen und verloren alles. Während die Perspektive der klaren Opfer weitgehend fehlt, nimmt der Abend gerade diese unentwirrbaren Mitläuferseelen in den Fokus und "den hohen Grad an Freiwilligkeit bei der Beteiligung an Taten, deren Amoralität ganz außer Frage stand." Dieses Zitat von Jan Phillipp Reemtsma schreibt Enders an einen der Drachenzähne. Und auch wenn der Abend sein Publikum beileibe nicht überfordert hat, entlässt er es am Ende mit einer Frage: "Was machen wir jetzt mit diesem Wall?" Woran sollte uns dieses Mahnmal erinnern, das sich die Natur gerade zurückholt? Hausaufgabe für alle!

 

Westwall
von Regine Dura
mit Texten von Armin Dillenberger, Vincent Doddema und Leandra Enders
Uraufführung
Regie: Hans Werner Kroesinger, Ausstattung: Ronja Bendel, Viktoria Schrott, Musik und Sounddesign: Tim Schmutzler, Video: Florian Kuster, Licht: David Neumann, Dramaturgie: Jörg Vorhaben.
Mit: Monika Dortschy, Leandra Enders, Armin Dillenberger und Vincent Doddema.
Premiere am 12. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-mainz.com

 


 Kritikenrundschau

"In vielerlei Hinsicht kann man die Produktion als Beispiel dafür sehen, was in den vergangenen Monaten coronabedingt gefehlt hat: In 90 kompakten Minuten wird Geschichte in einem gemeinsamen Raum vergegenwärtigt – zum besseren Verständnis unserer Zeit," schreibt Johanna Dupré in der Mainzer Allgemeinen Zeitung (14. Juni 2021).Als "Stunde in mahnender Heimatkunde" hat die Produktion bei der Kritikerin starke Eindrücke hinterlassen. Die Szenen, die sich dem Schicksal dieser Zwangsarbeiter im Konzentrationslager Hinzert (Hunsrück) und dem NS-Verfolgungsapparat widmen gehören für Dupré zu den intensivsten des Abends, "auch dank des Schauspiel-Ensembles, aus dem nicht zuletzt Ensemble-Neuzugang Leandra Enders hervorragt."

Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura sei eine informative und facettenreiche Inszenierung gelungen, so Hannegret Kullmann im SWR2. In ihrer "vielstimmigen Inszenierung" machen sie aus Sicht der Kritikerin die Auswirkungen des Mammut-Projektes auf alle Beteiligten deutlich: "Zwangsarbeiter*innen, rekrutierte 'Fremdarbeiter*innen' und die lokale Bevölkerung, begegnen sich beim Bau des Westwalls auf unterschiedliche Weise, wie auch die ins Stück einbezogenen Archiv-Dokumente belegen."

 

 

 

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