Oktoberfest, das war einmal

von Susann Oberacker

Hamburg, 1. November 2008. "Ich hab' doch nur ein Eis essen wollen…". Karoline ist ehrlich erstaunt, wohin sie ihre kleine Sehnsucht geführt hat. Denn nach der harmlosen Eisesslust steht sie am Ende der Geschichte vor den Trümmern einer Beziehung. Zu besichtigen ist solch menschliche Tragödie im Thalia Theater in Hamburg. Hier hat Stephan Kimmig Ödön von Horváths "Volksstück" "Kasimir und Karoline" inszeniert.

Herausgekommen ist eine schlanke, zweistündige Spielfassung – ohne Jahrmarktsgedöns. In deren finale Stille platzte zur Premiere ein Zuschauer mit einem lauten "Halleluja!", dem ein markiges "Buh!" folgte. So herausgefordert, ließen sich die sonst zurückhaltenden Thalia-Zuschauer zu Bravo-Rufen und gar Getrampel hinreißen. Ja, was denn nun? "Buh" oder "Bravo"? Die Kritikerin schließt sich in diesem Fall der Mehrheit an und meint – allerdings nicht gebrüllt, sondern eher leise: "Bravo".

Ein bisschen Achterbahn fahren

"Kasimir und Karoline" ist kein Geniestreich wie Kimmigs "Maria Stuart", aber eine gute Inszenierung. Der Vergleich zum Schiller-Stück stellt sich nicht inhaltlich her, sondern über die weiblichen Protagonisten: Paula Dombrowski, damals Königin Elisabeth, nun Karoline, und Susanne Wolff, damals Maria Stuart, nun Erna. Zwei Schauspielerinnen, beide gekrönt mit dem Boy-Gobert-Preis, die durch ihre Wandlungsfähigkeit verblüffen.

Die Wolff noch ein wenig mehr als ihre Kollegin: Ausgepolstert trampelt die sonst elegante Aktrice als pummeliges Dummchen über die Bühne. In hellen Momenten sprüht ihre Erna vor Mutterwitz. Eine wahrlich ergötzliche Darstellung! Dombrowski dagegen, einst die hysterische Königin, wird hier ganz Naive: Ihre Karoline will doch eigentlich nicht viel. Zum Eis noch ein bisschen Achterbahn fahren und Zeppelin gucken… Naja, und dann vielleicht noch eine rosige Zukunft. Bedauerlicherweise ist Zukunft etwas, das Horváths Figuren nicht haben.

Da ist Kasimir, von Beruf Chauffeur, nun "abgebaut" und damit arbeitslos. Geht mit seiner Karoline zum Oktoberfest und vermiest ihr so richtig die Stimmung. Während sie den Zeppelin bestaunt und ihre Gedanken mitfliegen lässt, sieht er dort oben "20 Wirtschaftskapitäne, und hier unten hungern Millionen". Diesem Miesekasimir ist nicht zu helfen. Peter Moltzen spielt ihn mit einem unbeirrbaren Pessimismus. Kasimirs Kontrahent, zumindest bei Karoline, ist der Kinderkonfektionszuschneider Schürzinger. Über seine Zukunft erfahren wir nicht viel mehr, als dass er wohl sein – wenn auch bescheidenes – Auskommen hat. Norman Hacker spielt ihn als herrlich verklemmten Biedermann.

Zukunft klingt anders

Karoline wird sich am Ende mit ihm begnügen, nachdem sie sich beim Noch-höher-hinauf-fliegen-Wollen mit dem Vorstandsvorsitzenden Rauch (Stephan Schad) die Flügel gebrochen hat. Kasimirs Freund ist der Merkl Franz (Daniel Hoevels). Er knackt Autos und schlägt seine Freundin, die Erna. Seine Zukunft: das Gefängnis. Und Erna? Sie wird am Ende mit Kasimir weggehen. Dazu singt sie ganz leis', als summe sie ein Totenlied: "Jedes Jahr kommt der Frühling / Ist der Winter vorbei. / Nur der Mensch hat alleinig / Einen einzigen Mai." Zukunft klingt anders.

Für diese Hoffnungslosen hat Kimmigs bewährte Bühnenbildnerin Katja Haß eine schäbige Riesentrommel entworfen. Die rotiert auf der Drehbühne – gemeinsam mit drei übriggebliebenen Spielplatzstühlen. Dazu spielt entfernt eine Jahrmarktsmusik und manchmal auch ganz laut Matthias Reims "Verdammt, ich lieb dich" (Musik: Michael Verhovec). Die Trommel ist leer. Oktoberfest – das war einmal.

Das einzige, was an den Horváthschen Originalschauplatz erinnert, sind die Bierkrüge, aus denen eifrig geschlürft wird. Auch klamottenmäßig ist die Personnage ziemlich heruntergekommen. Kostümbildnerin Katharina Kownatzki steckte sie in Plastikjacken, formlose Jeans und billige Röckchen. Horváths Stück spielt in München, auf dem Oktoberfest, kurz nach der Weltwirtschaftskrise 1929.

Bier trinken und von einer Revolution plappern

79 Jahre später fällt die Hamburger Inszenierung mitten in die weltweite Finanzkrise. Manchmal wird das "langsame" Theater eben von der Realität überholt. Doch nicht nur hier liegt die erneute Aktualität des Werks. Horváths Figuren haben mit ihrer Schuld-sind-die-Umstände-Mentalität erstaunliche Ähnlichkeit mit manchen Zeitgenossen. Kimmig zeigt sie mit verstörender Selbstverständlichkeit: Menschen, die hinnehmen und nicht handeln. Die dumpf ihr Bier trinken und von einer Revolution plappern, die sie niemals beginnen würden. "Mit der Fahne in der Hand" tät sie sterben, grölt Erna. Ha, ha, ha.

Leer sind sie, tatenlos und gefühlsarm. Sitzen da wie Kasimir und die beiden Oktoberfest-Hürchen Maria und Elli. Sitzen da und wollen verzweifeln. Peter Moltzen, Sandra Flubacher und Anna Steffens ballen die Fäuste, verkneifen die Gesichter. Sie geben sich wirklich Mühe. Dann geben sie auf. Sie wollen verzweifeln und können es nicht. Eine kleine, ruhige und doch erschütternde Szene. Wie überhaupt diese Inszenierung ihre Kraft aus der Ruhe bezieht – aus Momenten der Stille, in denen nichts geschieht – und aus der Intensität der Schauspieler. Die glänzen bis in die kleinste Nebenrolle – bis zu Hartmut Schories als besoffenem Landgerichtsrat Speer.

Am Ende sammeln Kasimir und Erna die leeren und halbleeren Bierkrüge ein. Die Party ist vorbei. Und was kommt jetzt? "Nichts", sagt Kasimir.

 

Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Inszenierung: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Katharina Kownatzki, Musik: Michael Verhovec. Mit: Peter Moltzen, Paula Dombrowski, Norman Hacker, Daniel Hoevels, Susanne Wolff, Stephan Schad, Hartmut Schories, Anna Steffens, Sandra Flubacher.

www.thalia-theater.de


Mehr über Stephan Kimmig? Im Mai 2008 inszenierte er am Wiener Burgtheater den sieben-stündigen Shakespeareabend Die Rosenkriege. Im Februar des gleichen Jahres verlegte Kimmig Tennessee Williams' Endstation Sehnsucht am Hamburger Thalia Theater ins Katrina-geflutete New Orleans. Im Februar 2007 hatte in Hamburg Maria Stuart Premiere.

 

Kritikenrundschau

Stephan Kimmig werde, so meint Stefan Grund in der Welt (3.11.), in seiner "Kasimir und Karoline"-Inszenierung am Hamburger Thalia Theater, "der zweiten globalen Börsenkrise mit einer privat-apokalytischen, fassungslos machenden Fassung gerecht." Auf Kimmigs Bühnen-Karussell "wird den armen Menschen schwindelig, da werden sie durch die Mangel gedreht, da drehen sie durch. Da mag niemand mehr lachen über die komischen Vögel, denen die Liebe wegstirbt und denen die Sehnsucht nach ihr stets zur Pose gerät." Peter Moltzen mache aus Kasimir "einen verzweifelten Wagenlenker-Woyzeck des kapitalistischen Systems", Paula Dombrowskis Karoline hingegen charakterisiert Grund als "versiert verdrängend, vegnügungsversessen". Kimmig habe mit dieser Inszenierung nach Christoph Marthalers mustergültiger Hamburger "Kasimir und Karoline"-Aufführung von 1996 für einen "würdigen Wachwechsel" gesorgt.

Im Hamburger Abendblatt (3.11.) kommt Armgard Seegers zu dem Fazit: "Stephan Kimmig, immer ein Garant für psychologisch ausgelotete Menschenzeichnung, ist wieder eine wunderbare Aufführung gelungen. Wenn auch keine, die mit dem Zeppelin entschwebt." Paula Dombrowski spiele Karoline "als launisches Gör auf Glückssuche", Norman Hacker den Schürzinger "herrlich dämlich", und Susanne Wolff die Erna "als tumbes, ausgestopftes Dummchen, das ständig Prügel einsteckt, wunderbar geschmeidig". Allein Peter Moltzen als Kasimir spiele "seine Figur zu eindimensional. Dieser Verlierer müsste auch etwas Liebenswertes haben. Er darf nicht nur als dumpfer Pessimist, aufrechter Miesepeter erscheinen. Auch Kasimir braucht Poesie und Verletzlichkeit."

Stephan Kimmig packe Horváths Volksstück klug an, schreibt Jenny Hoch auf Spiegel Online (2.11.): "Anders, als in den gängigen 'Kasimir und Karoline'-Interpretationen, die das Pärchen stets als arme, unschuldige und naive Opfer der Verhältnisse zeigen, gönnt ihnen der Regisseur in dieser Inszenierung ambivalent schillernde Persönlichkeiten." Auf dem "wackeligen Fundament" der rotierenden Bühnenscheibe fänden "die Figuren nie zur Ruhe, es gibt keinen Rückzugsort für sie. Also agieren sie ihre Ängste, an den Rand gedrängt zu werden und ihre Gier nach einem besseren Leben ungebremst aus." Doch trotz eines "großartig aufgelegten Ensembles" und einer "überzeugenden Regie-Idee" bleibe der Abend "auf halbem Wege stecken. So, als habe Kimmig sein Konzept nicht über den ... Ansatz hinaus durchdacht." Der Rhythmus werde "schnell lahm. Und die Nachdrücklichkeit, mit der Bierzelt-Anarchie und Grobschlächtigkeit der Figuren vorgeführt werden, wirkt irgendwann einfach nur noch penetrant."

Dramaturg John von Düffel ziehe im Programmheft "strikte Parallelen" zwischen Entstehungszeit des Dramas – 1929, Weltwirtschaftskrise – und aktueller Situation. Kimmig stehe damit als Regisseur "unter dem Druck, diesen Pessimismus auch zu beweisen". Doch da müsse sich etwas in ihm "so gesträubt haben, dass sein berühmtes Gespür für Rhythmus und Zwischentöne verloren ging", so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (5.11.). Zäh sei der Abend, "weil viel zu schnell offensichtlich ist, wie naiv dieser Kasimir und wie kalt seine Karoline ist". "Völlig farblos gezeichnet" alle Randfiguren, nur Hacker und Wolff schafften "durch abstruse Komik Inseln der Aufmerksamkeit". Die von Düffel geforderten "Parallelen zur Gegenwart" schienen zwar "in Kimmigs Erzählweise hineindeutbar", seien aber "wenig zwingend". Schließlich klinge die Soundkulisse "nach historischem Rummel", das Benehmen entstamme "eher dem literarischen Milieu zwischen den Weltkriegen" und auch die Bühne neutralisiere die Gegenwart – kein "Hintergrund zu systemkritischen Gedanken über das Finanzsystem und seine Opfer".

Dass Karoline ihren Realitätssinn bewahre und sich nicht sexuell benutzen lassen wolle, sei "vielleicht das einzig Tröstliche" in Kimmigs Inszenierung, meint Frauke Hartmann in der Frankfurter Rundschau (5.11.). Während sich die Frauen bei Horváth "gegenseitig zur 'Munderotik' zwängen, um an etwas Geld zu kommen, sagten sie bei Kimmig Nein. Einige "schöne Regie-Einfälle", wie das Pflaster auf Wolffs immer wieder traktiertem Nasenrücken (Folge: Schreien "auf Knopfdruck"), begleiteten den Abend. Das Stück lasse sich "nicht nur als Metapher unserer Bankenkrise" lesen, sondern leuchte bei Kimmig "als werkgetreue und zugleich runderneuerte übersetzerische Präzisionsarbeit des Regietheaters". Die Musik Verhovecs begrabe "alles unter einem fernen Grundrauschen", dazwischen Matthias Reims "Hymne der Indifferenz". Die Musik ersterbe hier "genauso wie die Gefühle" und unterstreiche so "die Kluft zum Behaupteten".

 

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