Ein Paternoster der Kritikkritik

von Luna Ali

Berlin, 18. August 2021.

1 In jeder Wiederholung liegt ein Anfang

In seinem Text "Kritik als Berufsstörung" schreibt Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Peter Panter die folgenden Worte: "Doch sind wir leider so weit gediehen, daß Kritik nur noch als Berufsförderung oder Berufsstörung angesehen wird, und so wird denn auch der Kritiker gewertet. Lobt er, ist er für den Belobten ein großer und bedeutender Kritiker; tadelt er, so ist er für den Getadelten ein Ignorant und taugt nichts."

Diese Worte gelten auch heute noch. Tucholsky, selbst Kritiker, rechtfertigt sich in diesem, seinem Text zu einer Kritik an seiner Kritik. Während er seinem Berufsstand attestiert, keinen Einfluss auf das Publikum zu haben, so gibt er doch zu, wie viel Einfluss die Kritiken auf die Verleger, damals ausschließlich Männer, haben und auf den Absatz der Bücher. Und so entsteht, was nicht entstehen soll, nämlich ein Klüngeln, indem sich der Autor dem Kritiker anbiedert oder umgekehrt – je nachdem, wer für wen von Nutzen sein kann.

Während Tucholsky anerkennt, dass die Kritik am Klüngeln zu Grunde geht, sich deshalb immerwährend täuscht, verbittet er sich einen Vorwurf, nämlich dass seine Kritik dem Getadelten wirtschaftlich schaden könne. Er schreibt: "Ich will dem Mann schaden, wenn ich ihn tadele. Ich will die Leser vor ihm warnen und die Verleger auch – ich will aus politischen, aus ästhetischen, aus anderen offen anzugebenden Gründen diese Sorte Literatur mit den Mitteln unterdrücken, die einem Kritiker angemessen sind. Das heißt: ich habe die Leistung zu kritisieren und weiter nichts. Aber die mit aller Schärfe."

Mit dieser Schärfe endet sein Text freilich nicht, denn die Kritik hat, so behauptet es Tucholsky, nie "unmittelbare wirtschaftlich erfreuliche Folgen" und daher könne man "weiterhin unbeeinflußt von der Klüngelei kleiner Gruppen, [das sagen], was wir über die Bücher zu sagen haben." Versöhnlich.

2 Begrüßung

Liebe freie Szene, liebe Kulturjournalist:innen, ich freue mich heute hier sein darf. Georg Kasch hat mich gebeten, über den Status quo des Kulturjournalismus zu sprechen zwischen Prekarisierung des Journalismus, neuen Erkenntnissen zu Teilhabe und Öffentlichkeit und die mangelnde Repräsentation (Kulturjournalismus oh so white…). Welche Hausaufgaben hat der Kulturjournalismus nicht gemacht? Wo sind seine blinden Flecken? Braucht's ihn noch?

Luna Ali 600 Paul Lovis Wagner uLuna Ali © Paul Lovis Wagner

Meine erste Reaktion war: Wurde mit Tucholsky nicht bereits alles gesagt? Sprich: Ist die Macht des Kritikers auch keine direkte, so wirkt sie doch wie ein Türsteher: Die Kriterien sind meist intransparent, in manchen Fällen diskriminierend und nicht nur an der Qualität des kritisierten Objekts bemessen, sondern an privaten Beziehungen, am besten man kümmert sich nicht weiter drum. Und weil das so ist, wäre die einzige Hausaufgabe, die ich dem Kulturjournalismus aufgeben würde, alles niederzustampfen und von vorne zu beginnen, die Strukturen, sie sind zu alt, zu versteift, die nun umzulenken, das wäre nicht die Mühe wert, deshalb neu anfangen. Aber mit dem Neuanfang, das ist so eine Sache, keine einfache, das weiß ich.

3 Verortung

Ich habe mich also schwer getan mit dem Thema. Nicht nur weil das Thema schon so zerredet worden ist. Sondern wegen des Umstands, der schon bei Tucholsky anklingt: Kritiker:innen haben eine besondere Macht. Ich bin Autorin, ich bin die, die in der Kritik steht, sich einer Kritik stellt, nein, davor wäre noch der Schritt, überhaupt in Frage zu kommen, kritisiert zu werden, wenn sich denn jemand erbarmte.

Wenn ich also zu euch spreche, dann doch nicht gänzlich frei von auf mich einwirkenden Machtstrukturen. Nur heute, jetzt für 20 Minuten, ist es etwas anders, da darf ich auf Eure offenen Ohren und Herzen hoffen. Ich rede, Ihr schweigt. Schweigen ist hier aber kein reeller Machtverlust, denn in diesem Schweigen denkt das Urteil. Später also kann sich die Kritik der Kritik der Kritik in den verschiedenen Gesprächen Platz verschaffen. Und von den Kolleg:innen hoffentlich ein zustimmendes Nicken.

4 Gestern heute

Die erste Frage, die ich mir stellte, war, was weiß ich eigentlich von Kritiken? Ein paar habe ich gelesen, Tucholsky kannte ich auch, Kulturwissenschaften habe ich studiert, selbst Kritiken verfasst, damals beim Theatertreffen der Jugend, auch Kritik an mir, meiner Arbeit gab es. Aber nun geht es ja auch nicht nur um Kritiken, sondern das ganze weite Feld des Kulturjournalismus. Also erst einmal eine Recherche, das Feld abstecken:

Anfangen hat es mit dem Kulturjournalismus im 18. Jahrhundert, da ging es wie heute schon um Texte, die Meinungen und Kritiken wiedergaben, beigefügt der Zeitung, abseits der wichtigen Themen, Politik und Wirtschaft. In den 1910er und 1920er Jahren erlebte der Kulturjournalismus wie der gesamte Journalismus dank wirtschaftlichem Aufschwung und der Bildungsreformen des späten 19. Jahrhunderts eine Blütezeit, wurde jäh unterbrochen vom Nationalsozialismus und schwang sich in den 1970er und 1980er Jahren erneut auf. Und heute? Der sinkende Umsatz der Printmedien führt zu immer weniger Platz im Feuilleton, von allen Seiten schallt es Qualitätsverlust, komplexe Themen werden immer weniger in ihrer Vielschichtigkeit debattiert. (Ich möchte an den unsäglichen Pro/Contra-Artikel der ZEIT zum Thema Seenotrettung erinnern. Hier wurde tatsächlich darüber debattiert, ob Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden sollen oder nicht.)

Kulturjournalismus ist zum Förderfall geworden. Private Stiftungen und die öffentliche Hand streiten sich, wessen Aufgabe es nun sei, den Kulturjournalismus für das nächste Jahrhundert zu wappnen. Manche Kultureinrichtungen sehen darin die Hoffnung, ein solidarisches Netz zu spinnen, während andere reagiert haben – viele Theater und Opernhäuser bringen längst eigene Magazine heraus.

Während der Kulturjournalismus in den klassischen Zeitungen an Bedeutung und Platz verliert, wächst gleichzeitig der PR-Bereich in den Kultureinrichtungen, was wiederum zur Folge hat, dass sich die Journalist:innen dem sogenannten Mainstream widmen. Wer besprochen werden will, muss den Journalist:innen Komfort bieten: Bei Festivals ist das die Anfahrt, Backstagezugang und ein Hotel. Für marginalisierte Gruppen bedeutet es, was es schon immer bedeutet hat, Ausschluss; niemand wird die Ausstellung eines Vereins rezensieren, der in den 1980er Jahren durch eine Gruppe von politisch Verfolgter Exil-Iraner*innen gegründet wurde. Mir stellt sich unweigerlich die Fragen, warum heulen wir diesem sterbenden Hund eigentlich hinterher?

5 Aber nicht so schnell

Wir erinnern uns an eine Zeit, in der die Zeit gefühlt angehalten wurde. Die Straßen waren leer, das Klopapier ausverkauft, home office die Tagesordnung und Scooter spielte zur Solidarität ein online Konzert, das erstaunlich viele sich anschauten. Merkel sprach zu uns, bleibt zu Hause. Ich weiß, dass ich dachte, nun das wird alles ändern. Die Nachbarschaft könnte sich neuerfinden, Arbeit könnte sich neuerfinden, Kultur, ja, vielleicht auch die ganze Wirtschaftsweise, ich habe einen Hang zur Revolution, das möchte ich an diesem Punkt nicht verheimlichen. Und während sich gefühlt alles veränderte, blieb doch vieles beim Alten.

Kultureinrichtungen entschieden sich kurzerhand alles online zu stellen, selbst Theater, die künstlerische Form, die sich von der Gegenwärtigkeit der Schauspieler:innen speiste, von dem Moment, dass eine Schauspieler:in stolpern könnte, dass ihre Spucke in meinem Gesicht landen könnte, diese Form war plötzlich durch eine Aufnahme oder einen Livestream ersetzt und online zugänglich. Was das für den Kulturjournalismus bedeutete? Weniger Theaterrezensionen, keine Live-Konzerte, dafür ging das Geschäft mit den Büchern weiter, mit den Alben. Rezensiert wurde hier weniger, dort mehr. Was in den letzten anderthalb Jahren an (zumeist Online-)Produktionen entstanden ist, scheint merkwürdig unverhandelt geblieben zu sein. Ist das die Lücke, die der Kulturjournalismus hinterlassen hat?

6 Die Angst vor den neuen Formen

Was hat der Literaturbetrieb gezittert, als das E-Book auf den Markt kam. Der Untergang, die Apokalypse, es ist das Ende, da schwang sich einer sogar auf noch den Geruch des Papiers und die Haptik des Buchrückens zu betonen, dass es dies doch zu retten gilt. Mehr als zehn Jahre später merkt der Buchmarkt keine großartigen Einbußen, die großen und auch kleinen Verlage, sie alle haben eine E-Book-Sektion, jetzt haben auch mal die weniger langen und nur mittellangen Texte eine höhere Chance veröffentlicht zu werden, ganz ohne Buchrücken.

Das Internet scheint, laut diversen Professoren des Faches, die strukturellen Probleme des Kulturjournalismus entweder erst zu verursachen oder, und das definitiv, zu beschleunigen. Da hilft es auch nicht, dass der Kulturjournalismus recht weiß, recht bürgerlich, recht männlich, und in den meisten Fällen nicht von einer Behinderung betroffen ist. Doch das Problem fängt weder dort an, noch hört es dort auf. Und während die einen hoffen, eine Schwarze, lesbische, jüdische Kulturjournalistin mit Behinderung, möge doch erscheinen und den Kulturjournalismus in seiner jetzigen Form retten, wäre es vielleicht an der Zeit den Niedergang des klassischen Kulturjournalismus, den endlich eintreffenden Bedeutungsverlust, der schmerzlich ist, doch als Gewinn zu betrachten. Was Kulturjournalismus nicht mehr als Kultur sieht, erhält nun mehr Aufmerksamkeit, eine Demokratisierung der Kultur schließt eine Demokratisierung des Kulturjournalismus mit ein.

7 BookTok

Unter dem Hashtag #BookTok verbergen sich nun mittlerweile über fünf Milliarden Views diverser kurzer Videos. Hier stellen junge Menschen ihre Lieblingsbücher vor, diskutieren die Figurenkonstellationen, hier gibt es Kategorien wie "Bücher, wegen denen ich um 3 Uhr nachts heulte", oder: "Bücher, für die ich meine Seele verkaufen würde, um sie nochmal zum ersten Mal lesen zu können". Aus diesen Worten spricht eine herrliche Leidenschaft wie sie beim Bachmannpreis nur zu erträumen wäre.

Zusammengefunden haben sie sich vor allem seit Pandemiebeginn. Wenn die Sorge besteht, dass junge Menschen nicht lesen, sich keine Bücher mehr kaufen würden, dann ist BookTok der lebende Beweis des Gegenteils. Es ist gerade die junge Generation, die durch dieses Medium erst wieder zu den Büchern zurückfindet. Der Trend ist klar: Weg vom Text von Expert:innen hin zur Audiovisualität. Wobei hier nicht nur ein Austausch entsteht, sondern Freundschaften und ja, sogar eine ganze Community an Bücherwürmern. Dabei scheint auch das einmütige Video auf TikTok tatsächlich erfreuliche wirtschaftliche Folgen zu provozieren. (Als Beispiel möchte ich das teen fiction Buch "They Both Die at the End" erwähnen, welches 2017 erschien und im März 2021 jeweils 4000 Kopien pro Woche verkaufte, weil es unter den Top 10 der beliebtesten Bücher auf TikTok war.)

8 Den Kulturpessismus begraben

Der Kulturpessimist würde nun in BookTok den Niedergang des Geschmacks, den siegreichen Feldzug des Kitsches, die ungebremste Algorithmisierung der Kunst sehen und der Kulturpessimist hat Recht. All dies sind mehr oder weniger reale Gefahren. Im Niedergang des Geschmacks verbirgt sich die Gefahr der Monotonie, der Langeweile, der Schnelllebigkeit. Es ist wie der schnelle Fick, befriedigend, aber nicht zu vergleichen mit dem seelischen Zustand nach dem Sex in einer langjährigen und erfüllten Partnerschaft.

Im siegreichen Feldzug des Kitsches versteckt sich der Wunsch nach dem einfachen Leben, der einfachen Welt und wir wissen, dass Einfachheit schon seit der Romantik nationalistische Gefühle heraufbeschwört. Und die ungebremste Algorithmisierung der Kunst ist schlicht und ergreifend ein Albtraum, den ich gar nicht näher ausführen möchte. Auch ist die Demokratisierung der Kultur durch das Internet eine fragwürdige Angelegenheit, wenn die Gewinner:innen dieses Prozesses private Firmen sind, die sich durch die entsprechende Datenspeicherung ihre Milliarden sichern.

Aber was der Kulturpessimist mit den Kulturjournalist:innen gemein hat, in seiner Haltung gegenüber BookTok und derlei, ist eine gewisse Unwilligkeit zu akzeptieren, dass diese neuen Formen bereits überhandgenommen haben, in ihrem Kulturpessimismus drückt sich die Haltung verschränkter Arme aus. Dabei ist Kritik in ihrem Wesen eigentlich kein Widerwille, auch die negative ist es nicht, sondern entsteht erst in der Geste des sich der Welt hinwenden.

9 Urteilen und das politische Handeln

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Hannah Arendt starb bevor sie ihr letztes Buch einer Trilogie aus Denken, Wollen und Urteilen beendete. Diese drei Begriffe gehen dem menschlichen Handeln voraus, begleiten es, begründen es. Für Hannah Arendts Arbeit stand das politische Handeln des Einzelnen in einem Kollektiv stets im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen.

Während Arendts Begriff des Urteils von Kants Geschmacksurteil abgeleitet ist, verortet sie das Urteilen in der Sphäre der Politik, und nicht nur im Bereich der Ästhetik, denn "Wenn man urteilt, urteilt man als Mitglied einer Gemeinschaft". Dabei unterteilt Arendt Urteilen in zwei Kategorien. Einmal meint das Urteilen "das ordnende Subsumieren des Einzelnen und Partikularen unter etwas Allgemeines und Universales, das regelnde Messen mit Maßstäben". Zum anderen meint das Urteilen, die Fähigkeit zu unterscheiden, "wenn wir mit etwas konfrontiert werden, was wir noch nie gesehen haben und wofür uns keinerlei Maßstäbe zur Verfügung stehen".

Für Arendt ist die Urteilskraft "das politischste der mentalen Vermögen des Menschen" und die große Herausforderung besteht eben darin, "Einzelnes ('particulars') zu beurteilen, ohne es unter solche allgemeinen Regeln zu subsumieren, die gelehrt und gelernt werden können, bis sie zu Gewohnheiten werden, die durch andere Gewohnheiten und Regeln ersetzt werden."

Was die Kritik an ihren Objekten kritisiert, ist der zur Gewohnheit gewordene Maßstab, den sie selbst erst durch ihr Urteil dazu gemacht hat. Sich dieser Kreisbewegung bewusst zu werden, führt uns einen Schritt näher heran, zu verstehen, dass Kritik, wenn sie denn gut gemacht wird, nicht nur ein Gefallen oder Missfallen beinhaltet; Kritik ist ein Urteil sprechen im Arendt'schen Sinne: Die Tätigkeit des Urteils drückt die Einzigartigkeit des Urteilenden aus, seine Stellung in und zur Welt. Verallgemeinert sie ihren Standpunkt verleugnet sie diesen Grundsatz.

Dieser Grundsatz ermöglicht erst in der Einzigartigkeit eine Gemeinsamkeit mit anderen zu sehen. Erst dieses Erscheinen der Einzigartigkeit als Gemeinsamkeit bindet die Menschen in ihrem gemeinsamen Besitz zur Welt. Denn Urteilen bedeutet auch, eine Übereinkunft mit anderen darüber zu finden, was etwas ist und wie es in Erscheinung tritt. Und so verstehe ich die Aufgabe der Kritik als Raum des Urteilens. Es ist ein Raum, der den Gemeinsinn kreiert, ihm neues hinzufügt, anderes wieder entzieht. Es ist der Raum, in dem ein Bewusstsein darüber existiert, dass wenn der eigene Standpunkt keine Allgemeingültigkeit besitzt, wir erst die Fähigkeit haben uns in andere hineinzuversetzen, ohne die eigene Identität aufzugeben.

10 Fazit

Der Unzufriedenheit der Kritisierten lässt sich nicht ohne weiteres mit den strukturellen und ökonomischen Problemen, denen Journalist:innen ausgesetzt sind, entgegnen. Die Kritik an der Kritik drückt ein Unverständnis aus, ein nicht übereinkommen, gepaart mit jener Machtungleichheit, die Tucholsky anklingen ließ. Kulturjournalismus, darin liegt seine Macht, bestimmt nicht nur, was Kultur ist, sondern vor allem, was gute Kultur ist, und gut ist keine objektive Kategorie. Sich immerwährend in dieser Ambivalenz zu bewegen, diese auszuhalten, den Blick offen zu halten, sich nicht an Maßstäben zu orientieren, in der eigenen Einzigartigkeit den Standpunkt zu finden, ist die große Herausforderung.

Ich habe diesen Text "Paternoster der Kritikkritik" genannt, nicht nur, weil die letzten funktionierenden Paternoster in Medienhäusern sich immerwährend im Kreise drehen oder der Paternoster an die Praxis der Kritikkritik und Selbstkritik erinnert. In diesem Sinne, glaube ich auch, die Kritik der Kritik ist ein Selbsterhaltungstrieb, indem wir uns gegenseitig immer wieder kritisieren, belegen wir uns, wie wichtig wir einander und füreinander sind, zumindest im Sinne des symbolischen Kapitals.

Nehmen wir die Wiederholung als positive Metapher, dabei will ich diese Wiederholung ganz nach Deleuze verstanden wissen: "Die Form der Wiederholung in der ewigen Wiederkehr ist die brutale Form des Unmittelbaren, die Form, in der sich Singuläres und Universales vereinen, und die jedes allgemeine Gesetz entthront, die Vermittlungen zerschmelzen und die dem Gesetz unterworfenen Besonderen untergehen läßt." Für Deleuze ist in der Wiederholung erst die Differenz sichtbar, erst in der Wiederholung lassen sich die Möglichkeiten der Veränderung erspähen. Man zeigt nie zweimal in denselben Fluss. Fangen wir also wieder von vorne an, mit Tucholsky, die Kritik soll scharf sein, sie darf wehtun. Und gehen wir wieder zum Ende; die Kritik sie möge auch ein Urteil sein.

Die wertvollste Kritik geht vom Werk aus, von seiner eigenen Gesetzmäßigkeit, nicht von außen auferlegten Maßstäben, um dann Schritt für Schritt die Gesetzmäßigkeiten des Werkes mit dem eignen Standpunkt zu verschränken. Wie spricht dieses Werk zu mir? Zu meiner Geschichte, und dabei meine ich keineswegs eine rein individuelle Lebensgeschichte, sondern zu mir als Person in einem bestimmten politischen und geschichtlichen Kontext. Diese Kritik, so respektvoll und nahbar sie auch sein mag, wird auch schmerzhaft sein, öffentliche Kritik tut immer ein bisschen mehr weh als das private Einzelgespräch; es ist eben das Wagnis der Öffentlichkeit, von dem Karl Jaspers sprach und welches von Arendt näher gefasst worden ist: In diesem Sinne sind wir uns in unserem Handeln als Kritiker:innen und Kunstschaffende nicht fern, man tritt in der Öffentlichkeit immer als die eigene Person auf und handelt – Schreiben ist wie Sprechen ein Handeln – in der Ungewissheit, was dieses Handeln bewirken wird und man muss darauf vertrauen, dass das Netz der Beziehungen, in welches man sich begeben hat, einen als Menschen empfängt, als einer unter Gleichen.

Der anstehende Austausch wird, so hoffe ich, uns bewusst machen, dass es nicht darum geht den Kulturjournalismus zu retten. Es geht nicht um meinen persönlichen Geschmack, ab wann ich gerne Kritiken lese, gerne gewitzt, wenn es irgendwer doch wissen möchte oder ob sich nun alle auf TikTok umschulen müssen. Die großen Herausforderungen unserer Zeit sind der anstehende Klimawandel, die zu oft tödlich endende Migration, eine Digitalisierung, deren Entwicklung nicht ansatzweise vorhersehbar sind.

Wenn wir also Kritisieren, dann ist die Form zweitranging, Vorrang hat das Bewusstsein darüber, warum und wie wir handeln. Wie kann man die Welt lieben?, hat Arendt gefragt, meine Antwort wäre: mit engagierter Kritik!

 

Der Vortrag von Luna Ali eröffnete das Symposium "Zwischen Verriss und Marketing – Die Zukunft des Kulturjournalismus im Dialog mit der Freien Szene" am 11. und 12. August 2021 in Berlin. Das Symposium wurde vom Performing Arts Programm Berlin, einem Programm des LAFT – Landesverband freie darstellende Künste Berlin e. V., veranstaltet.

 

Luna Ali, geboren 1993 in Syrien, studierte Antropologie an der Universität Leipzig, Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie arbeitete als Autorin unter anderem an Produktionen an den Schauspielhäusern Düsseldorf, Dortmund, Hannover sowie in Berlin. Seit 2012 ist sie Kuratorin des Kulturprogramms beim Fuchsbau Festival.

Der Vortrag eröffnete das Symposium Zwischen Verriss und Marketing – Die Zukunft des Kulturjournalismus im Dialog mit der Freien Szene am 11. und 12. August 2021 in Berlin. Das Symposium wurde vom Performing Arts Programm Berlin, einem Programm des LAFT – Landesverband freie darstellende Künste Berlin e. V., veranstaltet.

 

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