Knochenarbeit oder Der Tod und die Mädchen - Nationaltheater Mannheim
Schilli sin carne
von Verena Großkreutz
Mannheim / online, 26. Juni 2021. Das sind drei wahrlich schillernde Maden, sehr gebildet und kreativ: Deprimade, Selfmade und Handmade. Nomen est omen: Die drei sind wortwitzverliebt und immer auf der Kalauer. Es geht Schlag auf Schlag in Vanessa Sterns Theater-Film "Knochenarbeit oder Der Tod und die Mädchen", der jetzt als Auftragswerk bei den Internationalen Schillertagen Mannheim uraufgeführt wurde: unterhaltend, schwarzhumorig, skurril.
In Schillers Schädel
Dass die drei Maden sprachlich hochbegabt sind, hat seinen Grund: Ihre Stubenfliegen-Mama hatte ihre Eier einst ausgerechnet im Schädel des gerade verstorbenen Friedrich Schiller abgelegt. Dort bissen sich die Töchter dann durch, blieben. Womit die drei Maden die einzigen sind, die die Wahrheit wissen über den Verbleib des Dichter-Deetzes. Der Totenkopf, der im Hause Goethe auf blauem Samtkissen ruhte, während der sogenannte Dichterfürst "sich einen wichste und ein Best-Buddy-Gedicht auf Schiller schrieb", lästert Selfmade, war jedenfalls nicht der Schillersche. Der hatte im Gebeine-Durcheinander des Mausoleums auf dem Jakobskirchhof in Weimar seinen Besitzer längst aus den Augen verloren. Für immer. Das wissen die drei schlauen Maden genau: Der Schädel in Goethes Haus stammte von der buckligen Luise, der Hoffrau der Herzogin Anna Amalia. Der Unterkiefer wiederum gehörte einer unbekannten Drittperson. Kurios.
Drei Maden mit Geheimwissen © Dietmar Schmidt
Aber es war eben die Zeit der Phrenologie, der "Schädellehre", als Kopfjäger die Friedhöfe unsicher machten. Die einen befeuert von Totenkult und Heldenverehrung, die anderen, weil sie glaubten, im Schädel etwaiges (männliches) Genie dingfest machen zu können. Nur gestalteten sich die Verhältnisse auf den Gottesackern eben nicht unbedingt phrenologiefreundlich. Also müssen sich die Maden in der Gruft doch sehr wundern, was da um sie herum so alles zu Tage gefördert und wie es zugeordnet wird: Mammutknochen! Schillers Schienbein?
Rundumschlag im Affentempo
Die Erkenntnisse der Phrenologie, die geistige Eigenschaften bestimmten Hirnarealen zuordnete, kennen die drei aber aus dem Effeff. Und sinnieren darüber, was sie so alles mit der Schillerschen Hirnmasse eingesogen haben. Dabei bleiben sie aber nicht stehen. Sie switchen sanguinisch von Thema zu Thema und durch die Weltgeschichte: mokieren sich über den Kapitalismus, unsere Leistungsgesellschaft, über die Unsichtbarkeit, mit der Frauen in unserer Gesellschaft gestraft sind, über die Meno-Pause und Osteoporose. Ein geistreich-witziger Rundumschlag im Affentempo. Es gibt zudem eine etwas zu lange Performance, in der sich Handmade in den stressigen Alltag einer Homo-Sapiens-Frau hineinversetzt: einer Lehrerin, die zwischen Schule und dementer Mutter hin und her hetzt. Zum Schluss geht’s ins Jahr 2030, wenn "Grönland erstmals eisfrei" sein wird. Die drei sind eben unsterblich. Weil Schiller grüne Tapeten liebte. Die waren damals hipp, aber hochgiftig, weil bleibelastet und arsenhaltig. Und Schiller damit kontaminiert. Sie, sagen die Maden, habe das Gift aber unsterblich gemacht.
Wer unsterblich ist, hat viel Zeit: Deprimade, Selfmade und Handmade beim sinnieren © Dietmar Schmidt
Klar, dass für die unmittelbare Wirkung des Films nicht nur das formidabel performende Trio verantwortlich ist, sondern auch die trefflichen Kostüme von Jane Saks: Ruth Mader, Ursula Renneke und Vanessa Stern herself tragen weiße Bademützen und pinke FFP2-Masken (die perfekt zum Maden-Outfit passen), stecken in gestreiften, armlos machenden Schlauchshirts; riesige Federwimpern kleben auf den Lidern. Die drei liegen chillig mal neben-, mal übereinander. Für ironische Kontrapunkte sorgen Schuberts "Tod und das Mädchen", außerdem sein "Ständchen" aus der postum veröffentlichten Sammlung "Schwanengesang" – dem morbiden Thema entsprechend.
Lecker Leber in Portwein!
Ohnehin ist am Ende Schluss mit lustig. Der Lieblingsplatz der Maden, Schillers Ur-Gruft, muss einem Neubau weichen. Aber wohin nun? So sehr sich die drei nach "Leber in Portwein", "geräucherten Lungen" und den "radioaktiv Verseuchten der 80er-Jahre" sehnen ("die haben immer so schön geleuchtet") und Selfmade so gerne mal wieder "einen deutschen Dichter mit Idealen und Freiheitssinn" aufessen würde: Der Trend gehe deutlich in Richtung Ernährungsumstellung. Es gebe ja Alternativen zu echten Leichen, etwa "Schilli sin carne". Sehr erleichternd. Sowie die Info im Abspann: "In diesem Film sind keine Maden zu Schaden gekommen." Danke!
Knochenarbeit oder Der Tod und die Mädchen
Theater-Film von Vanessa Stern
Uraufführung
Regie: Vanessa Stern, Bühne: Eike Böttcher, Kostüme: Jane Saks, Dramaturgie und Kamera: Dietmar Schmidt, Sound: Robin Plenio, Licht: Maika Knoblich, Produktionsleitung: Eva-Karen Tittmann.
Mit: Ruth Mader, Ursula Renneke, Vanessa Stern.
Online-Premiere am 26. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
nationaltheater-mannheim.de
Kritikenrundschau
Vanessa Stern zünde ein feministisch-intellektuelles Pointen-Feuerwerk, so Anna Suckow vom Mannheimer Morgen (28.6.2021). "(B)issig und geistreich" sei dieser Gang durch die "Kultur-(Geschichte)".
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Dementsprechend schweifen sie auch lieber ab: in einer Szene machen sie sich über den Druck auf die Künstlerinnen bei der Programmheft-Produktion des Festivals lustig, sticheln gegen überteuerte Hotel-Raten oder landen bei ihrer Reise durch die Jahrhunderte auch mal bei Shakespeare oder dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die launige Tour der Maden ist durchaus unterhaltsam, hat aber auch einige Längen im Mittelteil. Eine komprimierte Halb-Stunden-Fassung hätte „Knochenarbeit“ noch stärker gemacht.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2021/06/27/knochenarbeit-vanessa-stern-theaterfilm-kritik/