So endet das Zeitalter des Menschen

von Georg Kasch

Leipzig | online, 18. Juni 2021. Vielleicht ist es ja so: Wir sind gar nicht die Zuschauer:innen im Welttheater. Sondern die Pflanzen. Am Schauspiel Leipzig jedenfalls stecken sie in kleinen Gläschen mit Erde, die wiederum auf einem Regal- oder Tisch-Konstrukt stehen, das mit seinen Stufen wirkt wie ein Amphitheater auf Stelzen. Kabel gibt es auch, die – vermeintlich – in die Pflanzen hineinlauschen. Also hören wir Laute, halb Kind, halb Tier, die an Steven Spielbergs Außerirdischen E.T. erinnern. Anrührend! Kein Wunder, dass Sandra Hüller sie gegen Ende streichelt und mit ihnen spricht.

Die Geburt des Schmetterlingsmenschen

Vielleicht tut sie das aber auch, weil die Pflanzen einstmals Teil unserer Nachfahren sein könnten. In "The Shape of Trouble to Come" spürt das FARN. collective nämlich künftigen, posthumanen Lebensformen nach. So erzählt Hüller von den verschiedenen Generationen des zukünftigen Schmetterlingsmenschen Camille aus Donna Haraways Buch "Unruhig bleiben" von 2018: Mehr und mehr verwandelt sich dort Camille in einen Hybrid, lässt sich sogar Schmetterlingsorgane implantieren, um sich der Umwelt besser anzupassen – statt sich selbst für die Krone der Schöpfung zu halten wie der Mensch im Anthropozän.

1 560 shapes of troubles .jpgSandra Hüller als Schmetterlingsmensch © Andreas Schlager

Das FARN. collective um Schauspielerin Sandra Hüller und Regisseur Tom Schneider hat bereits Wolfgang Herrndorfs "Bilder deiner großen Liebe" zu Musiktheater verdichtet und sich später mit "Die Hydra" vor Heiner Müller verneigt. Jetzt finden sie in Haraways Gedanken eine Zukunftsutopie: ein friedliches, myzelhaftes Verschmelzen des Menschen mit seiner Umwelt. Tiere halten war gestern – mit ihnen zu etwas Neuem verwachsen könnte die Zukunft sein.

Zunächst allerdings geht Hüller ebenfalls mit Haraway in die Vergangenheit, die lange als männliche Geschichte von Phallus-Symbolen als Ausweis von Kultur erzählt wurden: Aber warum sollten Speer und Schwert wichtiger sein als Dinge, in die man etwas tun kann? Behältnisse zum Beispiel, ohne die Sammeln sinnlos ist?

Neue Verbindungen von Mensch und Natur

Szenisch erinnert das ein wenig an die musikalische Verschrobenheit eines Christoph Marthaler oder eines Thom Luz: Hüller vorm alten Tonbandgerät, aus dem Bach klingt, und Christoph Müller (aus dem Leipziger Ensemble), der sich um die Pflanzen kümmert. Das alles vorm roten Bühnenvorhang, über den die Projektion eines Hundes geistert (noch so eine Haraway-Referenz). Dann aber öffnet sich die Bühne: Michael Graessner tut in seiner Konzertkleidung kurz so, als spiele er Klavier, bevor er das Instrument zerlegt. Dann ziehen er und die anderen in weißen Kitteln die Erde, die in der Mitte der Vorderbühne lag, auf der gesamten Bühnenfläche zu geschwungenen Formen – wie, ja, Farne, bevor sie sich völlig entfaltet haben.

ShapeofThings4 1200 Andreas Schlager uDas FARN. collective spielt auf der von Michael Graessner eingerichteten Bühne im großen Haus des Schauspiels Leipzig. Zentral auf dem Bildschirm: Sandra Hüller © Andreas Schlager

So endet die anthropozentristische Welt. Aus den Boxen dröhnt es wild; Moritz Bossmann und Sandro Tajouri gehen einmal mit einem Apparat umher zwischen Minensucherät und Geräuschesammler, als spürten sie den neuen Verbindungen von Mensch und Natur nach. Hüller schlüpft derweil in herrliche Gewänder von Kathi Maurer, halb Deko-Elemente, halb Naturformen wie Netzstruktur und Gespinst.

Hüller hinreißend

Natürlich ist Sandra Hüller hinreißend wie immer – man möchte ihr stundenlang dabei zuhören, wie sie mit Haraway und Ursula K. Le Guin über einen anderen Blick auf die Welt, die Wissenschaft und die Verbindung von Mensch und allen anderen Wesen (den "critters", wie es bei Haraway heißt) spricht. Schön auch, dass sie selbst den Vorwurf bringt, das alles könne man auch als Hippie-Quatsch und für eine elitäre Denkweise halten. Um sich dann in Gedanken doch weitervorzutasten. Was soll denn eigentlich sonst kommen, wenn wir es nicht schaffen, uns mit der Natur zu verbünden?

3 560 shapes of troubles .jpgSandra Hüller in dem von Kathi Maurer entworfenen Schmetterlingskostüm © Andreas Schlager

Allerdings zerfasert der kurze Abend zusehends und verliert das Gefühl für treffende Bilder. Einmal sitzt Christoph Müller allein auf der weiten Bühne und singt Foreigners "I want to know what love is". Zart hallt das nach, wird im Refrain sanft von einer Art Chor verstärkt. Dazu strahlen all die Monitore, Leuchttafeln und -schriften, die sich durch unseren durchtechnologisierten Status quo zitieren, derart kalt, dass man sich denkt: Stimmt, Liebe ist hier kaum zu finden. Ist nur so überdeutlich wie das wärmende Lagerfeuer, um das sich alle auf der Bühne scharen. Apropos Technik: Bei der Livestream-Premiere (die reale folgt einen Tag später) zeigt der etwas hektische Schnitt, die wild zoomende Kamera, der oft viel zu enge Bildausschnitt, wie kompliziert und unbefriedigend Online-Theater eben auch sein kann. Schade.

Am Ende, immerhin, bleibt das schöne Bild von Sandra Hüller im Gespräch mit den Pflanzen. Und die Vision einer praktikablen Archäologie, wie es heißt. Für die braucht es nur ein Großelternteil und ein Enkelkind – und den offenen Blick auf die Natur.



The Shape of Trouble to Come
Ein posthumanes Ritual
von FARN. collective
Regie: Tom Schneider, Bühne: Michael Graessner, Kostüme: Kathi Maurer, Musik/Live-Musik: Sandro Tajouri, Moritz Bossmann, Sounddesign: Christian Döpping, Dramaturgie: Tobias Staab, Georg Mellert, Lichtdesign und Video: Matthias Singer, Licht: Carsten Rüger, Theaterpädagogische Betreuung: Amelie Gohla.
Mit: Sandra Hüller, Christoph Müller, Moritz Bossmann, Michael Graessner, Sandro Tajouri.
Premiere am 18. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de


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Kritikenrundschau

"Während die Bildsprache auf der Bühne konventionell bleibt und sich in Blumenerde, einem lodernden Lagerfeuer und Videoschnipseln erschöpft, gelingt Hüller vor allem in ihrem Anfangsmonolog der ein oder andere tiefere Satz: 'Die Toten oder die Ungeborenen – was ist weiter von uns entfernt?'", schreibt Simon Strauß in der FAZ (21.6.2021). "Aber im Ganzen wirkt das 'FARN'-Ritual doch vor allem als wohlständiges Nebenprodukt eines selbstzufriedenen Theaterbetriebs, der es sich eben leisten kann, statt einer Geschichte zusammengesuchtes Grünzeug zu präsentieren."

"Zu viel ist disparat und schwammpilzig in dieser vollgepackten Naturkunst-Performance", schreibt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (21.6.2021). "Am schönsten ist es, wenn Christoph Müller zwischendrin mal sehr ruhig und sehr, sehr langsam den Song 'I want to know what love is' von Foreigner sprechsingt. Ja, wir müssen alle Phyto- und Geolinguisten werden, müssen die Sprache der Pflanzen und Felsen lernen, eingehen auf oder in die Natur. Aber ohne Liebe geht es nicht."

"So gut der Abend auch gemeint ist, an manchen Stellen fehlt eine Regie, die auf den Punkt kommt. Das ist schade, stört dann aber auch nicht weiter", so Stefan Petraschewsky von MDR Kultur (21.6.2021). "Sandra Hüller und ihren Mitspielern gelingt ein Abend, der durch die Trauerarbeit, die hier zu sehen ist, wirklich berührt. Fast möchte man sagen: Wenn es mit dem Ende der Menschheit so ist wie hier, ist es ja gar nicht so schlimm."


"Jedes Bild verweist auf Metamorphosen jenseits unserer Denkschablonen, letztlich auf Möglichkeiten, Utopien", schreibt Dimo Rieß in der Leipziger Volkszeitung (21.6.2021). Doch auch das Farn Collective "wage" nicht, "die Utopie einfach mal so stehen (zu) lassen". Ohne "postdramatische Ironie" gehe es offenbar auch im "Utopietheater" nicht. Dennoch stehe im Ergebnis "trotz gedankenstrotzender Monolog-Last" ein "sinnlicher" und "eingängiger" Abend.

 

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