Im Labyrinth des Lebens

von Sarah Heppekausen

Mülheim an der Ruhr, 13. August 2021. Again and again. Unerbittlich, gnadenlos. Immer mal wieder drückt Regisseur Philipp Preuss die Repeat-Taste und lässt Tschechows Landbewohner ihr trostloses Dasein in Dauerschleife abspulen. Melancholie und Überdruss zeigen sich hier weniger in einem Modus der Trägheit, nein, sie artikulieren sich erstaunlich aktiv in der penetranten Wiederholung. Again and again – aber auch das führt irgendwann zu lähmender Erschöpfung.

Dreifache Schicksale

Die Bühne fordert Bewegung. Preuss lässt seinen "Onkel Wanja" als Open Air spielen. Die Inszenierung ist Teil des zweiwöchigen Festivals Weiße Nächte – Retour Natur am Theater an der Ruhr mit Konzerten, Gesprächen, Poetry, Audiowalks und einem Kunstparcours. Bei "Onkel Wanja. Into the trees" sitzt das Publikum auf der Wiese, akustisch bestens versorgt mit Kopfhörern. Gespielt wird im Haus und vor allem auf der Nordseite des Gebäudes zum Raffelbergpark. Die historische Fassade des ehemaligen Solbads funktioniert hervorragend als Bühnenbild: ein großer Balkon, Sprossenfenster, Treppenanlage, Sternenhimmel – alles da. Arzt Astrow (Günther Harder) kommt auf einem alten Moped durch den Park angefahren, alle eilen keuchend durchs innere Treppenhaus. Wie flucht passend der gichtkranke Professor Serebrjakow? "26 Zimmer: ein Labyrinth. Zum Verzweifeln".

Onkel Wanja 1 cFGoetzen uWanja auf dem Weg in den Wahnsinn: Felix Römer, Sarah Moeschler © F. Götzen

Wie zur nervenaufreibenden Verstärkung tritt Serebrjakow gleich drei mal graubärtig und behäbig in Erscheinung (Petra von der Beek, Rupert J. Seidl und Steffen Reuber). Die Stilmittel der Wiederholung, der Verdreifachung, sie üben ziemlichen Druck auf die Figuren aus: Vor allem Wanja treiben sie in den gefürchteten Wahnsinn. Felix Römer hängt zu Beginn noch lethargisch am Tisch, lässt später im Close-Up der Live-Kamera zunehmende Angespanntheit erkennen, verheddert sich als bitter-armselige Clownsgestalt unterm Regenschirm, um anschließend als verwirrter Nachthemdträger Rosen für seine angebetete Jelena im Park zu sammeln. Ein komisch-kauziger Lebensversager, der wie ein verliebter Teenager holprige Gedichte verfasst: "Rosen der Trauer, Rosen des Herbstes, Glück ohne Dauer, da drinnen schmerzt es." Da bleibt so ein Gefühl der mitleidigen Sympathie. Sarah Moeschler als Jelena hält ihn derweil elegant auf Abstand.

Permanente Soundkulisse

Preuss treibt seine Figuren immer wieder heraus aus zu viel Realismus – hier ein komisches Gedicht, eine vermeintlich intime Unterhaltung über zwei Etagen, da ein grollender Einwurf aus der Gegenwart: "I hate my fucking father", zischt Berit Vander als Tochter Sonja. Jelena spricht zwischenzeitlich französisch. Alle singen. Ansonsten übernimmt Musiker Alain Croubalian die permanente Soundkulisse, live gespielt, angenehm lässig, aber im Loop eben auch mal an den Nerven zehrend. Alles zieht sich – das mag an der Kälte liegen, die im Park langsam die Beine hochkriecht. Das ist sicher aber auch erwünscht: Alle leben vor sich hin, nichts passiert oder es wiederholt sich, damals wie heute.

Desaströse Gegenwartsdiagnose

Und Astrow warnt vor dem Klimawandel. Da ergrünt die komplette Fassade im rauschenden Blätterwald. Ein stimmungsvolles Videobild zu Astrows Rede vom Sterben der Wälder und der Waldtiere. Tschechow ist (1896) seiner Zeit voraus, Preuss’ Gegenwartsdiagnose ist gleichermaßen desaströs: Sonja tritt mit Hirschgeweih ins grüne Bild, kommentarlos, ein Verzweiflungsakt. Astrow selbst zieht sich stolz ein Bärenfell über, auch das wirkt absurd. Mehr fällt uns Menschen also nicht ein? Immerhin bleibt der Humor.

Onkel Wanja 2 cFGoetzen uKlimawandel und menschliche Einfallslosigkeit: Sarah Moeschler, Günther Harder, Berit Vander © F. Götzen

Preuss' "Wanja" bringt so viel mit: starke Bilder vor und in besonderer Kulisse, ein ideenreiches Ensemble, technisch läuft auch alles rund – und trotzdem stört da diese Distanz. Die Stimmen sind nah, aber die Gesichter der Schauspieler:innen sind – bis auf die kurzen Videoszenen – so fern, dass sie als Menschen ungreifbar bleiben. Die Vergeblichkeit des Seins, sie ist zu sehen, aber nicht zu fassen.

Onkel Wanja. Into the trees
nach Anton Tschechow, Fassung von Philipp Preuss
Regie: Philipp Preuss, Ausstattung: Ramallah Aubrecht, Kostüm: Eva Karobath, Dramaturgie: Helmut Schäfer, Musik: Alain Croubalian, Video: Konny Keller.
Mit: Petra von der Beek, Sarah Moeschler, Berit Vander, Gabriella Weber, Alain Croubalian, Günther Harder, Klaus Herzog, Steffen Reuber, Felix Römer, Rupert J. Seidl.
Premiere am 13. August 2021
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

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