Tausendschön im Taubenschlag

von Michael Laages

Kassel, 10. Juli 2021. Zu Jacob und Wilhelm, den Grimm-Brothers, pflegt die Stadt Kassel ja eine besonders enge Beziehung – die Märchensammler und Grammatiker gingen hier zur Schule und legten hier auch die ersten richtungsweisenden Projekte vor. Dass also dem scheidenden Intendanten am örtlichen Staatstheater ein Werk mit Grimm-Bezug beschert worden ist, passt ganz gut; und überhaupt schließen sich mit diesem Finale für Thomas Bockelmann einige Kreise. Der Hausherr hatte ja vor 17 Jahren schon, bei der Amtsübernahme vom Vorgänger Christoph Nix, die Hausautorin Rebekka Kricheldorf aus Münster mitgebracht; und er blieb ihr treu.

Tief in die Trashkiste

Auch Regisseurin Schirin Khodadadian war ausweislich von Bockelmanns Bilanzbuch quasi von Anfang an dabei. Der finale Kassel-Coup von Kricheldorf und Khodadadian für und mit Bockelmann ist also zum einen ein Dokument gelebter Kontinuität; und eine Art Paukenschlag ist "Der goldene Schwanz" auch – ganz tief hat das Team in die Trashkiste gegriffen, um eines der Allzeit-Highlights aus der Grimm-Sammlung neu zu erzählen.
Kricheldorfs Version vom "Aschenputtel" ist vor allem das Dokument verbrannter Erde aus einigen Jahrzehnten des gescheiterten (und womöglich immer noch scheiternden) Feminismus. Die Fabel bleibt die von Grimm – Familie "Thousandbeauty", also "Tausendschön" im Quak-Sprech total durchamerikanisierter Serien-Titel, hat zwei ziemlich dummerhafte Töchter, die Schwestern "Sis" und "Sista", und dass die beiden Volldeppinnen nicht die Schweine beißen, grenzt an ein Wunder.

DerGoldeneSchwanz3 600 NilsKlingerDaheim bei Familie Thousandbeauty. Von links nach rechts: Judith Florence Erhardt (Sista), Meret Engelhardt (Sis), Jürgen Wink (Dad), Anke Stedingk (Mom) © N. Klinger

Allerdings stammt alles, was sie haben an femininen Erfolgsstrategien auf der Jagd nach dem idealen und wohlhabenden Mann, dem "goldenen Schwanz" eben, von der Mutter – sorry: von "Mom"; ein wenig abgetakelt, aber immer noch sehr sicher, dass Frau sich verkaufen muss, weil Erfolg anders halt nicht zu haben ist. Allerdings gehören ihre Töchter, diese Schreckensschwestern, auch zur "Generation Beleidigt" und beschweren sich zum Steinerweichen über alles und jedes. Was immer an nervigen Diskursen durch die Gegenwart wabert, ist in diesem Kinderinnen-Zimmer versammelt. "Tussitum" siegt.
"Dad" sitzt derweil im Ohrensessel und besteht im Grunde auch nur aus Ohren – Kopfhörer sind wie draufgeschweißt mit Opernmusik drin. Eher beiläufig erfahren wir irgendwann, dass ihm einst die Frau starb, die Oper ganz besonders liebte; die hört "Dad" nun lebenslang. In die Zweit-Ehe mit "Mom" hat er die Tochter mitgebracht, die tatsächlich "Aschenputtel" und nicht etwa "Ashy Tray" oder so gerufen wird: ein kreuzpatentes Mädel, das im Hause hämmert, bohrt und sägt, Leuchtstoffröhren, Kühlschrank, Klospülung und wackelnde Stuhlbeine repariert.

Nicht alles Gold, was glänzt

Weil "Sis" und "Sista" einander im Vorfeld der TV-Einladung zu einem "Meet the Stars"-Event gegenseitig ein bisschen Gift ins Mittagessen (also in die Chipstüte) streuen, muss das patente hässliche Entlein der Superstar "Prinz" besuchen; und den überzeugt sie selbstverständlich durch toughe Schlichtheit – so ein Geradeaus-Mädchen hat dieser Medien-Mann noch nie gesehen. Und während Mutter Tausendschön auf schrillst- und schrägstmögliche Weise an der Wir-kommen-wir-raus-aus-diesem-Dreck-Planung strickt, zeigt Aschenputtels unverstellte Aufrichtigkeit auch beim Prinz starke, aber leider ganz unproduktive Wirkung – als die Heirat mit Aschenputtel endlich verkündet werden kann (und Familie "Thousandbeauty" auf die "windfall profits" hofft, den Beifang, auf all das, was für sie dabei abfallen wird), gesteht der geläuterte Mann, dass er eigentlich nur irgendein "…escu" aus Rumänien ist und die Reichtümer aus den ungeliebten, aber endlosen TV-Serien immer sofort durchgebracht hat: mit Suff, Drogen und Nutten. Golden jedenfalls ist dieser Schwanz schon lange nicht mehr.

DerGoldeneSchwanz2 600 NilsKlingerAnbiederung an eine goldenen Zukunft? Aljoscha Langel (Der Prinz), Rahel Weiss (Aschenputtel), dahinter: Judith Florence Ehrhardt (Sista) © N. Klinger

Da holt "Mom" die Knarre aus dem Schrank.
Aber erschossen werden soll dann eigentlich nur die Erzählern und Begleiterin des lärmenden Spektakels, Frau Taube, eigentlich "Taube & Taube", weil ja auch dem originalen Aschenputtel zwei Tauben helfen beim Erbsen-Sortieren. Zur doppelten Persönlichkeit jetzt muss das führen, weil in dieser Traum- und Zauber-Figur immer alle Positionen und Gegenpositionen aus ein paar Jahrzehnten Feminismus versammelt sind. Ab und zu lässt die Doppel-Taube kluge Bücher auf die dämlichen Damen regnen – aber es nützt nichts. In jeder Hinsicht. Im wilden, wirren Rumgewurschtel voll von verlorenen Frauenbilder sind "Taube & Taube" sicher die beste Erfindung – und immerhin hat "Der goldene Schwanz" ja auch die Auswahljury zur Mülheimer "Stücke"-Sichtung überzeugt. Nur dort war Khodadadians Uraufführungs-Inzenierung schon im Livestream zu sehen; erst jetzt kann sie sich auf der Bühne bewähren. Das ist nicht ganz einfach.

Sis und Sista unter Überdruck

Denn zwar hat Daniel Roskamp eine ziemlich grandiose Bretter-Unterkunft der prekären Sorte auf die große Bühne des Hauses zimmern lassen, mit Doppelstock-Bett für "Sista" und "Sis", Klo auf halber Treppe oben und darüber auch noch einen Taubenschlag als Draht-Verhau in luftiger Bühnenhöhe – aber in diesem großen Bild kann sich im Grunde nur durchsetzen, wer unablässig zetert und schreit. Und das tun denn Schwestern und Mutter auch auf entfesselte Weise, immer unter Überdruck und bis an die Grenzen zum Kreisch-Brei. Bald halb ertaubt, versuchen wir dem ohnehin vom TV-Kauderwelsch durchseuchten Text zu folgen; das ist – wie gesagt – nicht einfach. Das ist auch deshalb ein bisschen schade, weil sich die Autorin ja an immerhin mehreren Jahrzehnten verzweifelt scheiternder Frauen-Geschichte abarbeitet. Das lohnt die Mühe.

Das Ensemble hat (so sieht es aus und hört es sich an) viel Spaß gehabt. Gut so. Viele sind schon fast oder ganz weg aus Kassel, aber zum Beispiel Rahel Weiss und Eva-Maria Keller (Aschenputtel und Doppel-Taube) bleiben. Die versammelte Technik ist zum Schluss mit auf der Bühne; auch Abschiedstränen gibt’s. Und "Der goldene Schwanz" hat auf etwas anstrengende Weise noch einmal von der Ambition erzählt, die Bockelmanns Truppe in Kassel immer bewiesen hat, neben den Routinen des Stadttheaters. Mit dem neuen Ensemble um Florian Lutz folgt nun die nächste.
Alles Gute allerseits!

Der goldene Schwanz
von Rebekka Kricheldorf
Uraufführung
Regie: Schirin Khodadadian, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Ulrike Obermüller, Musik: Katrin Vellrath: Licht Brigitta Hüttmann, Dramaturgie: Michael Volk.
Mit: Judith Florence Ehrhardt, Meret Engelhardt, Eva-Maria Keller, Aljoscha Langel, Anke Stedingk, Rahel Weiss und Jürgen Link.
Premiere am 10. Juli 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de 

 

In unserer Video-Interview-Reihe Neue Dramatik in zwölf Positionen spricht Rebekka Kricheldorf über ihre Poetik und über Komik als Widerstand


 

 

Kritikenrundschau

Kirsten Ammermüller zieht in der Hessischen Allgemeinen (12.7.2021) ein anerkennendes Fazit: "eine gelungene Milieu- und Genderstudie, die nicht nur an der Oberfläche treibt, sondern tief in die Diskussion eintaucht." Klischées würden "zertrümmert" – etwa wenn der Prinz zwar historisch korrekt aber als Anblick dennoch ungewohnt, auf hohen Stöckelschuhen balanciert. "Die Inszenierung von Schirin Khodadadian beeindruckte mit einer differenzierten Betrachtung der Geschlechterrollen und war dabei unterhaltsam und äußerst sehenswert", lobt die kritikerin. Auch das Bühnenbild, welches die Auswegslosigkeit "äußerst gelungen" unterstreiche, findet Lob. "Langer Applaus für eine gelungene Inszenierung", lautet das Fazit.

Leise Einwände gegen die Umsetzung des Textes hegt Mario Graß in den German Daily News (online 12.7.2021, 17:03 Uhr). Die Inszenierung wirke "laut, schrill, temporeich, pointenreich und trashig, womit stellenweise die kluge, subtile Textvorlage verloren geht", befindet der Rezensentaber, lenkt aber ein, dass dadurch "das Publikum bestens unterhalten wird." Lob gibt es für ein "phantastisches, verschachteltes Bühnenbild", "das an Elendsviertel und Hinterhöfe erinnert und die Familie in einem Käfig leben lässt, der jedoch nicht golden ist". "In jedem Fall glänzt an diesem Abend das Schauspielensemble, das spürbar Spaß auf der Bühne hat und diesen auf das Publikum überträgt", resümiert der Kritiker weiter und hebt besonders die "großartige Rahel Weiss" hervor, die hier abermals ihr komisches Talent unter Beweis stelle.

"'Der goldene Schwanz' – falls die Frage aufkommen sollte: ja, dieser Titel ist genauso vulgär gemeint, wie er klingt – führt die Geschichte von Aschenputtel auf ihren nüchternen Kern zurück. Und betrachtet ihn mit einem feministischen Blick, viel Scharfsinn und jede Menge Witz", schreibt Joachim F. Tornau von der Frankfurter Rundschau (14.7.2021). "Kricheldorf, sprachgewandt wie gewohnt, hat ein pointensattes Stück geschrieben, leichtfüßig surfend auf der an Anglizismen und Achtsamkeitsfloskeln reichen Diskurssprache der Gegenwart. Das ist komisch, aber nie hämisch, nie denunzierend."

Kommentare  
Der goldenen Schwanz, Kassel: Unglaublich
Unglaublich! (...)

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Der goldene Schwanz, Kassel: Einspruch
Ich kann diese Kritik in keiner Weise nachvollziehen, es wird mir nicht klar nach welchen Kriterien der Kritiker urteilt - irgendwie scheinen seine persönlichen Erwartungen nicht erfüllt worden zu sein, doch die sollte er eigentlich draußen lassen.
Ich habe einen sehr witzigen, schrägen und klugen Theaterabend erlebt!
Der goldene Schwanz, Kassel: Schmunzeln
Hallo,

habe am 11.07. mir das Stück angeschaut und war sehr zufrieden.
Ich konnte des Öfteren an dem Abend Schmunzeln und Lachen.

Meine Begleitung, welche in den letzten Jahren nicht so oft im Theater war meinte es war etwas zuviel Text, manchmal zu schnell und manchnal auch etwas genuschelt.
Dem letzten Punkt kann ich mich anschließen, gerade wenn die Kombination schnelles und lautes (Schreihen) Sprechen angesagt war.
Der Abend macht sicherlich auch einen Tick mehr Spaß, wenn man sich mit den Theorien des Feminismus etwas auskennt, ist aber kein muss.

Manchmal war die Soundanlage etwas übersteuert und die Nebelmaschine sollte als Nebenrolle auf der Besetzungsliste genannt werden :-)

Ansosnten hatte einfach das Publikum und Schauspieler:innen richtig Bock auf den Abend, eine tolle Atmosphäre.

Hab mich besonders auf Rahel Weiss gefreut weil ich sie aus ihrer Zeit aus Weimar und Göttingen gut in Erinnerung behalten habe.

Ansonsten hat Eva Maria Keller zu Recht Szenen-Applaus bekommen und das ganze Ensemble war einfach Klasse!
Und auch das Vorderhauspersonal war wirklich sehr sehr freundlich.


Vielen Dank für den schönen Theaterabend!
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