Hundert Jahre Schwangerschaft

von Martin Thomas Pesl

Wien, 23. Juni 2021. Ein Tag ist dazugekommen, und aus Frühling ist Spätsommer geworden. Bei den Wiener Festwochen war als erste Produktion des thailändischen Theatermachers Wichaya Artamat 2019 das leise Geschwisterdrama "Three Days in May" zu sehen. Die im Zuge der aktuellen Festivalausgabe präsentierte Folgearbeit, wenn auch nicht Fortsetzung, trägt den Titel "Four Days in September" (alternativ: "The Missing Comrade").

Eine Gruppe von Freund:innen albert herum. Einer erzählt Geschichten, eine ist schwanger, die andere schiebt sich immer nur nach Partys einen Gummibauch unter den Rock, um von der Polizei nicht rausgewunken zu werden. Artamats Spezialität ist es, private, auch triviale Begegnungen auf die Bühne zu stellen und die großen politischen Zusammenhänge dabei sehr laut zu verschweigen.

Gummienten gegen Wasserwerfer

Die muss man einer bunten Zeittafel entnehmen, die im Foyer der Spielstätte brut nordwest aushängt und per QR-Code im Programmheft abrufbar ist. Je tiefer man sich in die zahlreichen Versuche einliest, Demokratie und Freiheit in der stolzen thailändischen Monarchie herzustellen, desto mehr der schier unendlichen Anspielungen an diesem Abend erkennt man.

4 Days 5472 560 Nurith Wagner Strauss uViele Gummitiere auf der Bühne in "Four Days in September" © Nurith Wagner-Strauss

Die beginnen beim Bühnenbild voller verschieden geformter Schwimmutensilien. Mit gelben Gummienten schützten sich Demonstrant:innen der jüngsten Proteste 2020 gegen Wasserwerfer, seither nervt das Symbol allüberall die Regierung. Ein maroder Deckenventilator, der hier praktischerweise auch als Beleuchtungskörper dient, steht wiederum für den König, welcher laut Hymne "unsere Köpfe kühl bewahrt". Diesem "Mr. Fan" huldigen die jungen Leute traditionell im September mit kindlich beherztem "Happy Birthday"-Gesang, um jedes Mal festzustellen, dass er eigentlich erst drei Monate später Geburtstag hat.

Menschen verschwinden

Es ist der 1. September 1990, und am Ende der Szene, in der unter anderem der Sex zwischen Hamster und Ratte vertont wird, verschwindet der Gitarrenspieler Chuan (Jaturachai Srichanwanpen) spurlos – so wie viele Menschen in Thailand, die im Verdacht stehen, aufzubegehren. Bis er – mit Kopfverband und im orangen Mönchsgewand – unerwartet wieder auftaucht, vergehen elf Jahre, aber wie Comicfiguren altern die Freund:innen nicht. Schlimmer noch: Am 11. September 2001 ist Toy (Nualpanod Nat Khianpukdee) weiterhin schwanger.

4 Days 5473 560 Nurith Wagner Strauss uLanger Weg, viele Kämpfe: Im Jahr 2032 endet "Four Days in September" © Nurith Wagner-Strauss

Erst am 19. September 2020, während die Runde auf ihren Handys eine Großdemonstration verfolgt, sieht es kurz so aus, als könnte das Baby endlich kommen. Die Szene, in der alle eindringlich auf Toys Schoß einreden und dabei wilde Rituale vollführen, bildet an diesem Abend einen erfrischenden Höhepunkt anarchischer Doofheit. Das Kind – vermutlich ein Geist, der Toy einst bekniete, Mensch werden zu wollen – bleibt trotzdem drin. Erst am 21. September 2032, 100 Jahre nach der ersten Verfassung Thailands, sieht man, wie es (ein Stoffaffe) in der Runde herumgereicht wird.

Eckpunkte der Geschichte

Dass mit den x Tagen im jeweiligen Monat wichtige Eckpunkte der Historie gemeint sind, wurde in "Three Days in May" gar nicht angesprochen. Diesmal gehen es Wichaya Artamat und sein Ko-Autor Ratchapoom Boonbanchachoke deutlich plakativer an. Obwohl ihre Gruppe For What Theatre als in der Heimat angesehen gilt, werden sie die von den Wiener Festwochen und Institutionen in Belgien, Frankreich und Norwegen koproduzierte Arbeit dort kaum zeigen können. Ohne das Königshaus zu beleidigen (worauf schwerste Strafen stehen), nimmt sich das Team reichlich Narrenfreiheit heraus. Es gilt die Maxime: Agiere so, dass die thailändische Regierung dich gerne verbieten würde.

Die Inszenierung ist dabei erstaunlich "westlich" und hätte in vieler Hinsicht auch am Wiener Volkstheater oder in Berlin am Gorki entstehen können: Wenn etwa das sympathisch quirlige Ensemble atemlos die politischen Ereignisse aus 14 Jahren aufzählt oder als Spieler:innen auf der Metaebene das Stück kommentiert ("Was werden die Leute sagen?" ... "Sehr mutig. Sehr gut. Danke."), muss man unweigerlich schmunzeln, findet es aber auch ein bisschen abgenutzt.

Immerhin wird auf kulturell überforderte Nicht-Thais (also alle) im Publikum Rücksicht genommen: Kommt ein unbekannter Begriff vor, baut die Dramaturgie elegant eine Pause in den Sprechrhythmus ein, um in den Übertiteln die Erläuterung einblenden zu lassen. Derlei Vermittlungsanstrengungen werden dankend angenommen. Man sieht dem runden Abend mit seinem Galgenhumor vergnügt zu, auch wenn man weiß, dass er im Geiste für andere gedacht ist: für diejenigen, die unerschrocken für die Demokratie in Thailand kämpfen.

 

Four Days in September (The Missing Comrade)
von Ratchapoom Boonbanchachoke und Wichaya Artamat (For What Theatre)
Uraufführung
Konzept und Regie: Wichaya Artamat, Bühne und Licht: Pornpan Arayaveerasid, Rueangrith Suntisuk, Laphonphat Duangploy, Piti Boonsom, Kostüme: Nicha Puranasamriddhi, Dramaturgie: Ratchapoom Boonbanchachoke
Mit: Jaturachai Srichanwanpen, Nualpanod Nat Khianpukdee, Saifah Tanthana, Suranya Poonyaphitak, Witwisit Hiranyawongkul, Surat Tamjai Kaewseekram.
Premiere am 23. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

"Ein Abend mit großem Anliegen, der zudem Spaß macht", ist dieser Festwochen-Beitrag für Michael Wurmitzer im Standard (24.6.2021). "Was dieser Abend ersehnt, ist eine stabile demokratische Regierung, wie sie der konstitutionellen Monarchie Thailand seit langem fehlt." Artamat "flicht seine Botschaften in ein buntes Durcheinander ein" heißt es über die politischen Anspielungen im Stück. "Ästhetisch unterscheidet sich das kaum von aktuellem westlichem Theater."

Über eine Uraufführung, für die Artamat "in seinem Heimatland ziemlich sicher bestraft würde", berichtet Nicole Scheyerer im ORF (24.6.2021): "Die Inszenierung beherrscht den Umgang mit Effekten, die auf europäischen Bühnen State of the Art sind. Egal ob Live-Video, Projektionen von Zeitungsfotos und Einspielungen von Demos oder Stroboskoplicht: hier wirkt nichts erzwungen oder vom postdramatischen Theater abgekupfert."

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