Don Juan - Schauspiel Stuttgart
Frauenheld an den Fäden
von Steffen Becker
Stuttgart, 19. Juni 2021. Ein Don Juan ist ein Mensch, der sich nicht darum kümmert, ob andere seine Handlungen gutheißen. Ein Don Juan begeistert sie, saugt sie aus und entsorgt sie, wenn er keine Freude mehr an ihnen hat. In diesem Sinne ist auch Achim Freyer, Regisseur des gleichnamigen Molière-Stücks am Schauspiel Stuttgart, ein Don Juan.
Charakter mit vielen Gesichtern
Achim Freyer: 87 Jahre, Legende, das Publikum liebt ihn. Aber es war ihm keine Hilfe. Vor der Premiere hatte das Schauspiel aufgerufen: "Im Rahmen seiner Inszenierung bittet Achim Freyer um Ihre kreative Mithilfe. Schicken Sie uns Fotografien, Zeichnungen, Grafiken oder Skulpturen von Ihrem Don Juan." Die Einsendungen sollten im Foyer und eventuell im Stück zu sehen sein. Achim Freyer trat sie in die Tonne. Dem Großmeister der fantastischen Bildwelten genügten all die Star-Assoziationen der Einsender nicht. Im Gegensatz zu Molières Don Juan wird Freyer für seine Frevel am Ende nicht gegrillt, sondern hüpft umjubelt über die Bühne. Das Publikum verzeiht, weil es sich sehr gut unterhalten gefühlt hat. Von einer Atmosphäre, als hätte Tim Burton einen Kostümfilm in Schwarz-Weiß inszeniert. Von einem Don Juan, der eine Puppe mit wechselnden Pappgesichtern aus groben Pinselstrichen ist. Die Figur an den Fäden soll die Fantasie anregen – entsprechend einem roten Faden im Schaffen des Künstlers.
Spielen gerne: Matthias Leja und die Puppen-Projektionsfigur Don Juan © Monika Rittershaus
Freyers Don Juan ist eine Projektionsfläche. Zwischen den Handlungen fällt die Puppe zu Boden und in ihre Einzelteile, die für die Auftritte neu aufgezogen werden. Don Juan spricht nicht. Seine Gegenüber verleihen ihm zusätzlich zur eigenen Rolle ihre Stimme: Aus der Puppe spricht nicht der legendäre Frauenheld, sondern die jeweilige Sehnsucht derjenigen, die Don Juan begegnen. Am deutlichsten macht das die Inszenierung in der Darstellung der Donna Elvira. Sie verließ für Don Juan das Kloster, um dann verlassen zu werden und ihn nun den "Zorn einer beleidigten Frau" spüren zu lassen. Freyer dreiteilt die Rolle – Paula Skorupa spricht Molière, Celina Rongen synchron das Libretto von Mozarts Adaption "Don Giovanni" und Josefin Feiler / Esther Lee singen die zugehörige Arie. Im Mischmasch ist eine eindeutige Botschaft Elviras kaum mehr rauszuhören, die Fantasiemaschine springt an: Kann es sein, dass ein Teil Elviras um die Liebe trauert, ein anderer Rache für verletzte Ehre will und der dritte froh ist, aus dem Kloster raus und in Freiheit zu sein?
Wunschtraum einer Spaßgesellschaft
Freyer bietet viel Raum für Interpretation und sein Bühnenbild unterstreicht es mit mehreren horizontalen Ebenen, die von weißen Stoffbahnen blitzschnell voneinander getrennt werden können. Auch die Figuren geben unter Freyers Führung keine Deutung vor. Der Regisseur trimmt sie ganz auf die Theatralik einer altmodischen Commedia dell’Arte. Den SchauspielerInnen – allen voran Matthias Leja als Diener und Erzähler Skanarell – machen die barocke Attitüde, das Herumtoben in Pumphosen und die Überzeichnungen sichtlich Spaß. Dem Publikum versagt es jedwede Fokussierung auf psychologische Details. Regisseur Freyer geht es ums Grundsätzliche – die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit ohne jegliche Rücksichtnahme, die ein Gewissen, die Vernunft oder eine Obrigkeit verlangen. Für Freyer ist Don Juan der beneidete Wunschtraum einer kapitalistischen Spaßgesellschaft.
Grenzenlose Zerstreuung: Celina Rongen, Valentin Richter © Monika Rittershaus
Zu Beginn fliegt ein Flugzeug und schippert ein Kreuzfahrtschiff durch die Kulisse. Symbol für grenzenlose Zerstreuung, der wir uns so gerne weiter ohne Reue hingeben wollen. Achim Freyer präsentiert uns diese Sehnsucht nach einem konsequenzenfreien Handeln ohne Wertung. Und kokettiert mit dem Tabubruch, der damit einhergeht: Das Bauernmädchen Charlotte lässt sich in Molières Text allzu gerne verführen, um eine Madame zu werden.
Wer den Fame sucht
Bei Freyer wickelt sich Celina Rongen selbst in die Don Juan-Puppe ein und führt die Hand zu ihrer sexuellen Belästigung an Brust und im Schritt. Selbst schuld, wer den "Fame" sucht. Den Regisseur kümmert es nicht weiter, ob dies in Zeiten von #MeToo akzeptabel ist. Er ist drüber weg, 87 Jahre alt, eine Legende. In Stuttgart zeigt er, dass er sich frei fühlt. Wie ein Don Juan (an Puppenfäden).
Don Juan
Lustspiel von Molière, Übersetzung von Friedrich Samuel Bierling
Regie, Bühne und Kostüme: Achim Freyer, Mitarbeit Regie: Sebastian Sommer, Mitarbeit Bühne: Moritz Nitsche, Mitarbeit Kostüm: Wicke Naujoks, Licht: Felix Dreyer, Jörg Schuchardt, Korrepetition: Angela Rutigliano, Dramaturgie: Klaus-Peter Kehr, Ingoh Brux.
Mit: Matthias Leja, Paula Skorupa, Josefin Feiler (Gesang), Esther Lee (Gesang), Felix Strobel, Valentin Richter, Klaus Rodewald.
Puppenspiel: Léa Duchmann, Helga Lázár, Adeline Johanna Rüss, Anniek Vetter.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause.
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
Keine Sekunde sei langweilig, immer sei was los, schreibt Arnim Bauer in der Ludwigsburger Kreiszeitung (21.6.2021). Freyer nutze alle Möglichkeiten, seine Geschichte prall und spannend zu erzählen. Quicklebendig, einfallsreich und vielfältig sei diese Aufführung, gekonnt bringe sie relevante Fragen und beste Unterhaltung unter einen Hut. "Matthias Leja beweist hier erneut, dass er in dem ohnehin spitzenmäßigen Stuttgarter Ensemble, das Intendant Burkhardt C. Kosminski zusammengeholt hat, ein Primus inter Pares ist, ein Darsteller, der jeder Rolle zu etwas Besonderem macht."
Etwas abgegriffen wirke der alte Trick des Spiels im Spiel, ebenso wie die Commedia dell’arte-Anklänge und die auf Ulk getrimmten Kostüme mit zweierlei Schuhen an den Füßen, schreibt Adrienne Braun von der Stuttgarter Zeitung (21.6.2021). "Und doch ist es ein kluges Spiel, das er (Freyer, d. Red.) hier inszeniert hat, indem er die verschiedenen Figuren Don Juans Texte mitsprechen lässt." Braun schließt: "Freyers Timing ist perfekt, grandios, wie er beiläufige Motive elegant durchspielt und aus den holzschnitthaften Figuren dann doch ein feines Beziehungsgeflecht spinnt. So eröffnen sich hinter der reinen Spiellust und dem zweifellos etwas traditionellen Figurenspiel durchaus spannende Interpretationsspielräume."
"Molières Stück über den Frauenhelden, einer nicht erst seit #MeToo eher ausrangiert scheinenden Figur, bekommt in Freyers Regie nochmal einen neuen Dreh", schreibt Otto Paul Burkhardt von der Südwest Presse (21.6.2021). Freyer manövriere seinen 'Don Juan' clever um alle #MeToo- Klippen herum ins Offene und setze den Akzent auf Molières Freigeist-Variante. "Damit deutet die Regie auch augenzwinkernd auf all jene, die diesen Don Juan erdacht, erwünscht oder verteufelt haben. Stark gespielt und famos inszeniert, mal slapstickhaft, mal hintergründig."
Freyer bleibe seinen über Jahrzehnte erprobten ästhetischen Mitteln treu. "Aber er ist auch ein Routinier, der um Timing und Rhythmus weiß und Motive elegant und unprätentiös platziert. Das ist allerfeinstes Handwerk", schreibt Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (22.6.2021). "Selbst wenn dieser 'Don Juan' keine neue Bildsprache bieten mag, erweist sich Achim Freyer doch als wacher Kopf, der sich schlicht weigert, wieder nur das Stereotyp fortzuschreiben, das hier männliche Täterschaft und dort weibliche Opfer sieht. Freyer redet der kritischen Selbstreflexion und einer konsequenten Differenzierung das Wort."
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Zweifach staunt man /über/ die Magie des Puppenspiels in dieser Inszenierung. Das erste Mal irgendwann bald, wenn man die reine Puppennatur der Hauptfigur erkannt hat, der niemand einen menschlichen Körper, aber mehrere Gesprächspartner:innen die Stimme leihen, auf gekonnte und wunderbare Weise (und bewusst kunstlos verhallt von einer Theatermaschine). Und das zweite Mal, wenn man sich mit dem Fehlen des gerade zur Hölle Gefahrenen (?! ich mag mich irren, @Steffen Becker) in der Schlussapplauskür abgefunden hat, gerade weil die Lücke anstelle dieses vorher so selbstverständlich präsenten und vielstimmigen Wesens plötzlich groß erscheint - und wenn dann die Spielerinnen des großen Puppenkörpers zum Applaus aus dem Bühnenhimmel einschweben, noch nicht ganz von den Marionettenfäden getrennt.
Den ganzen Abend hindurch war die Rede vom "Himmel" bereits akustisch markiert, nun ist die Utopie konkretisiert, aber nicht profanisiert. Don Juans Beseelung /durch/ die Magie des Puppenspiels wird - wenn auch Beseelung mit der unreinsten Seele dieser Handlung - dadurch nicht weniger glaubhaft. (Auch zur vorigen gelungenen Stuttgarter Molière-Inszenierung, Sonnenbichlers "Menschenfeind" im Februar 2019, gehörte ja eine Bühnenhimmel-Bespielung, dort durch schwebende Musiker.) -
Neben der wie oft bei Freyer wunderbar integrierten Bühnenmusik wäre
die Sprache zu erwähnen: Bierlings Prosa-Übersetzung ist ausgesprochen reizvoll und wird auf höchstem Niveau geboten - notwendige Grundlage der dreifachen, auch sprachlichen Verwirrung der Elvira-Figur. Matthias Leja in der Molière- und Sympathieträgerrolle des Skanarell bietet einmal mehr ein unaufdringliche großes Kabinettstückchen sprachlicher und physischer Komik.
Freyer gelingt hier - besser als im unbefriedigenden "Goldenen Topf" des Sommers 2019, dessen Puppenmasken letztlich das Enstehen und Leben der E.T.A.H.-Charaktere behindert hatten -, die Verbindung großer inhaltlicher Texttreue mit darstellerischer Verfremdung. Molières Komödie kann nichts besseres passieren, sie lebt so.
Bierlings (anachronistische, aber ausreichend alte und hohe) Feudalsprache aus der Mitte des 18. Jh. (samt ihres in der Inszenierung der Charlotte/Pierrot-Szenen lustig ausgeschöpften Dialektpotentials) eignet sich hervorragend der Verfremdung, trägt sie doch die Möglichkeit zur Ironisierung und Persiflierung unmittelbar in den Floskeln.
So lebt das Ganze als Theater und fühlt sich ...neu an.
dickes lob an die darstellenden, die sich dennoch wacker durch den abend spielen/ singen!
Mit 75 Minuten Spielzeit incl. einer witzigen "Pause", in der man die SchauspielerInnen hinter der Maske erleben kann, ist das Stück wirklich angenehm überschaubar inszeniert - man könnte aus dem Stoff ja auch eine mindestens dreistündige, psychologisch exakt austarierte Aufführung machen - und es sicher auch schon irgendwo gemacht worden. Nun hat Corona erzwungen, schnell auf den Punkt zu kommen. Und manchmal ist weniger mehr.