Outing des Ausnahmezustands 

von Simone Kaempf

Berlin, 16. Juni 2021. Fremden Menschen ist man ja schon länger nicht mehr richtig nah gekommen. Es sei denn durch Folien- und Plexiglas-Schutzwände. So auch im Foyer des Maxim Gorki Theaters. Plastikbahnen trennen die kleine Spielfläche rundherum von einem ab, so dass Schauspieler Dominic Hartmann richtig nah ranrücken kann. "Ihr wollt etwas spüren, jaaa? Die Intensität wollt ihr haben?", raunt Hartmann und tigert wie im Käfig an den Scheiben entlang. Oder offenbart "Ich bin der state of fucking exception. Endlich sehen wir uns einmal" und nimmt einen mit kajal-betonten Augen direkt ins Visier, näher und eindringlicher als man es gerade gewohnt ist. 

Großreinemachen ist angesagt

Distanz-Schrumpfung ist hier erklärtes Ziel, und Hartmann monologisiert sich in pointierten Textsplittern durch die Identitäten schwieriger Zeiten: Französische Revolution, Napoleon, Lincoln-Ära, George W. Bush, Weimarer Republik, Hitler, und ja auch Corona. Denn auch das ist ein Ausnahmezustand. "Oder doch alles ein wiederkehrender Normalzustand?", fragt Hartmann fast triumphierend und doch mit anpackendem Gestus. Ein Besen liegt auf dem Boden wie ein Mahnmal dafür, dass irgendwer ja mal die Geschichte durchkehren und großreinemachen muss. 

allesunterkontrolle2 560 c Ute Langkafel MAIFOTO. uMit dem Besen der Geschichte: Dominic Hartmann © Ute Langkafel MAIFOTO

"Alles unter Kontrolle" hat Regisseur Oliver Frljić seinen Abend am Maxim Gorki Theater benannt, der die Zuschauer in Zehner-Gruppen auf einen Parcours durchs Haus führt. In den Gängen blendet Stroboskoplicht und eine Lautsprecherstimme beruhigt mantramäßig, dass alles unter Kontrolle sei. Aber schon dieses ständige Wiederholen suggeriert natürlich genau das Gegenteil. Die sechs Spielstationen ähneln Käfigen, von Bühnenbildner Igor Pauška wie das Filmset einer "Law and Order"-Doku gebaut, und auch die Gänge zwischen Stationen wollen mit den Tretgittern ganz klar eines sein: Gänge eine Gefängnistrakts. 

Eine Theaterbespielung in Parcoursform ist nicht gerade dankbar und eher ein Unterhaltungsformat. Aber Frljić' ist sich dafür nicht zu schade, schafft nicht nur ein überraschendes Setting, sondern lotet zusammen mit dem Gorki-Ensemble auch gewinnbringend den Grenzbereich aus zwischen Zelle und Schutzraum, Gefahr und Sicherheit, Realität und Täuschung. 

Hölle der Repräsentation

Wie bei einem Verhör sitzen sich Maryam Abu Kahled und Emre Aksızoğlu gegenüber, es geht um Juliano Mer-Khamis, Gründer des Freedom Theatre in Jenin und den Mord an ihm. Aber auch ganz theaterselbstreferenziell darum, ob der Wunsch, auf der Bühne sich selber zu spielen, nur ein falscher Versuch von Kontrolle ist – Einlassungen mit eindeutiger Gorki-Handschrift, die von Aksızoğlu sogar ironisch kommentiert werden: "We are both trapped – this is the hell of representation".

Maryam Abu Khaled, Emre Aksızoğlu in Alles unter Kontrolle VONOliver Frljić & ENSEMBLEREGIEOliver FrljićBÜHNE/KOSTÜMEIgor PauškaDRAMATURGIEJohannes KirstenMUSIKDaniel RegenbergIm Verhör: Maryam Abu Khaled, Emre Aksızoğlu © Ute Langkafel MAIFOTO

Lea Drager und Abak Safaei-Rad wiederum spielen zwei geisterhaft stumme Frauen, ihr Verhältnis bleibt offen, vielleicht sind sie Herrin und Zofe, erst serviert Safaei-Rad ein Glas frische Milch, dann erdolcht sie die, der sie eben noch diente. Und Kinan Hmeidan erzählt mit Pappbildern und Pappfiguren seine Reise, die von Damaskus an die Münchner Kammerspiele und dann ans Gorki führte. Das ist mehr Comic und jedenfalls kurzweilig, eine Verschnaufpause, bis der Abend eine überraschende Volte nimmt.

Kurz vor Ende begrüßt einen nämlich Mehmet Yılmaz in einer Küche, teigknetend und in Schürze fasst er die Inhalte des Abends noch einmal zusammen und lässt die Stationen noch einmal Revue passieren. Sein Auftritt ist komisch, sein Frageton gefährlich suggestiv und Zweifel säend: "Haben sie alles gesehen? Erinnern sie sich? War das die Wirklichkeit? Wurde es Wirklichkeit, weil sie es gesehen haben?"

Bin ich im Fernsehen?

Auf großen Monitoren laufen dazu Bilder von einem selber, mitgeschnitten aus Überwachungskamera-Perspektive auf der ersten Station des Abends, ein minutenlanger Film, der entstand ohne davon auch nur irgendetwas etwas gemerkt zu haben. Die Überrumplung sitzt, aber ist das jetzt schon Kontrollverlust, wie Yılmaz suggestiv darlegt? Das wäre eine übertriebene Behauptung. "Alles unter Kontrolle" beschert einem am Ende ein unerwartetes wie erfreuliches Bild: man selber während man Theater schaut, stehend, derzeit noch mit FFP2-Maske. Keine Täuschung, sondern eine höchst willkommene Überraschung und Draufgabe am Ende dieses Theaterparcours, dessen Form noch eine Folge der Pandemie sein mag, aber umso mehr draus macht.

 

Alles unter Kontrolle
von Oliver Frljić & Ensemble 
Regie: Oliver Frljić
Bühne/Kostüme: Igor Pauška, Dramaturgie: Johannes Kirsten, Musik: Daniel Regenberg.
Mit: Maryam Abu Khaled, Emre Aksızoğlu, Lea Draeger, Dominic Hartmann, Kenda Hmeidan, Kinan Hmeidan, Abak Safaei-Rad, Hanh Mai Thi Tran, Mehmet Yılmaz.
Premiere am 16. Juni 2021 
Dauer: 1 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.gorki.de


Kritikenrundschau

Für Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (18.6.2021) ist dieser Abend „so etwas wie der intelligentere kleine Bruder der Tigerkäfig-Aktion" vom Zentrum für politische Schönheit und im Ganzen ein "Aufklärungsstück der Finsternis". Der "Verlust an Macht über den Raum, über die eigene Rolle sowie die der Spieler, vor allem aber die stechenden Blicke zurück sind erst einmal das am meisten Verstörende an diesem intensiven 70-Minüter. Er evoziert einen Zustand der Verunsicherung und des Misstrauens, den man aus der Ausnahmezeit der Pandemie nur zu gut kennt und der hier noch einmal angeheizt wird wie im Schmelztiegel."

Den "stärksten Auftritt des Abends" hat Ulrike Borowczyk von der Berliner Morgenpost (17.6.2021) Dominic Hartmann erlebt. Denn dort werde das Publikum "ausgetrickst" und letztlich in eine "starke Pointe" verstrickt (die in dieser Kritikenrundschau aus Spoiler-Gründen nicht ausgeführt wird).

"Frljić nimmt die Themen in den Blick, packt sie in diese transparente Box, lässt seine Spieler*innen damit umgehen und überlässt die Haltungsfragen ganz dem Publikum. Das dürfte also, geprägt durch die je eigene politische und auch ästhetische Voreinstellung, sehr unterschiedliche Performances sehen", schreibt Tom Mustroph in der taz (18.6.2021). Der Abend sei "ein szenisch ambitionierter Versuch, vorpandemische wie auch durch die Pandemie zugespitzte Machtkonstellationen aufzuzeigen. Auswege sind nicht in Sicht. Spürbar wird vor allem das Unbehagen am Wollen, alles in den Griff zu kriegen, und jedem und jeder den adäquaten Platz im Repräsentations- und Seinsspektakel zuzuweisen."

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