Alarm! Es brennt!
von Sabine Leucht
Frankfurt am Main, 20. Juni 2021. Wenn Thomas Bernhards "Theatermacher", der Staatsschauspieler Bruscon, ein "Fallensteller" ist, wie er und sein Schöpfer behaupten, dann ist ihm die Gastwirtsfamilie, die Herbert Fritsch in Frankfurt auf die Bühne schickt, darin mindestens ebenbürtig. Lange sind der Wirt des "Schwarzen Hirschen", seine Frau und seine Tochter nur um den "Staatsschauspieler" herumgeschwänzelt, der in Berlin und Zürich Faust und Mephisto gespielt haben will und nun die Provinz betingelt. Devot und ameisenemsig war dieses Schwänzeln, während die Schauspielergesichter unablässig comichafte Gefühlszustände zwischen Staunen, Überraschung und Entsetzen modellierten. Wie das oft so ist, wenn Übertreibungskünstler und Quatsch-Poet Fritsch inszeniert.
Mit Slapsticknummern rund um eine Klappleiter und eine Dinner for one-hafte Stolperfalle hat er den faktischen Monolog bei seinem Frankfurt-Einstand auf knapp 150 Minuten gedehnt. Und mit immer mehr und immer wieder anders im Raum verteilten Stühlen. Stuhlreihen, Stuhlchaos, Stuhltürmen, Stuhlgebirgen: Alles da! Dass die Stühle (oder die meisten von ihnen) aus Papier sind, merkt man erst, als Wolfram Koch einen unter sein Sakko stopft.
Licht aus!
Eine Weile fragt man sich schon, wo Fritsch hin will mit diesem Stuhlverschiebebahnhof rund um die endlosen Tiraden dieses Obergrantlers, der an dem Wirtshaus, in dem sein Jahrhundertstück "Das Rad der Geschichte" gezeigt werden soll, kein gutes Haar lässt. Ebenso wenig wie an dem 230-Seelen-Kaff Utzbach mit seinen Hitlerbildern, dem Schweinekobengestank und dem Feuerwehrhauptmann, der ihm vielleicht nicht erlauben wird, für fünf Minuten das Notlicht auszumachen. Denn gleich nachdem in seinem Stück Lady Churchill ihren Mann Winston verlässt und Stalin seine Unterschrift zurückzieht, muss es unbedingt stockfinster werden. Das ist essenziell für den Erfolg dieses Stückes, der aber wohl eh nicht zu retten ist, denn seine Frau und die Kinder, die mit ihm auf der Bühne stehen, sind katastrophal minderbegabt. Sagt er, das Genie, das vor allem genial im Andere-Kleinmachen ist und im Ausmachen von Schuldigen für das eigene Scheitern.
Man fragt sich, ob "Der Theatermacher" rund 36 Jahre nach seiner Uraufführung gerade eine Mini-Konjunktur hat, weil der genialische Menschenschindertypus Marke White-Male-Regie-Tyrann endlich ernsthaft auf dem Prüfstand steht. Das politisch anzupacken, ist jedoch Fritschs Sache nicht. Auch sein Dekonstruktionswerkzeug lässt er stecken, und die einzige Tiefenerkundung findet jenseits des kaum bearbeiteten Textes statt und zwar dergestalt, dass Frau Bruscon in dem Loch im Bühnenboden versinkt, in das die anderen nur treten. Irina Wrona spielt das erbarmungswürdige Wesen, dessen Dauerhusten neben den eingebildeten Krankheiten des misanthropisch-misogynen Maestro keinen Raum einnehmen darf, als blasse Untote mit gefühlt zwei Worten Text. Wie man überhaupt bei Theatermachers blassen Teint und Kostümfarben im Beige-Grau-Spektrum trägt.
Blitz und Donner
Die Wirtsfamilie dagegen stellt die knallige Brummkreisel-Fraktion im Fritsch’schen Figurenkosmos. Die Damen tragen über Reifröcke gespannte Dirndlstoffe, knallrote Apfelbäckchen und Riesenschleifen im Haar. Und vor den Wutpfeilen des Theatermachers, denen Wolfram Koch den gebremsten Schwung eines Menschen mitgibt, der sich um die Wucht ihres Einschlags längst nicht mehr schert, prallt die ganze Menagerie ängstlich zurück. Bald stieben alle aus- und umeinander wie Moleküle eines Stoffes, dessen Dichte sich verringert. Und weil es dabei donnert und blitzt, kann man sich diesen Theatermacher auch als Schlechtwettermacher denken.
Fritsch tut also an einem neuen Ort, was er überall am besten kann: Das Theater auf eine Weise feiern, die sich selbst nicht so ernst nimmt – in diesem Fall allerdings mit einem Stoff, der die Bedeutung des Theaters bis zur Lächerlichkeit verabsolutiert. Sein Spezi und Lookalike Koch, aber auch die Schauspieler, die seiner Theaterfamilie (noch) nicht angehören, haben sichtlich Spaß dabei, den Witz aus den Worten zu kitzeln, sie in Bewegungen zu übersetzen und auch Kurz- und Kürzestsätzen die Wucht und Tonalität einer Arie zu geben. Ja, ein bisschen geht dabei die Bernhard'sche Bosheit flöten, aber dafür brütet etwas Unheimliches in dem Raum, den Fritsch und sein Bühnenbild-Assistent ohne rechte Winkel zusammengebaut haben, aus Wänden, die wie Billig-Furnier geädert und von schwarzen Geweihen behangen sind. Der Tanzsaal im "Schwarzen Hirsch" ist ein Ort wie das Wirtshaus im Spessart, an dem es aus dem Bühnen-im-Bühnen-Portal schreit und an dem der Wirt sich gerade rechts hinter die Kulissen geruckelt hat, da zuckelt er links wieder heraus.
Hungrige Flammen
Kostümbildnerin Victoria Behr hat Sebastian Reiß und Sebastian Kuschmann identisch ausstaffiert, und als die beiden gegen Ende stumm in zwei Türrahmen stehen, schauen sie plötzlich bedrohlich aus. Schon zuvor haben die Wirts-Kreisel-Wesen etwas Geheimnisvolles mit den Stühlen gemacht, die sich jetzt wie von Geisterhand bewegen. Man hört Dinge zu Bruch gehen und sieht hungrige Flammen hinter den Wänden tanzen. Es brennt auch im Stück. Aber sind hier zwischen den Flammen nicht auch tanzende Wirtsmenschenschatten zu sehen? Ist der "Schwarze Hirsch", ist Utzbach eine Falle? Ist alles Theater-im-Theater-im-Theater, vom Wirt und den Seinen inszeniert? Oder vom Leben? Das sind so Fragen, die Fritschs assoziationsoffene Liebeserklärung an die Bühnenkunst zu stellen erlaubt, aber nicht beantwortet. Und wer gerade in diesen Zeiten denkt: Hach, eine Liebeserklärung ist doch genug!, geht trotzdem mit dem Bernhard'schen Stachel nachhause: "Das Theater", schreibt der, "ist eine Jahrtausende alte Perversität, in die die Menschheit vernarrt ist" – "weil sie in ihre eigene Verlogenheit so tief vernarrt ist". Und auch zur Verlogenheit sagt dieser Abend beherzt: Ja.
Der Theatermacher
von Thomas Bernhard
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Mitarbeit Bühne: Andrej Rutar, Kostüme: Victoria Behr, Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Wolfram Koch, Irina Wrona, Fridolin Sandmeyer, Annie Nowak, Sebastian Kuschmann, Sebastian Reiß, Anna Kubin, Tanja Merlin Graf.
Premiere am 20. Juni 2021
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Hier melde sich das Theater mit Karacho zurück, "in all seiner ihm von Thomas Bernhard attestierten Abgeschmacktheit und faszinierenden Verlogenheit, mit all seiner ihm von Herbert Fritsch abgerungenen (und auch aufgepfropften) Beeindruckungsvirtuosität", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (22.6.2021). Wolfram Koch als Theatermacher lege sofort eine ausgefeilte Slapstick-Begrüßungs- und Verbeugungsnummer hin und "ist auch sonst ganz Schmierenkomödiant. Von Anfang an das höchste Bewegungs- und Erregungslevel, das volle Theaterübertreibungsprogramm". Die Familie, Kleindarsteller in Bruscons selbst verfasster Menschheitskomödie, sei ein Haufen Lemuren wie aus einem Zombiefilm. Fazit: "Fehlte einem anfangs wegen sofortiger Klamaukkünstlichkeit Bernhards ätzender Biss, greift zunehmend der Theaterkerkermechanismus, den Fritsch im Auge hat: Es gibt kein Entkommen."
Es habe eine eigene Bösartigkeit, "wie gleich doppelt über das Bruscon’sche und das Bernhard’sche Theater hinweggerast wird. Ein Klamauk des Entsetzens", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (22.6.2021). Wolfram Koch spiele virtuos, elastisch, genialisch komödiantisch. Eine krasse Entscheidung sei, den am weitesten am Rand des Bruscon’schen Utzbacher Universums stehenden Figuren am meisten Farbe und auch Schminke zu geben. "Andererseits hat Koch so Gelegenheit, im Zentrum eines unermüdlichen Gewimmels und Getues in Ruhe seine Rolle zu spielen. Ein unpathetischer, moderner, maßvoll cholerischer Bruscon. Wie immer bleibt offen, wie missraten sein 'Rad der Geschichte' nun ist." Größenwahn aber als anstrengendes und gefährliches Terrain bekomme auch hier seinen Platz.
Wolfram Koch entziehe sich mit durchaus sehenswertem Slapstick dem Irrsinn und der Todessehnsucht seiner Figur, scheibt Sandra Kegel in der FAZ (22.6.2021). "Besondere Deutungsvorschläge lässt Fritsch in seinem 'Theatermacher' nicht erkennen. Was er hingegen aufbietet, ist ein Ensemble voller Spiellust, was – ob mit Text (wie Wolfram Koch im Dauermonolog) oder fast ohne (wie alle anderen) – nach Monaten des Theaterentzugs durchaus eine Botschaft ist."
"Ein Künstlerdrama, aber eins mit schweren Gewichten: Wo Vernon Subutex nur den Lebensstil der Rockstars nachahmt und ganz damit zufrieden ist, brennt in Herrn Bruscon ein höllischer Unsterblichkeitswahn", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (24.6.2021) in einer Doppelkritik mit Thomas Ostermeiers Inszenierung von "Vernon Subutex", übertitelt mit "So was sieht man nicht bei Netflix". Wolfram Koch spiele Bruscon als Akrobaten, als einen vom Kunstzwang gejagten Halsbrecher und Hasardeur, den Gefangenen seiner inneren Zustände. "Alles, was bei Bernhard in den Seelen und Köpfen der Figuren stattfindet, wird von Herbert Fritsch, der auch das Bühnenbild schuf, nach außen, ins Räumliche verlegt, ja umgestülpt."
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