Gehirn- und Herzerschütterung

von Andreas Wilink

14. Juli 2021. Dass er evangelisch im Heiligen Köln ist, machte dann doch Sinn. Denn als Protestant in der Diaspora darf Jürgen nicht den kleinen Prinzen im Grimm-Märchen zu Ehren des katholischen Priester-Jubilars spielen. Aus dieser Kränkung, suggeriert Jürgen Flimm eher humoristisch als traumatisiert, wuchs das Streben zur Bühnenkunst. Katholisch jedenfalls ist sein sinnlich barockes, witzgefüttertes Schreiben in "Die gestürzte Pyramide", obgleich bekanntlich auch Dr. Martinus Luther deftiges Ur-Deutsch kanzelte. Und so will einem manches in dem Band eben vorkommen wie ein Tischgespräch des Reformators in fröhlicher Runde, die immer mal wieder von Wehmut heimgesucht wird, wenn der bibelfeste Sprecher nicht nur vieler Kunst-Abgeordneter aus der Rheinischen Republik gedenkt, sondern auch solcher wie der "Generalin" Ruth Berghaus aus Zeuthen am See in der DDR.

Das Register des Sammelbands "Die gestürzte Pyramide", der zum 80. Geburtstag von Jürgen Flimm wieder aufgelegt wurde, reicht von Adenauer, Konrad, bis Zadek, Peter, von Fidelio bis Tristan und Isolde. Jürgen Flimm gibt es nicht billig und macht sich nicht klein. Sein erstes Text- und Fantasiestückchen nennt er "Mein 21. Jahrhundert.". Reale Gestalten, Schauplätze und Erinnerungsspuren mischen sich träumerisch: Brecht, Bois und Brook, Giehse und Gründgens, Artaud und Reinhardt – in den kulturellen Hirnstrom spült auch noch der Fußball-Sport hinein.

Cover FlimmDer 1941 in Gießen zur Welt gekommene Arztsohn ist trotz dieses Geburtsfehlers Rheinländer (und war Intendant am Schauspiel Köln), mehr noch als Hamburger (Intendant am Thalia Theater) oder gar als Revier-Kumpel (Intendant der Ruhrtriennale). Neben Dieter Dorn, Claus Peymann und Peter Stein gehört er zur Generation der Rebellen, die mit den Jahren selbst zu Repräsentanten und Patriarchen wurden. Ja, und zur Umbrien-Fraktion gehört er auch.

Im Kopfkino

Das Biografische ist kurz gefasst: Bombennächte und dann die Amis mit Kaugummi und Tom Mix, Trizonesien, Kinderspiele in Strickhosen und in einer Zeile der Anklang von Celans Todesfuge, was in der flotten Gesamt-Notierung etwas dissonant klingt. Aber es mag wohl sein, dass ein Leben die Trennschärfe einfach (zu) gut aushält zwischen bedeutend und banal, heilig und profan. Flimm verhängt jedenfalls keine Gehirnwäsche über sich und sein Kopfkino.

Sein vorhandener Zettelkasten, den er für den Verlag müry salzmann ausschüttete, enthält gut zwei Dutzend zu unterschiedlichsten Anlässen verfertigte Texte, die der Zeit über den Augenblick hinaus standhalten, zumal deren Personal, Stoffe und Themen ohnehin Dauer beanspruchen dürfen. Nicht selten sind es Liebeserklärungen ans Theater, sei es über Ariane Mnouchkines "Molière"-Film oder Mozarts gebenedeite Musik, sei es als kluges und selbstkritisches Protokoll zur Differenz von Marieluise Fleißer und Horváth, sei es als Notiz zur eigenen Hamburger Inszenierung von "Hoffmanns Erzählungen" aus der Erinnerungspein heraus, sei es eine literar-theologische Abhandlung über Gottes Wille. Neu ergänzt – nebst einer garstig-traurigen Salzburg-Dystopie – um ein Dramolett, in dem ein Regisseur die titelgebende gestürzte Pyramide samt ihrer Befüllung mit der Spitze auf seiner Stirn zu balancieren hat und diese seine berufliche Dauerübung zwischen Möglichem und Wirklichem die Gehirnerschütterung provoziert.

Orsinas Schrei

Eingestreut sind Fotos mit handgekritzelten Bildlegenden, auch Notizen aus dem Arbeitsbuch und Storyboard zu Lasker-Schülers "Die Wupper", Skizzen zu "Faust"-Szenen, Ideen zum Bayreuth-"Ring" im Jahr 2000. Material zu Projekten, die ihm wesentlich waren; nicht weniger als seine Gedanken zum Exil und den jüdischen Emigranten. Flimm gehört, wie auch der um zehn Jahre ältere Ivan Nagel, zu denen, die (als Assistent) noch den Rück-, nicht den Heimkehrer Fritz Kortner erlebten: Und so bleibt auch bei ihm das Leiden an Deutschland die Diagnose einer chronischen Herzkrankheit.

So sehr Flimm im Meer des Menschlichen (gelegentlich Gefühligen) fischt, taub ist er nicht für "Orsinas Schrei", den er ans Ende eines Textes über Lessings Minna und Emilia setzt, und nicht blind für den Ort, "wo die Liebe erbleicht" (Richard Wagner). Der Ehrendoktor der Universität Hildesheim lebt in den Künsten, mit und aus ihnen, im Dialog mit Giotto, Matthias Claudius, Proust und all den Dramenfiguren wie Schillers Mädchen Johanna oder dem alten Lear, den bei ihm Will Quadflieg spielte, so dass schließlich eine Brücke zum Theater der ungeliebten Väter geschlagen wurde. Kunst mithin als Zeitgenossenschaft, aber nicht als Schlagwort für die Klassiker-Ablage.

Gnadenvolles Bild

Flimm selbst hat so Theater gemacht, eher üppig als karg, eher gediegen als widerborstig, eher aufklärerisch als aus den diffusen Dunkelbezirken des Gegengeistes heraus. Eher ein Everding als ein Schleef. Er wusste den Apparat zu bedienen, auch den kulturpolitischen, dessen Betrieb er omnipräsent mit am Laufen hielt.

Auch die, über die Flimm schreibt, lässt er im Kunstbezirk siedeln. In seinem ebenfalls in den Band aufgenommenen zärtlichen Nachruf auf Rudolf Augstein, dem er Shakespeares Melancholiker Jaques aus "Wie es euch gefällt" zuordnet und von dem er zu sagen weiß, dass der Spiegel-Chef gern Florestans Gefängnis-Arie gesungen habe, schreibt Flimm von dem "großen Haufen himmlischer Boten, der um seine Wiege gesegelt" sei. Ist es nicht so, dass Jürgen Flimm, der am 17. Juli den runden Geburtstag feiert, sich selbst auch ein wenig von diesem gnadenvollen Bild zuerkennt?

Die gestürzte Pyramide
von Jürgen Flimm
Verlag müry salzmann
214 Seiten, 9,90 Euro.

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