Vertrackte Theatralitäten

Von Leonardo Flamia

15. Juni 2021. Besonders betroffen von den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, waren die Reaktionen des Theaters in Uruguay auf die Einschränkung vielfältig. Einerseits forderten verschiedene Gruppen und Vereinigungen vom Staat eine materielle Entschädigung dafür, nicht arbeiten zu dürfen, was in einer Reihe von Initiativen im öffentlichen Raum resultierte. Andererseits experimentierten viele Theatermacher:innen damit, ihre künstlerische Arbeit an die technischen Möglichkeiten anzupassen. Ein besonders gutes Beispiel war hier die Sala Verdi, ein städtischer Kulturort in Montevideo, der verschiedene Arten künstlerischer Antworten auf die Pandemie förderte und produzierte.

Bis August 2020 waren die Vorstellungen komplett ausgesetzt. Dann wurden die Theater wieder eröffnet, allerdings mit reduzierter Platzzahl – zum Nachteil der kleineren Theater. Als die Infektionszahlen im Dezember 2020 exponentiell zunahmen, wurden die Grenzen und die Theater erneut geschlossen, insbesondere die öffentlichen Theater von Montevideo wie das Verdi.

Beispiel 1: "Dos hermanas"

"Dos hermanas" (Zwei Schwestern) ist eine theatrale Serie aus vier Episoden, die im Juni 2020 auf dem Youtube-Kanal der Sala Verdi ausgestrahlt wurde. Zu sehen war sie auch bei mehreren Festivals, 2021 zum Beispiel in den virtuellen Ausgaben des Santiago Off (Chile) und der Temporada Alta in Lima (Peru). Das Stück wurde für zwei Schauspielerinnen geschrieben, die sich auf Distanz befinden und virtuell miteinander kommunizieren. Im Grunde handelt es sich um einen Austausch zwischen zwei Schwestern. Eine von ihnen ist in Rio de Janeiro, die andere in Montevideo, und während sie sprechen, dringt ein Fremder in das Haus einer der beiden ein. Die Dialoge werden von den Zuschauer:innen aus der subjektiven Perspektive einer der Figuren wahrgenommen. Aber es gibt auch andere Kameras, die den Schauspielerinnen erlauben, "beiseite" zu sprechen, also eine typisch theatrale Konvention zu nutzen.

Theaterbrief Uruguay 2021 06 Dos hermanas 1 560 ClaudiaSanchez uLeonor Chavarría in "Dos hermanas" © Claudia Sánchez

Bei der Live-Ausstrahlung der Serie findet die künstlerische Situation synchron zur Rezeption des Publikums statt. Es gibt zwar weder einen gemeinsamen physischen Raum, noch einen physischen Raum, in dem sich das künstlerische Team trifft. Aber das Ereignis findet live statt, auch wenn die Aufführung nur durch die technischen Mittel zugänglich ist. Obwohl die Vorstellung auch aufgenommen und später abgespielt werden könnte, entschied sich die Sala Verdi gegen die Aufzeichnung und für die digitale Live-Situation.

Cyborg-Theater im Cyberspace

Auf diese Weise erscheinen Ressourcen wie Webcams, Zoom, Skype usw. als "Prothesen", um einen neuen theatralen Raum zu definieren, einen "Cyberspace", wenn man den Gedanken des spanischen Philosophen Fernando Broncano folgt. In "Die Melancholie des Cyborgs" formuliert Broncano, dass die Menschen mit ihren Werkzeugen und Prothesen auf dialektische Weise Cyborg-Wesen sind, die ihre Umwelt anpassen, um sie zu bewohnen. Die Prothesen werden nach einem Prozess des Unbehagens, in dem die Menschen sich an sie gewöhnen müssen, in den Cyborg eingebaut. Schließlich werden die Prothesen absorbiert und in den Körper und die Kultur integriert, wodurch neue Bedürfnisse sowie neue Möglichkeiten entstehen, die Umwelt zu modifizieren.

Broncanos Konzept lässt sich aufs Theater während der Pandemie übertragen. Diejenigen, die das erschaffen, was wir Theater nennen, formulieren gerade dessen Grenzen neu und modifizieren es, indem sie sich auf technologische Errungenschaften stützen. So schaffen sie ein "Cyborg-Theater", das im Cyberspace stattfindet, im Internet und auf unseren Mobiltelefonen.

Beispiel 2: "Pecados capitalistas"

Im Rahmen des Festivals Temporada Alta de Montevideo, das seit sieben Jahren in der Sala Verdi stattfindet, wurde im Februar dieses Jahres "Pecados capitalistas" (Kapitalistische Sünden) der Regisseurin und Dramatikerin Marianella Morena aufgeführt. Die im Rahmen der siebten Ausgabe des Temporada Alta Festivals in der Sala Verdi gefilmte Inszenierung ist eine Serie von sieben Begegnungen zwischen jeweils einem Journalisten, einem Vertreter der Partei- und Gewerkschaftspolitik und einem Künstlerduo, welche die üblichen Grenzen von Interviews verwischt.

Theaterbrief Uruguay 2021 06 pecados capitalistas cecilia egiluz 1 560 Gustavo Castagnello u"Pecados capitalistas" von Marianella Morena. Mit Cecilia Eguiluz (Interviewte), Agustín Pardo (Musiker), Lucía Trentini (Schauspielerin), Antonio Ladra (Journalist)© Gustavo Castagnello

Der argentinische Theoretiker Jorge Dubatti schreibt, dass Theatralität "eine Bedingung der Möglichkeit des Menschlichen ist, die in der menschlichen Fähigkeit besteht, den Blick des Anderen zu organisieren, eine politische Optik oder eine Politik des Blicks zu produzieren". Die Theatralität ist älter als das Theater, aber das Theater führt zur Theatralität hin, und das ist es, was es von all den anderen Theatralitäten – rituellen, kommerziellen, sportlichen usw. – unterscheidet, die vor ihm existierten: "die körperliche Metapher, die Fiktion, die Welt parallel zur Welt, die Konstruktion aus dem Körper eines Universums mit anderen Regeln".

Auf der anderen Seite argumentiert der argentinische Regisseur und Dramatiker Ricardo Bartís: "Die Politik versteht, dass es in der Kunst des Theaters und besonders in der Kunst des Schauspiels nicht so sehr auf die Wahrheit des Gesagten ankommt, sondern auf das Recht, es zu sagen (…). Wie kann es sein, dass gewisse politische Akteure, die eigentlich nicht wahrgenommen werden, plötzlich – mit dem Beginn einer Image- oder Werbekampagne – wahrgenommen werden? So wie gewisse Schauspielerinnen oder Schauspieler, die dank des Fernsehen vorübergehend als soziale Vorbilder fungieren? Weil es sich um reine Schauspieltechniken handelt. Es kommt nicht so sehr darauf an, was gesagt wird, sondern wie man dabei wirkt."

Schauspiel auf vielfachen Ebenen

Seit der Antike haben Politiker auf die Fähigkeit zurückgegriffen, den "Blick ihres Publikums" zu organisieren. Sie haben immer aus einer spezifischen Theatralität heraus gehandelt, wie Jorge Dubatti betont. Aber die Neuheit, von der Ricardo Bartís spricht, besteht darin, eine Theatralität der Hochstapelei zu nutzen, indem Politiker auf Schauspieltechniken zurückgreifen, um sich aus dieser Fiktion heraus zu konstruieren.

In "Pecados capitalistas" liegt zwar mit der schon im Titel angedeuteten Parallelität zwischen der Kapitalsünde als besonders schwerwiegendem Fehler und dem Kapitalismus als sozialem System, das diese Fehler verschärft, ein anspielungsreiches Reflexionsfeld vor. Dass aber die Schauspielerin und Sängerin Lucía Trentini zusammen mit dem Musiker Agustín Pardo auf derselben Bühne steht, auf der das Interview stattfindet, macht die Sache noch komplizierter. Denn Trentini, die die Interviews mit "Cambalache" von Enrico Santos Discépolo eröffnet und mit "Tienes que decidir" von Liliana Felipe schließt – zwei politisch aufgeladenen Liedern –, mischt sich auch sonst von ihrer fiktiven Warte aus in den journalistischen Austausch ein. Mit ihren Liedern kommentiert, be- und hinterfragt die Schauspielerin den Interviewten, etwa wenn sie singt "Du hast mich betrogen, du hast mich belogen" oder "Ich kann nicht mehr". So ergeben sich besonders unangenehme oder emotionale Momente, je nachdem, wie der Interviewte reagiert.

Theaterbrief Uruguay 2021 06 pecados capitalistas cecilia egiluz 4 560 Gustavo Castagnello uLucía Trentini in "Pecados capitalistas" © Gustavo Castagnello

Diese Mischung der theatralen Ebenen vervielfacht die Bruchstellen: Eine fiktive Figur tritt mit einem Politiker in den Dialog, der einen Teil der Gesellschaft "repräsentiert", auf den Brettern der Sala Verdi, mit dem leeren Parkett im Hintergrund. Die Zuschauer:innen folgen dem Austausch über einen Youtube-Kanal und beobachten den leeren Raum im Hintergrund, in dem sie sich eigentlich befinden sollten. Andererseits läuft der Politiker Gefahr, dass seine "Performance" "zur Schau gestellt" wird, dass sein Sprechen substanzlos erscheint, als bloßer "Schein" entlarvt wird, als Fiktion, die vorgibt, "Realität" zu sein, aber diesem Anspruch nicht standhalten kann.

Ein Schlüsselmoment der Aufführung ist, wenn Trentini die Bühne verlässt und, in der Mitte des Publikumssaals sitzend, zum Interviewer singt: "Was du machst, ist reines Theater, gut geprobte Falschheit, einstudiertes Simulakrum" ("Puro teatro" von La Lupe). Jenseits der mehr oder weniger wiederkehrenden Kritik an der "Falschheit" politischer Diskurse werden hier die Grenzen der Theatralität verwischt. Mit ihren Liedern greift Morena die Überlegungen von Dubatti und Bartís auf und verflicht sie derart, dass beim Aufdröseln nicht klar ist, auf welcher Seite "Realität" und auf welcher "Fiktion“ steht.

"Dos hermanas" und "Pecados capitalistas" sind Beispiele für die Hybride und neuen Sprachen, die angesichts der Pandemie-Umstände und dank technischer Ressourcen entstanden sind. Sie werden die Pandemie sicher überleben.

(Übersetzung: Georg Kasch)

 

Dos hermanas
Text: Anthony Fletcher. Regie: Claudia Sánchez. Darstellerinnen: Leonor Chavarrìa (Montevideo) und Florencia Santángelo (Rio de Janeiro). Musik: Silvia Meyer. Produktion: Kashmir Production Company / Sala Verdi

Pecados capitalistas
Idee und Regie: Marianella Morena. Besetzung: Schauspielerin: Lucía Trentini, Musiker: Agustín Pardo, Journalist: Antonio Ladra. Gestaltung: Ivana Domínguez. Produktion: Thamara Martínez / Sala Verdi.

salaverdi.montevideo.gub.uy

 

Theaterbrief Uruguay Leonardo Flamia 560 LauraSandoval u© Laura SandovalLeonardo Flamia ist Journalist und Theaterkritiker der Wochenzeitung Voces. Außerdem unterrichtet er Mathematik in der Sekundarstufe. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der UDELAR. Daneben belegte er Kurse und Workshops über Film- und Theaterkritik bei Manuel Martínez Carril, Miguel Lagorio, Guillermo Zapiola, Javier Porta Fouz und Jorge Dubatti. Außerdem nahm er an Seminaren und Konferenzen über Theater, Musik und bildende Kunst teil, die u.a. von Hans-Thies Lehmann, Coriún Aharonián, Gabriel Peluffo, Luis Ferreira und Lucía Pittaluga koordiniert wurden. Zwischen 2006 und 2010 arbeitete er als Redakteur der Zeitschrift Guía del Ocio. Seit 2010 ist er Mitarbeiter der Wochenzeitschrift Voces. Außerdem hält er Vorträge über Theaterkritik und zeitgenössische uruguayische Dramaturgie u.a. am Instituto Universitario CLAEH, Teatro Solìs, Universidad ORT und EMAD.

 

Dieser Beitrag entstand in einer Kooperation zwischen dem Internationalen Forschungskolleg "Interweaving Performance Cultures" der Freien Universität Berlin (Redaktion: Clara Molau, Antonija Cvitic) und nachtkritik.de (Redaktion: Georg Kasch, Elena Philipp). Bislang in der Reihe veröffentlicht sind Theaterbriefe aus Argentinien (8. März 2021), Chile (29. März 2021) und Ägypten (29. April 2021).

 

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