Du böse Liebe, du!

von Dirk Pilz

Berlin, 1. November 2008. Anatol ist eine Frau. Das aber spielt keine Rolle. Denn der Mensch ist, was er ist: treulos, liebesbedürftig, erbärmlich, größenwahnsinnig, eitel, lächerlich, schwach und sterblich. Mann oder Frau, es sind am Ende alle gleich, jedenfalls an diesem bemerkenswert kurzen Abend.

Luk Perceval hat "Anatol" von Arthur Schnitzler inszeniert, ein am Ende des 19. Jahrhunderts entstandener Zyklus aus sieben Einaktern. In jedem dieser Minidramen glaubt Anatol die eine, ewige, große Liebe gefunden zu haben, muss aber, in Gesprächen mit seinem Freund Max, erfahren, dass das jedes Mal eine Täuschung ist. Zusammengenommen ergeben die sieben Teile ein Stationendrama, eine Passion der unerfüllten Liebe. "Anatol" ist ein amoralisches Sittengemälde, das der Phänomenologie verpflichtet ist – es will einen Zustand erfassen, den Zustand der Halt- und Prinzipienlosigkeit.

Blasse Melancholie

Konsequent zu Ende gedacht, ist "Anatol" das Drama eines einzigen Augenblicks, jenes Augenblicks, in dem der Glaube an die Haltbarkeit von Liebe, Hoffnung, Illusion etc. zerbröselt. Luk Perceval hat es konsequent zu Ende gedacht. Erste Folge ist, dass Jule Böwe den Anatol spielt, mit Blume in der Hand, in schwarzen Stöckelschuhen und kurzem Blauen. Sie sieht sehr blass aus, kein einziges Mal lächelt sie. Ihre leeren Augen richten sich immer ins Nirgendwo. Leider sind ihr nur zwei Sprechtöne eigen, leise nölen und laut nölen. Frau Anatol ist die Figur gewordene Zweiton-Melancholie.

Zweite Folge der Perceval'schen Konsequenz-Logik ist, dass die sieben Teile ineinander geschoben sind. Der Abend wirkt so wie der Blick durch ein Vergrößerungsglas: Man sieht Frau Anatol und die drei Herren an ihrer Seite im Moment des Maskenverlusts – der Glaube (an die Erlösungsliebe) bricht schon, die Einsicht (in die prinzipielle Haltlosigkeit) ist noch im Kommen. Deshalb macht keine der Figuren eine Entwicklung durch; sie spielen alle eine Ist-Weise.

Scheiße, ich will geliebt werden

Bruno Cathomas ist der Verlassene, der sein Verlassenwerden nicht fassen kann. Er schiebt viel den Bauch nach oben und das Hemd in die Hose, findet in allem Anlass zu rampenwirksamen Heulattacken und beherrscht die seltene Kunst des Schnäuzschluchzers. Einmal bricht es alles aus ihm heraus: "Scheiße, ich will geliebt werden."

André Szymanski ist dagegen der Überspiel-Typ. Anfangs bittet er Frau Anatol immerfort um Vergebung, am Ende verlässt er sie beiläufig. Er tut beherrscht, bis er die Beherrschung verliert. Dann tanzt er, zynisch, böse spottend, auch selbstverachtend. Beide Typen sind fast schon der ganze Mann respektive die ganze Frau.

In einer hübschen Szene fummelt Szymanski von hinten Böwe am Busen herum ("Verzeihst du mir?") und Cathomas steht jammerlappig vor ihr. Mit den Szenen ist so auch das Geschehen parallelisiert – in der Versöhnung steckt schon der Verrat, in der Liebe bereits die Gleichgültigkeit.

In einer noch hübscheren Szene ziehen und zerren beide an Böwe herum und veranstalten ein wildes Liebesleidensgewurschtel. Thomas Bading läuft dabei immerfort mit einem Tüchlein in der Hand umher. Er ist Max, der kritische Freund. Trocken sind seine Kommentare, geduldig ist sein Sinn, zerfurcht die Stirn. Die Bundfaltenhose passt zu seiner abgehärmten Seele, dennoch hängt auch er in den Armen Frau Anatols. Keiner ist außen vor, jeder ist vom großen ganzen Liebesdesaster betroffen.

Im schönen Schein der Glitzergefühle

Konsequenterweise verschwimmen alle Figuren-, Gefühls- und Geschlechtergrenzen. Das ist die dritte Folge von Percevals Regie-Logik. Diese allerdings ist vor allem ein Bühneneffekt. Katrin Brack, Meisterin des Ein-Symbol-Bühnenbildes, lässt lauter silbrige Lametta-Seile aus dem Himmel kommen. Der Raum wird zum tiefen Glitzer-Wald.

Wenn die Figuren in ihm herumlaufen, verlieren sie an Kenntlichkeit. Es ist, als würden sie darin verdunsten. Szymanski schneidet ein paar Seile ab, Cathomas reißt sie herunter. Es nützt nichts, aus diesem Wald ist kein Entkommen. Am Schluss halten sich Cathomas, Szymanski und Böwe an den Händen wie vor dem Traualtar und Bading wirft das Lametta über sie. Im Glitzerschein der Illusionen gehen sie unter. Konsequenterweise auch dies.

Die vierte und letzte Folge in Percevals Zirkus der Vergeblichkeiten ist das Singen. Sie singen aus "La Traviata". Cathomas erfindet die Sangesweise des Trällerschluchzens, Böwe das Hauchsäuseln, Szymanski die Ironiearie. Timo Kreuser korrepetiert unbeeindruckt am Flügel. In der finalen Szene reden, singen, schluchzen sie dann alle gemeinsam. Man versteht nichts, außer dass es ihnen sehr arg ist. Das Finale ist ein großer dicker Pathosabschlusspunkt.

Im übrigen wird die Eingangssequenz wiederholt: Frau Anatol an ihrem Hochzeitsmorgen, wenn sie schon weiß, dass der Bund nicht dauern wird, sie aber dennoch ehelichen will. Max: "Sie heiraten also einen anderen?"; Anatol: "Man heiratet immer einen anderen."

Bleibt noch die Frage, worauf das alles hinaus will. Perceval zeigt einen Trauertanz der Triebe, er buchstabiert einen Zustand aus, malt ein fett pathetisches "Ach" auf die Bühne. Es ist ein achtzigminütiger Klagegesang. Seltsamerweise ist er sehr tröstlich. Denn seine Botschaft ist eine beklemmend froh und frei machende: Ungeheuerlich der Mensch, und alle Menschen sind gleich.

 

Anatol
von Arthur Schnitzler
Regie: Luk Perceval, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Dramaturgie: Maja Zade. Mit: Thomas Bading, Jule Böwe, Bruno Cathomas, André Szymanski, Timo Kreuser (Musiker).

www.schaubuehne.de


Mehr lesen über Luk Perceval: Im Mai 2008 inszenierte er Troilus und Cressida als Kooperation der Wiener Festwochen mit den Münchner Kammerspielen. Das archaische Potential von Kleists Penthesilea kehrte er im Februar 2008 an der Berliner Schaubühne hervor. Bei den Salzburger Festpielen im Sommer 2007 entstand sein viel diskutierter Abend Molière. Eine Passion, der danach an die Schaubühne wanderte.

 

Kritikenrundschau

An Katrin Bracks silberner Lametta-Boa-Bühne zu Luk Percevals "Anatol"-Inszenierung kann sich Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (3.11.2008) nicht sattsehen: "ein flirrender Winterwald, zwischen dessen schwerelosen Stämmen die Figuren ihre Konturen verlieren" –"der Glamour des Nichts", Fin de siècle "für den heutigen Geschmack". Perceval streiche Schnitzlers "dramatisch hochgejuckte Flirts" "auf ein paar Kernszenen und wenige Sätze" zusammen und operiere sie um, "beides durchaus mit gedanklichem Zugewinn": Anatol werde mit Jule Böwe zur weiblichen "Anatolia"; "von Männlichkeit im herkömmlichen Sinne" könne bei deren männlich besetzten Liebschaften, die "mit Ballett-Sprüngen und italienischen Arien" um ihre Aufmerksamkeit buhlten, "nicht die Rede sein". Cathomas müsse "mit seinem unerschöpflichen Rotz- und Wasserreservoir" immer weinen und Szymanski plappere sich "derart hemmungslos um Kopf und Kragen, wie man es – in selbstverständlich überkommenen Rollenfestschreibungen – nur Teenager-Zicken zutrauen würde". "In diesen schön-allgemeinen Abend" ließen sich "alle Erfahrungen der Vergeblichkeit, die man je mit der Liebe gemacht hat", hineinsehen.

Mit der "Geschlechtsumwandlung", die Perceval "vermutlich irgendwie ironisch oder zeitkritisch" meine, hole er Schnitzlers Stück "in eine diffuse Gegenwart", so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (3.11.2008). "In der simplen Umkehrung" wirke es allerdings so, als wolle er damit bloß "selbstmitleidig mitteilen, dass Frauen die neuen Machos seien". "Strafverschärfend" wirke die Besetzung Böwes, "einer Schauspielerin, die die Kunst des enervierenden Keifens und des schrillen, herben Blökens beherrscht wie wenig andere. Kein Wunder, dass die beiden Herren (...) bedauernswerte Witzfiguren sind". "Egal, ob sie Textblöcke stoisch wiederholen oder in grotesken Verrenkungen aneinander herumzerren", es entstünden "nur Leerformeln und keine Figuren". Perceval erschlage das Stück "mit Regie-Willkür", stelle "auftrumpfend seinen Formwillen aus" und mache die Schauspieler "zu Schaustücken in einer dekorativen Installation".

Perceval setze "auf überwältigende Vereinfachung", bei der "nur die nackte Grundkonstellation" übrig bleibe: eine Frau zwischen zwei Männern, schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (3.11.2008). Warum Anatol mit einer Frau besetzt sei, "wissen die Götter". "Alle philosophischen Spuren, alles dekadent Verspielte" sowie die Schlagworte der Psychoanalyse seien eliminiert. Stattdessen knalle Perceval den "Stempel 'Bindungsunfähigkeit 2008' auf die Vorlage". Böwe stehe "zwar steif zwischen zwei Männern, guckt aber (wegen der Bindungsangst?) die ganze Zeit ins Publikum und stellt im eintönigen Jule-Böwe-Singsang (...) ihre Überforderung zur Schau". Cathomas heule viele "Male Rotz und Wasser", während Szymanski "wie ein Balletttänzer durch den Girlanden-Wald hüpft" und Böwe "italienische Liebesrezitative" singe, "was möglicherweise sagen soll, dass es hier nur um schale Posen oder um Sehnsuchtsklischees geht". Bading habe dabei vorwiegend die Aufgabe, von den "ratlosen Improvisationen seiner Kollegen abzulenken". Das Ganze sei "eine – ewige – Stunde lang der reinste Hilflosigkeitshorror".

Für Matthias Heine von der Welt (3.11.2008) "entwienert" Perceval Schnitzlers "Anatol" "bis zur Unkenntlichkeit". Mit einem Blümchen in der Hand stehe diese "Frau namens Anatol" 80 Minuten lang "seltsam unberührt da – obwohl dauernd jemand an Jule Böwe rumfummelt und auch das Stehen durch abstrakt-erotische Gymnastik unterbrochen wird". Der Original-Text sei "so gestrichen und umgeschichtet, dass nur noch eine jelineköse Textfläche übrig bleibt". "Mit den erkennbaren Figuren, die einen konkreten gesellschaftlichen Ort hatten", verschwänden auch "Dramatik und Gefühl", letzteres re-injiziert durch "La Traviata"-Arien. "Wo früher ein Stück über die Unmöglichkeit der Liebe war, bleibt eine Meditation über 'Beziehungen'". Das alles sei zwar "kein Desaster", bringe aber "doch nur die Erkenntnis: Ah ja, so etwas kann man mit 'Anatol' also auch machen".

Für Luk Perceval ist die Liebe schon verloren, "bevor sie in die Nähe der Figuren rückt. Sie ist abwesend, bevor sie überhaupt anwesend sein könnte. Minimal, nahe Null, ihr utopisches Potenzial", schreibt Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (4.11.2008). Auf dem Agieren der Figuren "lastet schweres Blei. Vergeblichkeit. Müdigkeit. Unausweichlichkeit." Perceval will, dass seine Personen leiden, "oder dass sie, so sie nicht leiden, zynisch sind". Am besten sei darin zweifelsohne Szymanski, "weil er der Agilste unter den Trübseligen ist". Man frage sich im Verlauf der siebzig Minuten, ob es nötig war, Anatol als Frau zu besetzen. "Und doch: Durch Jule Böwes beklemmende, an den Rändern des Nervenzusammenbruchs vagierende, dauerhaft crescendierende Darstellung gewinnt dieser Abend genau die Fragilität und Frag-Würdigkeit, die das Stück (heute) braucht."

Die Textvorlage werde hier "höchstens als billiger Stichwortkatalog benutzt", bemängelt hingegen Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.11.2008). Dass "Frau Anatol" Böwe die gesamte Zeit über "weitgehend reglos" da steht, "ihr düster-traurig gestimmtes Gesicht unbewegt", sei "kein Wunder" angesichts des "doppelten Herrenwitzes", der sie da umschwirre. "Die rat- und haltlosen Schätzchen haben die Hände bevorzugt in den Hosentaschen und den Kopf in irgendwelchen morschen Beziehungskisten vergraben, von denen das Publikum, so es das Original nicht kennt, kaum etwas verstehen kann." Zwischen ihnen harre Böwe "gleichgültig wie kaltblütig" aus. Die "La Traviata"-Nummern gingen nicht ins Ohr, sondern schmerzten dort "erheblich". Percevals "triste Schitzler-Parodie" bestehe "aus nichts als intellektuellem Ramsch und künstlerischer Scharlatanerie" und sei "mit dem Ausdruck 'Etikettenschwindel' noch generös bezeichnet".

 

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