Arbeit am Ritual

von Falk Schreiber

Hamburg, 13. August 2021. Otto von Bismarck ist wichtig für Hamburg. Der Reichskanzler war mit dafür verantwortlich, dass 1888 der Hamburger Freihafen eingerichtet wurde und legte so Ende des 19. Jahrhunderts den Grundstein für den bis heute anhaltenden ökonomischen Boom der Hansestadt. Zudem war Bismarck eine zentrale Figur im deutschen Kolonialismus. Und auch wenn es Gründe zur Annahme gibt, dass der Kanzler selbst gegen ein Kolonialreich war, weil er Kolonien für wirtschaftlich ineffektiv hielt, profitierte keine deutsche Stadt so sehr von der Entwicklung wie Hamburg. Kein Wunder, dass man hier kurz nach Bismarcks Tod 1898 begann, ein monumentales Bildnis des (schon damals) umstrittenen Politikers zu errichten.

Bismarck abreißen?

Mit über 34 Metern Höhe ist die im Alten Elbpark am Eingang zur Reeperbahn gelegene Statue das größte Bismarck-Denkmal des Landes: ein groteskes Monstrum, das den Kanzler als hanseatischen Roland darstellt, gestützt auf ein zehn Meter hohes Schwert und flankiert von zwei Adlern. Im Laufe der Jahre verwahrloste die Umgebung, der kleine Park ist kaum noch als solcher erkennbar, umtost von mehrspurigen Verkehrsachsen, zudem ist die Statue mittlerweile baufällig. Im Zuge einer Aufhübschung der Umgebung wurde überlegt, das Monument abzureißen, nach einer hitzigen Diskussion zwischen Rechts und Links hat die Stadt aber entschieden, die Statue für knapp neun Millionen Euro zu sanieren und zudem die Rolle Bismarcks kritisch zu hinterfragen (was immer das heißen mag). Gefeiert werden soll hier jedenfalls nichts mehr, aber wie sich eine multikulturelle Stadtgesellschaft des Jahres 2021 fühlt, wenn sie vor dem riesigen Abbild eines Politikers steht, der eine klare Bezugsfigur für die deutschen Kolonien war, das ist noch lange nicht ausdiskutiert.

Aus der Perspektive der Kolonisierten

Die mexikanisch-deutsche, seit langem in Hamburg lebende Choreografin Yolanda Gutiérrez beschäftigt sich schon seit Jahren mit postkolonialen Strategien, unter dem Label "Shape The Future" entstanden tänzerische Interventionen wie "Urban Bodies Project"(Hamburg / Amsterdam 2017) oder "Decolonycities" (Dar es Salaam / Hamburg 2019). Für das Internationale Sommerfestival des Hamburger Produktionshauses Kampnagel hat Gutiérrez einen Audiowalk rund um das Bismarck-Denkmal kuratiert, "Bismarck-Dekolonial", und der ist weniger ein zusammenhängendes choreografisches Werk als eine Abfolge von künstlerischen Schlaglichtern: Der tansanische Musiker Isack Abaneko choreografiert mit "The Bismarck Consequences" eine Bewegungsabfolge auf einer Wiese unterhalb des Denkmals. Der kamerunische Künstler Stone entwickelt mit "Kalangou" ein Sprachkonzert. Die namibische Performerin Vitjitua Ndjiharine zeigt mit "Moho Mehi Retu" eine kurze Szene, in deren Zentrum ein traditionelles Herero-Kostüm steht. Und Gutièrrez dirigiert das Publikum von Spielort zu Spielort.

 BismarckDekolonial 600 MunimumPhotographyPanorama mit Bismarck © Munimum Photography

Während des knapp einstündigen Rundgangs entstehen so starke Bilder: etwa wenn das Ensemble das Publikum mit raumgreifenden Bewegungen auf einer Brücke angeht, während man am gegenüberliegenden Hang eine verhüllte Gestalt entdeckt, deren Schleier im Wind weht – und über ihr die Bismarck-Figur skeptisch auf die Szenerie blickt. Oder wenn sich aus folkloristischen Rhythmen überraschend moderne Tanzschritte entwickeln. Das ist spannend, bleibt jedoch mehr oder weniger unverbunden: Man sieht abstrakte Szenen, hat aber dabei das Gefühl, dass Abstraktion gar nicht das ist, was dieses Stück möchte. Für einen tieferen inhaltlichen Einstieg bleiben die Hintergrundinformationen allerdings zu spärlich, beschränken sich zu sehr darauf, Affekte abzurufen. "Hamburg people, do you really celebrate Bismarck?" wird man per Kopfhörer gefragt, und sofern man nicht zu den ganz unbelehrbaren Rechtsaußen zählt, kann man darauf nicht anders antworten als "Nein!" Nur bringt einen das dann künstlerisch nicht wirklich weiter, stattdessen sorgt es dafür, dass die klugen Interventionen einen Zug ins Exotistische annehmen, den sie nicht verdient haben.

Hanseatische Hassliebe

Dass der Prozess der Dekolonisierung, den Gutiérrez hier anstößt, Züge eines Rituals annimmt, ist aus Theatersicht nicht uninteressant. Spannend auch, wie die theatralen Mittel der Arbeit immer offenliegen, von den durch die Performer:innen absolvierten Wegen bis zur Aufforderung ans Publikum, die Kopfhörer auf- beziehungsweise abzusetzen. Das hier ist kein Bühnenzauber, das ist Arbeit am Ritual, und wo sich der Stadtraum in eine Bühne verwandelt, sieht man, wie sich diese Verwandlung vollzieht. Hier also liegt nicht das Problem von Guttiérez’ Arbeit: "Bismarck-Dekolonial" ist durch und durch gelungenes Theater, der Knackpunkt liegt vielmehr darin, dass sie wohl noch etwas anderes sein will, dabei aber nicht so richtig zum Punkt kommt, was genau. Von der widersprüchlichen Figur Bismarck jedenfalls hat man nach dem Rundgang so wenig verstanden wie von den Gräueln des deutschen Kolonialismus, tatsächlich bleibt einem sogar die hanseatische Hassliebe zum Reichskanzler fremd. Aber immerhin, ästhetisch funktioniert das Projekt.

Bismarck-Dekolonial
Kuration/Leitung/Produktion: Yolanda Gutiérrez, Assistenz Management: Lucia Lilen Heffner, Dramaturgische Mitarbeit: Judith Mauch, Assistenz Produktion: Valerie Witt, Corona-Hygiene Supervisor: Joshua Raudies, Kostüme: Yupanqui Ramos, Foto- und Videodokumentation: Igor Sherba, Grafik Design/Videomapping: Dr. Calavera, Assistenz Videomapping: Stephanie Fenner, Hospitanz: Cristina Pauls (Uni-Augsburg/TUI München), Webseite: Uli Mathes.
Mit: Isack Peter Abeneko, Dolph Banza, Vitjitua Ndjiharine, Stone, Moussa Issiaka, Fabian Villasana aka Calavera, Chris Schwagga, Sarah Lasaki, Faizel Browny, Shabani Mugado.
Premiere am 13. August 2021
Dauer: 50 Minuten, keine Pause

yolandagutierrez.de/bismarck-dekolonial
www.kampnagel.de

 

Das Hamburger Bismarck-Denkmal ist auch Gegenstand der interaktiven Karte tearthisdown von Peng!-Kollektiv und der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD), die Orte mit "kolonialnostalgische Straßennamen, Statuen und Gedenktafeln, die romantisierend an deutsche Verbrechen in Afrika, Asien und Ozeanien erinnern" verzeichnet. Dagegen ermittelt aktuell die Abteilung "Terrorabwehr" des Berliner LKA, wie die taz berichtet.

 

Kommentare  
Bismarck-Dekolonial, Hamburg: absurd
Dass ausgerechnet Bismarck zu einer antagonistischen Symbol-Figur der Dekolonisierungsbewegung wird, ist historisch absurd und vernebelt die differenzierte Auseinandersetzung mit deutschem Kolonialismus.
Bismarck-Dekolonial, Hamburg: vernebelt
Der Kommentar vernebelt die Geschichte. Ebenso ist die Behauptung falsch, dass Bismarck´s Einfluss in der deutschen Kolonialgeschichte "historisch absurd" ist - der Kommentar ist es.
Bismarck-Dekolonial, Hamburg: Kritik
Ich habe heute das Stück gesehen und möchte nur zwei Kommentare geben:
1. Den ein wenig abwertenden Begriff "Folklore" ist in diesem Kontext nicht angebracht, denn Traditionen sind in Afrika ein wichtiger Bestandteil der Kultur - und eben keine "Folklore". Traditionelle Elemente werden genutzt, weil sie wichtig sind, und nicht, weil ein Europäer diese als Folklore abtut.
2. Ich habe auch keine Geschichtsunterricht erwartet zum Thema Bismarck, da kann ja jeder selbst aktiv werden. Entweder vor dem Stück, weil es einen sowieso schon interessiert hat oder auch danach, weil man motiviert wurde die Geschichte zu verstehen.
Bismarck-Dekolonial, Hamburg: White Gaze
Ich habe die Kritik mit großem Interesse gelesen, da ich Blickwinkel von mir in einigen Aspekten des Textes wiedergefunden habe. Allerdings habe ich das große Privileg genossen, die Performance mehr als einmal zu sehen und dadurch Facetten wahrgenommen, die in einem kurzen Blick auf das Stück durch den white gaze im Nichts (oder in der Kritik) versickern. Es scheint grundsätzlich schwer für weiße (eurozentrisch geprägte) Kunst- und Kulturliebende, für eine Stunde ihre Überlegenheitsannahmen beiseite zu stellen, konfrontiert mit anderen Perspektiven zu sein, die nicht unmittelbar vom Standpunkt des 'epistemischen Territoriums der Moderne' (Vasquez 2011) sprechen. Vor diesem Hintergrund verstehe ich Ihre Kritik durchaus. Ein weißer, privilegierter Mann kann es nur schwer aushalten, auf Ebenen, die nicht klassisch modern rational-kognitiv sind, angesprochen zu werden, oder gar zuzuhören. Dass dann in ihm der Eindruck von Folklore entsteht, wenn Tansanische, Namibische oder Kamerunische Kunstschaffende sich durch ein aktives Verhältnis zu ihrer Vergangenheit (das Trommeln und traditionelle Kleidung beinhaltet) gegen koloniale Vermächtnisse und Denkmäler zu Wehr setzen, sich Ausdrucksräume schaffen und sie selbst mit Inhalten füllen, die ihnen wesentlich erscheinen, ist für mich keine Überraschung, sondern eine Manifestation des white gaze. Dieser white gaze kann nicht zusehen, ohne whataboutism - er kann nicht zuhören, ohne direkt antworten zu wollen und die gesehenen Inhalte in ein westlich-koloniales frame pressen zu müssen. Dass er keine Liberalität in der Performance erkennt, liegt daran, dass es keine Linearität gibt und auch nicht geben muss - wenn diese als ein epistemisches Produkt des westlich-kolonialen Wissenssystems verstanden und reflektiert wird. Daher kann ich die Nachtkritik durchaus lesen und verstehen, und würde zugleich auf die eigene Arbeit im Kritischen Weißsein und des Verlernens (oder zumindest Suspendierens) des eigenen white gaze (der ja hier als universell angenommen wird) verweisen wollen.
Bismarck-Dekolonial, HH: Grenzen der Kritik
Lieber Michael (#3), liebe Christina (#4), Danke für die Anregungen, da ist auf jeden Fall was dran. Ich möchte anmerken, dass im Text nichts von "Folklore" steht, sondern von "folkloristischen Rhythmen" - das ist eine Kleinigkeit, aber ein Unterschied ist das schon. Trotzdem, meine Perspektive ist natürlich ein Thema, und dass der White Gaze in diese Perspektive hineinspielt, kann (und sollte) man nicht verleugnen. Christina hat mir gegenüber einen Wissensvorsprung, weil sie die Performance mehrfach gesehen hat - ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich die Perspektive dadurch verändert, dass sich hier auch eine Hinterfragung der eigenen Position einstellt. Das ist aber etwas, das Kritik so nicht leisten kann, schon alleine aus ökonomischen Gründen. Christina schreibt: "white gaze kann nicht (...) zuhören, ohne direkt antworten zu wollen." Das stimmt - dafür, dass ich antworte, werde ich bezahlt, und da stößt Theaterkritik an ihre Grenzen. Was allerdings möglich ist: das Sprechen über Kritik, das praktisch von selbst neue Perspektiven in die Diskussion einführt. In diesem Sinne bin ich sehr dankbar für die hier entstandene Diskussion. P.S. CHristina, Sie schreiben, dass white gaze keine "Liberalität in der Performance" erkennen würde, das verstehe ich nicht. "Liberalität" ist doch hier gar nicht das Thema, der Begriff taucht auch im Text gar nicht auf?
Bismarck-Dekolonial, Hamburg: Linearität
Lieber Falk,

vielen dank für die spannende Reflexionen, die hier entstehen und durchaus weit über Kunst/Theaterkritik hinausgehen. Ich muss mich für das Wort 'Liberalität' entschuldigen - es geht um Linearität (scheint durch Autokorrektur entstanden zu sein). Dass also keine Linearität in der Performance selbst erkennbar zu sein scheint, dass sie nicht als zusammenhängendes Werk erscheint, sondern als "Abfolge von künstlerischen Schlaglichtern" - das verstehe ich als gewollt nicht-linear, sondern eher als zirkulär. Vielleicht ist es das, was uns so schwer zu verstehen macht, was 'das mehr' ist, das die Performance sein will oder sogar ist: das mehr an Perspektiven, die, um es mit Enrique Dussel zu sagen, eine gewisse Exteriorität zur eurozentrischen Moderne hat und anders funktioniert. Ich nehme das Stück daher eher als Anlass wahr, meinen 'white gaze' zu identifizieren, infrage zu stellen und suspendieren zu üben. Dann kommt für mich zumindest das 'mehr' der Performance durchaus zum Tragen.
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