Stichwort Terrorismus

von Joseph Hanimann

Paris, 16. Juni 2021. Gern hätte man dem neuen Stück von Marie NDiaye im Titel ein klärendes Komma gegönnt. "Berlin, mein Junge" – als mütterlich zärtliche Bemerkung zum Kind bei der gemeinsamen Ankunft am Sehnsuchtsort. Oder als Seufzer der Eltern über die Abreise des Sohns in die fremde Stadt. Oder als verzweifelter Ruf an den Moloch: Berlin, gib mir den Sohn zurück! Für die vom Berliner Flughafen aus im Taxi durch die endlos langen, schnurgeraden Mietskasernenalleen fahrende Marina – "welch furchtbare Stadt!" – ist es nichts von all dem. Und doch zugleich alles ein bisschen.

Von der Stadt verschluckt

Marina kommt im Stück der französischen Autorin, die selber zehn Jahre in Berlin gelebt hat und 2009 für ihren Roman "Drei starke Frauen" den Goncourt-Preis erhielt, aus der französischen Kleinstadt Chinon nach Berlin, um nach ihrem Sohn zu suchen. Wie viele andere Jugendliche ist er von dieser Stadt, in welcher "die nächtlichen Feste kein Ende und die moralischen Urteile keinen Platz haben", angezogen und verschluckt worden. Seit sechs Monaten gab er kein Lebenszeichen mehr.

Garcon1 560 Hélène Alexandridis Jean Louis Fernandez u Eine Mutter auf der Suche: Hélène Alexandridis © Jean Louis Fernandez 

Rüdiger, ein einsilbig verschlossener Berliner Frührentner, der Marina für ihren Aufenthalt ein Zimmer seiner Wohnung vermietet, will ihr beim Fahnden helfen und lenkt sie auf eine falsche Fährte. Dass der Junge offenbar insgeheim einen Terrorakt vorbereitet, verschweigt er ihr. Marinas Gatte Lenny ist derweil in Chinon geblieben und betreibt dort zunächst verdrossen schweigend die gemeinsam gegründete Buchhandlung, das Lebensglück des Paars, bevor er ebenfalls nach Berlin kommt. NDiayes Stück ist zugleich ein Thriller und ein Schauermärchen zum Thema des verlorenen Sohns.

Berlin, ein Spiel

Stichwort "Terrorismus", hatte der Regisseur und Chef des Straßburger Nationaltheaters, Stanislas Nordey, zur Autorin gesagt, als er bei ihr dieses Stück in Auftrag gab. Sie ist aber alles andere als eine Spezialistin des Aktualitäts- und Thesentheaters. Die Themen entwickeln sich bei ihr nicht aus dem Kopf, sondern aus den Figuren. Und die gewundenen Wege der Sprache, über welche Rüdigers graues Berlin mit dem ständigen Krähen der Vögel auf dem Dach des Corbusierhauses für Marina allmählich Farbe bekommt, versteht Nordey mit seiner knappen Regieführung geschickt nachzuzeichnen. Wenn die Figuren ihre Wortwechsel zunächst als mehrstimmige Monologe mehr erzählen – "…sagte ich mir", "…antwortete er" – als in der Gegenwart spielen, stehen sie verloren auf einem angedeuteten Berliner Stadtplan wie auf einem Spielbrett.

Garcon2 560 Dea Liane Hélène Alexandridis Claude Duparfait Jean Louis Fernandez uIn Sorge: Dea Liane; hinten: Hélène Alexandridis, Claude Duparfait © Jean Louis Fernandez

Im Hintergrund lässt der Bühnenbildner Emmanuel Clolus im Rhythmus der Spielzüge Schwarz-Weiß-Fotos der Stadt vorbeiziehen. Marinas Ablegen des Mantels in ihrem Zimmer, ein plötzlicher Blick, ihre Hand auf Rüdigers Schultern und all die sonstigen Gesten werden da zu Ereignissen, als hätten plötzlich die Spielregeln gewechselt. In der hellen Gegenwelt der Buchhandlung von Chinon hingegen, wo die farbigen Buchrücken auf den langen Regalen eine glückliche Endgültigkeit des Lebens vortäuschen, tut sich zwischen Lenny und Esther, seiner Mutter, ein neues Drama auf.

Schlimme Befürchtungen

Haarscharf steuert dieses am Ende, wenn der Gatte selber in Berlin aufkreuzt, an der Psychoklamotte vorbei. Lenny appelliert, von Laurent Sauvage als ein aus der Fassung geratener idealistischer Kleinbürger gespielt, an die elterliche Verantwortung und rudert hilflos zwischen seiner Mutter, seiner Frau, seiner Buchhandlung und seinem Sohn. Die schuldlose Bestimmtheit, mit welcher Hélène Alexandridis‘ Mädchenstimme in der Rolle Marina ihn nach Chinon zurückschickt, weil Rüdigers Berlin auch für sie eine Ausflucht aus dem provinziellen Buchhändlerglück geworden ist, weist die Handlung aber in eine ganz andere Richtung. Blindlings geht die Frau dem Berliner Sonderling, von Claude Duparfait großartig verzappelt als ein etwas fieser Schlingenleger gegeben, auf den Leim und scheint doch das Unheil zu ahnen. "Wach über mir", bittet sie ihn. Und man befürchtet Schlimmes für alle.

Vor einem Jahr schon hätte das Stück in Straßburg herauskommen sollen. Der Text liegt bei Gallimard seit 2019 vor. Mehrmals mussten die Proben wegen Covid abgebrochen werden. Das Gastspiel am Pariser Théâtre de l’Odéon ist nun, da auch in Frankreich wieder gespielt wird, zur eigentlichen Uraufführung geworden. In der nächsten Saison erst wird das Stück auf die Bühne des Straßburger Nationaltheaters kommen. In Paris wurde Nordeys gut anderthalbstündige Inszenierung des vielschichtigen Texts eher nachdenklich als stürmisch begrüßt.

 

Berlin mon garçon
von Marie NDiaye
Uraufführung
Regie: Stanislas Nordey; Künstlerische Mitarbeit: Claire ingrid Cottanceau; Bühnenbild: Emmanuel Clolus; Licht: Philippe Berthomé; Ton: Michel Zurcher; Kostüm: Anaïs Romand; Video: Jérémie Bernaert.
Mit: Hélène Alexandridis, Claude Duparfait, Dea Liane, Annie Mercier, Sophie Mihran, Laurent Sauvage.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Premiere am 16. Juni 2021

https://www.theatre-odeon.eu