Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben - Esther Slevogt über einen besinnungslos von der Gegenwart absorbierten Betrieb
Theater ohne Gedächtnis?
von Esther Slevogt
17. August 2021. Am 20. Mai starb der Regisseur Jarg Pataki, noch nicht einmal sechzig Jahre alt. Wie immer versuchte die Redaktion, für die Meldung auf nachtkritik.de Informationen zusammenzutragen, nicht zuletzt zum genauen Ort und Datum seines Todes. Damit die konkreten Lebensdaten als Spuren eines Künstlerlebens hier im Archiv aufbewahrt sind. Einige von Patakis wichtigsten Arbeiten entstanden am Theater Freiburg, wo er am kontinuierlichsten gearbeitet hat. Dort freilich waren nähere Informationen nicht zu bekommen. Denn in Freiburg arbeitet schon seit 2017 eine neue, von Intendant Peter Carp geleitete Truppe.
Über Intendanzen hinaus
Pataki aber arbeitete während der Intendanz von Barbara Mundel in Freiburg, die wiederum inzwischen in München Intendantin der Kammerspiele ist. So waren die Informationen zu Datum und Umständen dieses Todes nach München gewandert und dort schließlich erreichbar.
Der Fall Jarg Pataki ist nur ein Fall von vielen ähnlichen. Oft erreichen uns Informationen aus dem persönlichen Umfeld der Künstler:innen, die gerade verstorben sind. Manchmal dauert es Tage, bis diese Informationen verifiziert werden können. Besonders lange dauert es manchmal, wenn es um Künstler:innen geht, die an Theatern in der DDR gearbeitet haben. Denn das Gedächtnis der Theater ist in der Regel kurz. Meist reicht es kaum über die jeweilige Intendanz hinaus, geschweige denn über die allerjüngste Vergangenheit. Dramaturg:innen wechseln schnell, jede Intendanz bringt ein eigenes Team mit.
Ein Intendanzwechsel ist oft mit dem kompletten Gedächtnisverlust eines Hauses verbunden. Unkündbare Schauspieler:innen gibt es in den Ensembles immer weniger. Und inwieweit sie für das Gedächtnis der Theater überhaupt eine Rolle spielen, ist eine weitere Frage. Eine Frage, die sich umso dringlicher stellt, da Theater mit ihrer Arbeit immer wieder Zeit-Tunnel in andere Epochen und zu anderem Denken bauen.
Gedächtnis ist Kapital
Wer anders könnte, ja müsste das Gedächtnis des Theaters einer Stadt bewahren, als das jeweilige Theater selbst. Das betrifft ja nicht allein die Erinnerung an Menschen, die hier gearbeitet haben. Was macht es grundsätzlich mit so einer Institution und ihrer Verankerung, in einer Stadtgesellschaft etwa, wenn diese Stadtgesellschaft sich zwar an Vergangenes erinnert, das hier stattgefunden hat – nicht aber diese Institution selbst? Woran will sie anknüpfen? Worauf baut sie auf? Wie kann ein Theater ohne Gedächtnis Teil einer Stadtgesellschaft sein, wenn es mit ihr keine Erinnerung teilt, kein Wissen? Ist so ein Gedächtnis nicht auch ein profundes Kapital? Wenn sich die Häuser bis zur buchstäblichen Besinnungslosigkeit an der Gegenwart abarbeiten, gegen sie anrennen, Produktion um Produktion planen, produzieren, ausstoßen, wirft das auch darüber hinaus Fragen auf – nach Nachhaltigkeit etwa. Nach ressourcenschonendem Produzieren.
Ich weiß keine Antworten. Und so drückt dieser kurze Text, der vielleicht mehr Fragezeichen als Kolumne ist, eher ein grundsätzliches Unbehagen aus am Status Quo – am Anfang dieser ungewissen Spielzeit, von der wir nicht wissen, was sie bringen wird.
Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. Außerdem ist sie Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?
Zuletzt schrieb Esther Slevogt über die seltsame Debatte um angebliche Theatergenies.
Zum Text: Die Lösung dieser Geschichtslosigkeit der Theater ist einfach: Onlinearchiv aller Aufnahmen, ob Video oder Audio seit Anbeginn der Zeiten als open Access.
An manchen Theatern wurde diskutiert, die alten Unterlagen (denn auch Platz ist immer zu wenig) ins Stadtarchiv zu geben, an die lokale Bibliothek, die benachbarten Institute für Theaterwissenschaft oder an Theatermuseen. Selten gab es Interesse, selten Lösungen für diese ungeliebten Aufgaben.
Dass es bei überarbeiteten Menschen im Strudel der Theatergegenwartsaufgaben nicht so viel Liebe für alte Akten gibt, mag man noch verstehen.
Was ich aber krass und wirklich unverständlich und unverantwortlich finde: wenn neue Intendanzen mit der Neugestaltung der Website die alten Inhalte einfach rausnehmen lassen. Und man nicht einmal mehr die einst gut aufbereiteten Seiten von Produktionen mit Besetzungen, Fotos, Trailern, Pressestimmen usw. aufrufen kann. Warum kann man das nicht zumindest weiter online stehen lassen? Ist das Ignoranz und Sparmaßnahme? Egomanie? Geschichtslosigkeit?
Ich frage mich seit Jahren, ob man nicht eine Theater-Archiv-Meta-Seite gestalten könnte (z.B. in Zusammenarbeit von Deutschem Bühnenverein (und seiner Werkstatistik als Grundlage), Theatermuseen, Bundeskulturstiftung, DFG, Dramaturgischer und Theaterwissenschaftlicher Gesellschaft usw., vielleicht auch nachtkritik.de?), wo diese Seiten ggf. "hinmigrieren" könnten, in einer Datenbank sortierbar nach Stücken, Regie, Darsteller*innen usw.?
Wäre das nicht ein extrem hilfreiches Tool für die Theatergeschichtsschreibung? Und eine Gegenmaßnahme gegen eitle Intendanzen, die glauben, dass "ihre" Website www.theater-xyz.ego immer wieder gänzlich neu und geschichtsvergessen umgestaltet werden muss?
Es gibt natürlich auch positive Fälle und es gibt Zusammenarbeiten (z.B. zwischen dem Burgtheater und dem Technischem Museum in der Österreichischen Mediathek, zum Erhalt der alten Audios und Videos). Aber insgesamt geht erschreckend viel verloren.
Für die freie Szene wurde das Problem erkannt und eine Initiative eingeleitet mit www.theaterarchiv.org
Aber das Problem kurzsichtiger Lokalfürst*innen an den Stadt- und Staatstheatern bleibt bislang ... Oder übersehe ich was, gibt es gute Initiativen?
Soweit meine jahrelange Trauer über den Gedächtnisverlust des Theaters. Inzwischen denke ich manchmal: Vielleicht ist es auch gut, dass Dinge vergessen werden können, wie im echten Leben. Zumal in Zeiten, in denen jeder Pups online gestellt und man von Jugendsünden noch Jahrzehnte später eingeholt wird. Vielleicht ist ja auch beruhigend und kraftvoll, dass Theater die ephemere Kunst des Augenblicks ist, und danach eben vergangen ... Ciao.
ich nehme Ihren Text auch als Bemerkung zum schlimmen Tod von Thomas Schmidt, der zuletzt nicht das Glück hatte, fest an einem Theater zu arbeiten. Ich als mittlerweise Älterer Weißer Mann erinnere mich noch daran, dass man, wenn man etwas über die Peymann- oder Steckel-Zeit am Theater Bochum wissen oder recherchieren wollte, man einfach im Stadtarchiv Bochum anrufen konnte - die hatten dort jedes einzelne Programmheft archiviert. Das war gute alte boring Archivarbeit. Ich habe diese Wertschätzung einer Stadt damals schon bewundert.
Alle diese Institutionen haben ihr Profil, die die Intensität und den Umfang ihrer Sammlungstätigkeit bestimmt – und alle haben sie mit Personalmangel, Raumnot und leider zum großen Teil auch mit einer prekären Finanzierungsnot zu kämpfen, die oftmals existenzgefährdend ist. Und es gibt immer wieder Versuche, sich in mehr oder weniger verbindlichen Interessengemeinschaften, Berufsverbänden, Arbeitsgemeinschaften u.ä. zusammenzuschließen, um gegenüber staatlichen Mittelgebern Bedürfnisse zu formulieren, wie z.B. TheSiD (Bundesverband der theatersammelnden Institutionen im deutschsprachigen Raum) und ihr internationaler Verband SIBMAS ( la société internationale des bibliothèques, des musées, archives et centres de documentation des arts du spectacle), den Verbund deutscher Tanzarchive, den Runden Tisch der Berliner Theaterarchive, UNIMA Deutschland (Union International de la Marionette Zentrum Deutschland e.V.), AG Archiv der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Allein das ist schon Teil des Problems: wer spricht hier für wen mit welcher Legitimation?
Um es kurz auf den Punkt zu bringen: ja, es wäre sehr sinnvoll, wenn sich, wie von #4 St. Berta vorgeschlagen, Theatermuseen, Bundeskulturstiftung, DFG, Dramaturgische und Theaterwissenschaftliche Gesellschaft usw., vielleicht auch nachtkritik.de zusammenfänden! Mir fielen als enorm wichtige Partner da auch noch die verschiedenen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bzw. deren outgesourcten Archive ein, die Verwertungsgesellschaften (GEMA, VG Wort etc.), der Deutsche Bühnenverein, die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger, der Verband deutscher Bühnen- und Medienverlage, die Kultusministerkonferenz und der deutsche Städtetag – und ich bin mir nicht sicher, dass ich da jetzt nicht wichtige Partner vergessen habe. Denn worum geht es? Um die rechtlichen Bedingungen und damit auch die finanzielle Sicherung der an einer Produktion Beteiligten über den Theaterabend hinaus. Um die personelle, räumliche und finanzielle Ausstattung und nachhaltige Sicherung der bewahrenden Institutionen.
Der so einfach klingende Vorschlag von #2 crunch hat es in der Konsequenz in sich. Viele der Beteiligten wären dazu bereit, wer schafft dafür die Bedingungen?
Was wäre nötig?
1. Bestandsaufnahme (was an theatralen Dokumenten wird wo bewahrt)
2. Bestandssicherung (Restaurierungs- und Digitalisierungsbedarf)
3. Präsentation online
Erste Schritte:
- Mittel für die Organisation einer Konferenz der o.g. beteiligten (Dach-)Organisationen durch Bundeskulturstiftung oder Deutscher Kulturrat zur Identifikation der gemeinsamen Ziele
- Mittel für eine Bestandsaufnahme (Personal- und Sachmittel) inkl. Präsentation des Ergebnisses und deren Auswertung
Denn man kommt ja auch gar nicht an anständige Aufzeichnungen älterer Inszenierungen. Selbst, wenn es sie gibt, vergammeln sie vermutlich auf 'ner alten VHS im Theaterkeller. Und dann gibt's ja auch noch das generelle Problem mit der Aufzeichnung ephemerer Künste. Insofern fallen mir da auch mehr Fragen als Antworten ein.
Aber eine Selbstverpflichtung für Theaterinstitutionen, auch die Zeit vor dem aktuellen Leitungsteam möglichst zugänglich zu archivieren, wäre doch tatsächlich schon mal ein Anfang.
Eine Meta-Suchmaschine existiert ja, man könnte alle Bestände in der Deutschen Digitalen Bibliothek zusammenführen...
(Liebe/r Rainer, liebe/r Eliza, schreiben Sie gerne beide eine Mail an redaktion@nachtkritik.de, dann können wir Sie miteinander verbinden. Mit freundlichen Grüßen, Sophie Diesselhorst/Redaktion)