Die Hölle auf kleiner Flamme

von Andreas Wilink

Duisburg, 19. August 2021. Ja, doch, in Dantes Alighieris "Comedia" wird auch getanzt. Beim Gang entlang der Stationen des Läuterungsbergs (X. Gesang) sehen Dante und Vergil einen skulptural gestalteten Hang, der: "Von weißem Marmor war, und daß ihn schmückte / Solch Bildwerk, daß da nicht nur Polyklet, / Selbst die Natur an zweite Stelle rückte." Diese grandiosen Reliefs menschlicher Körper, darunter der vor der Bundeslade tanzende König David, seien schöner, als die Natur oder die Hand des antiken Bildhauer-Meisters Polyklet sie zu schaffen vermocht hätten.

Im Dunkel-Bezirk

Florentina Holzinger interessiert sich keine Spur für die Harmonie Winckelmann'scher Kunsttheorie und eine Reise zu den Elysischen Felder. Sondern für die Finsternisse. Wissend, dass das Schöne nichts ist als des Schrecklichen Anfang, verschafft sie sich gewissermaßen gewaltsam Einlass in den Dunkel-Bezirk des Diesseitigen – das Jenseits ist suspendiert.

a divine comedy1 560 c nicole m wytyczak uHöllentour mit Dante: Florentina Holzingers Tanzabend "A Divine Comedy © Nicole M. Wytyczak

Der Tod und die Mädchen sind schon da. Er führt als Klappergestell der Cellistin den Bogen oder schaut der Pianistin am Flügel über die Schulter. Einige tragen ihn als Skelett huckepack. In der in ihrer Tiefe verkürzten Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks, dieser ungeschminktesten aller Festivalhallen der Ruhrtriennale, beginnt "A Divine Comedy" mit einem artfremden Prolog: einer therapeutischen Hypnose-Übung. Eine Schlaf-Fee und Meditations-Entertainerin wie aus einer italienischen TV-Show lullt ihre Sechsergruppe ein, erweckt unter ihrem Einfluss eine junge Frau zu Dante und befragt die Träumenden nach ihren Jenseits-Erfahrungen. Der Himmel bleibt dabei eine friedvoll naive Vorstellung. Allein die Hölle hat Realitätsgehalt.

Scherze mit Furzen

Die zu Dante erwachte Tänzerin greift sich dessen rote Kappe und Umhang, furzt erst mal und sucht ein stilles Örtchen, weil es sie auf die Blase drückt. Der ambulante, Dampf ablassende Abort ist Einlass zur Unterwelt. Das sind so Wiener Scherze: Holzingers Dante lässt einen fahren, statt den Vers zu deklamieren: "Laßt jede Hoffnung, die ihr mich durchschreitet". Aber das muss uns nicht stinken.

a divine comedy2 560 c nicole m wytyczak UTotentänze unter PKW: in der Ruhrtriennale-Choreographie von Florentina Holzinger © Nicole M. Wytyczak

Bei Dante ist die Hölle nicht nur heißer Ofen, sondern auch Kältekammer. Wäre nicht zu erwarten gewesen, dass Holzinger diese Temperaturstürze auf die Skala physischer Extreme übertragen hätte? Aber es bleibt lauwarm – zwei Stunden auf kleiner Flamme. Holzinger verschränkt den Besuch bei den Toten der "Comedia" mit der Lebensgeschichte von Tänzerinnen, im Besonderen derjenigen, die Beatrice verkörpert – einer an Parkinson erkrankten älteren Frau, die von sich mitteilt. Dies sind die einzig anrührenden Momente als 'echte' Begegnung mit dem Tod: dem zweifachen, wie sie sagt. Dem ersten, wenn jemand zu tanzen aufhören muss, danach dem realen Ende. Angesichts dieser seelischen Beschädigung treffen sich Dantes "Comedia" mit den erzählten Schicksalen der Toten in ihrem "wechsellosen Dasein" (Hegel) und Holzingers meinethalben feministische Fantasie. Alles Weitere ist ephemer.

Schauspiele des Homo Artista

Auf der Bühne ist einiges los, aber nicht viel Substantielles. Nackter Tanz, Knochenarbeit, gewiss, auch. Die Bühne – athletischer Schaukampfplatz und erotische Intimzone für knapp zwei Dutzend Performerinnen, junge und nicht mehr junge, die ihren Körper als Instrument der Selbstverteidigung bewegen und als leibeigenen Leidtragenden zeigen. Der weibliche homo artista sprintet auf Befehl los zum sich wiederholenden Hürdenlauf, während auf Leinwänden parallel Tierkadaver seziert werden und unter der Decke bedrohlich zwei aufgehängte Kleinwagen sich im Sinkflug befinden und irgendwann landen.

a divine comedy4 560 c nicole m wytyczak uDie Bühne (von Nikola Knezevic) als athletischer Schaukampfplatz und erotische Intimzone © Nicole M. Wytyczak

Auf Treppen-Rampen rollen Körper hinab oder posieren wie zum Höllensturz. Ein Motorrad kurvt über die Szene. Zu Ketten rasselnden, knatternden Klängen und wuchtigem Getöse werden Baumstämme malträtiert, zersägt und zerhackt, unterdessen Performerinnen anmutige Figuren tanzen. Wer da was und weshalb auf dem Kerbholz hat – Fragezeichen! Die Werkstatt verwandelt sich in einen ekstatischen Technoclub, um dann Ort für das Happening eines Action- und Body-Paintings zu sein. Die knallbunte Sauerei und Suhlerei endet als Masturbations-Solo, worauf sich nach einem weiblich sanften Liebes-Intermezzo ein Folterkeller auftut, der u.a. eine Tortur mit einer Ratte vorführt und diese höhnisch als "Paradies" bezeichnet. Dann kehrt alles auf Anfang zurück: Dante erwacht – eine fellineske Lachnummer mit Klobürste und hopsenden Skeletten.

Slapstickiade statt Totentanz

Weder spürt man das Kathartische einer Kunstanstrengung, die Holzinger für sich reklamiert, noch erreicht Stilisierung eine zwingend ausformulierte Schärfe oder entsteht überhaupt der Eindruck dramaturgischer Stringenz. Die Choreografie findet nicht, außer in der Behauptung und als Slapstickiade, die Anbindung an den mittelalterlichen Totentanz mit seinem gleichmachenden Ständereigen, in dem niemand gefeit ist vor dem Courmacher, Galan und Ballettmeister Tod. Lieber montiert bzw. demontiert sie Elemente uns vertrauter Verdinglichung: wie sich Drill den Leibern einbläut, wie ihn Erwartungen von Beauty, Fitness und Verfügbarkeit stempeln, wie sich Nacktheit in Versehrtheit verkehrt oder voyeuristischer Fremdbestimmung stellt.

Zum Team gehören auch 15 Forschungs-Berater, darunter Thomas Macho, Autor der epochalen Studie über "Todesmetaphern". Dem Buch hat er ein Motto von Edmond Jabès vorangestellt: "Man denkt nicht den Tod, die Leere, das Nicht-Seiende, Das Nichts; sondern deren unzählbare Metaphern: eine Art und Weise, das Ungedachte zu umreißen." Auch Dantes "Comedia" ist solch ein Denkversuch über das Ungedachte. Holzingers Tanz-Exkursion ist es nicht.



A Divine Comedy
von Florentina Holzinger
Regie: Florentina Holzinger, Komposition / Sound: Maja Osojnik, Stefan Schneider, Bühne: Nikola Knezevic, Licht: Anne Meeussen, Max Kraußmüller, Video: Noam Gorbat, Dramaturgie: Renée Copraij, Sara Ostertag, Sara Abbasi.
Performance / Choreografie: Foxxy Angel, Amanda Bailey, Linda Blomqvist, Renée Copraij, Beatrice Cordua, Paige A. Flash, Alba Gentili-Tedeschi, Noam Gorbat, Ria Higler, Florentina Holzinger, Susanne Jablonski, Steffi Laier, Annina Machaz, Courtney May Robertson, Audrey Merilus, Xana Novais, Maja Osojnik, Bärbel Schwarz, Anna Tierney, Linnéa Tullius, Miranda van Kuilenburg, Isabelle Volckaert.
Premiere am 19. August 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist eine Nummernrevue, es ist unterhaltend, es ist auch absoluter Stuss. Aus meiner Sicht kann man viel darüber diskutieren. Aber es führt im Prinzip alles zu nichts. Es macht aber schon Spaß, mit was für einer Gewissenlosigkeit sie sich all dieser Theatermittel bedient und daraus einen durchaus schwungvollen Abend zusammenschustert", berichtet Stefan Keim für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (19.8.2021)

"Womöglich will Holzinger den männlichen Blick – wenn er sie überhaupt interessiert, wie er eine Pina Bausch interessiert hat – zugleich triggern und frustrieren. Schau her, es ist alles da und doch nichts zu sehen, scheint sie dem (männlichen) Zuschauer zuzurufen. Es gibt keine Scham, aber es gibt auch kein Geheimnis. Und keine politische Agenda. Es gibt nichts – außer der 'Show'." So versucht sich Martin Krumbholz von der Süddeutschen Zeitung (21.8.2021) einen Reim auf diesen Abend zu machen, der wenig mit Dante zu tun habe.

"Holzingers martialische Performancefeldzüge gehen hier mit erstklassiger Grand-Guignol-Kunst eine fiebersenkende Liaison ein", berichtet Margarete Affenzeller für den Standard (20.8.2021). Holzinger folge grob dem Ablauf der "Göttlichen Komödie", und "doch ist alles ganz anders. Hier wird zügig Holz gehackt, Blut abgezapft, Sex vollzogen, eine Ratte seziert und vieles mehr. Es ist thrilling mitanzusehen." Die Wiener Choreographien habe "nichts anderes vor, als Grenzen zu überschreiten: Schmerzgrenzen, Gefahrengrenzen, Geschmacksgrenzen. Mit einer kampfkunstgeschulten Körper- und Theatersprache rollt Holzinger Stoffe der Hochkultur neu auf."

Einige "ansatzweise" berührende Momente, vermerkt Regine Müller von der taz (23.8.2021). Im Übrigen verliere sich die Arbeit in zähen Wiederholungen und kranke an ihren banalen Tonspur, die aus der Welt der Hochkultur nur die abgenutztesten Motive zu zitieren wisse. "Dem Abend fehlen Tempo, Dramaturgie, Stringenz und vor allem echte Härte. Wenn hier eine radikal-feministische Haltung versteckt ist, dann bestenfalls in bloß angedeuteter Selbstironie."

"Es tut einem körperlich weh, zuzuhören, zuzuschauen." so Anke Schaefer rbb24 (24.9.2021). Aber das solle auch so sein, gesteht die Rezensentin zu, schließlich wolle Holzinger eigener Aussage nach in einem "Experimentierfeld der Extreme" den "Tod selbst sezieren". Ratlos bleibt die Kritikerin trotzdem: "Warum läßt Florentina Holzinger ihre nackten Performerinnen den Höllentanz in dieser männlich geprägten Szenerie vollführen? Ist das ein feministischer Ansatz - nackte Frauen bespielen die Symbole und Fantasien der Männlichkeit?" Und kommt zum Ergebnis: "Es mag ausgeklügelt und provokant sein, dieses Spektakel. Aber Erkenntnis lodert kaum auf."

"Man kann nie sicher sein, in welchem der drei jenseitigen Bereiche man sich gerade befindet, aber man fühlt stets den abstoßend-attraktiven Kitzel der ganz diesseitigen Gefahr", beschreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (24.9.2021). Klar sei der Abend auch kitschig, grell, und "das Exerzitium in der Übergriffigkeit der Bilder" schwer zu ertragen - "aber die Dringlichkeit und die Selbstverständlichkeit, mit der die Frauen aus ihren Kleidern und Rollenmustern steigen, im geschützten Raum des Theaters ihre Schamgrenzen hinter sich lassen und einander beim Spielen genießen – das hat utopische Kraft und dramatische Wucht."

"Florentina Holzinger greift tief in die Trickkiste des Theaterprovokation", berichtet Sandra Luzina nach der Berlin-Premiere der Produktion im Tagesspiegel (25.9.2021). "Ein ernsthaftes Nachdenken über den gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod und über die theatralen Darstellungskonventionen ist 'A Divine Comedy' nicht. Und trotz des Einsatzes der Hypnotiseurin auch keine Reise in das eigene Unbewusste. Skandalös oder verstörend wirkt hier nichts. Florentina Holzinger schafft ein höllisches Spektakel, das streckenweise sogar ganz unterhaltsam ist. Und sie huldigt wieder ihren Obsessionen, zeigt aufgehängte Frauen, Kleinwagen – und ein schwebendes Klavier. Kein Schock, aber viel Schauwert."

 

Kommentare  
A Divine Comedy, Berlin: Lauer Aufguss
Der Hype um ein Stück verführt Künstler*innen oft dazu, eine erfolgreiche Idee zur Marke auszubauen: im besten Fall werden sie Kult, im schlechteren Fall zur Masche, die sich nach ein paar Wiederholungen totläuft. Welchen Verlauf die Karriere von Florentina Holzinger nehmen wird, ist noch ungewiss. Aber „A Divine Comedy" ist leider nur ein lauer Aufguss von „Tanz“.

Nach einer überlangen Parodie auf Hypnose-Shows zum Einstieg bietet Holzinger in einer ebenso bunten wie wenig stringenten Revue alles auf, wofür ihre Performances stehen: nackte Frauen, die über Hürden sprinten oder kopfüber von der Decke baumeln, viel Ekel-Theater mit Großaufnahmen sezierter Ratten, dazu eine Prise Happening und Fluxus-Action-Painting und schließlich noch mehr furzende und kackende nackten Frauen.

Zu oft hängen diese zwei Stunden durch, zu wenig hat die Performance mit dem Dante-Meisterwerk „La Divina Commedia“ zu tun.

Immerhin darf sich Florentina Holzinger glücklich schätzen, dass ihre Idee, den Performerinnen Skelette auf den Rücken zu schnallen, dem Intendanten René Pollesch und seinem Team so gut gefiel, dass sie sie gleich für ihre Eröffnungspremiere abkupferten und Martin Wuttke dort ebenfalls mit einem Skelett auftrat.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/09/23/a-divine-comedy-florentina-holzinger-volksbuhne-kritik/
A Divine Comedy, Berlin: Sex und Sterblichkeit
"I should move to a new city and teach myself how to die"

Wie lässt sich der gestrige Abend, die Berliner Premiere von Florentina Holzingers "Divine Comedy", einordnen?

Gleich vorweg: Mit Dante hat das alles wenig zu tun. Was freilich nichts ist was an sich problematisch wäre, zu den besten Theaterabenden zählen kluge, hybride Aneignungen tradierter Text-und-Kunstformen.

Das Programmheft versprach "eine mögliche Spiritualität im 21. Jahrhundert" und dann geht es dann doch recht protestantisch-körperlich zur Sache. Alle Stilmittel des Bürgerschreck-Theater werden aufgefahren: Malereien mit eigenem Blut, kollektives Koten, lesbischer Sex, Masturbation zu sakralen Klängen. Der Abend entwickelt in diesen Momenten eine große Komik aber auch viel Leerlauf.

Gleichzeitig kann gegenwärtig niemand im deutschsprachigen Raum so geniale Choreografie denken, wie Holzinger. In diesem Momenten geht der Abend auf, fast ist man drin im dyonischem Rausch eines richtigen gelungen Theaterabends. Aber dann kommt schon der nächste, pubertäre Fäkalien-Witz und man erinnert sich daran das der Abend seine vielen Versprechen dann doch nicht so richtig einlösen kann.

Sex und Sterblichkeit passen grundsätzlich natürlich wahnsinnig gut zusammen, aber hier hätte es einer stärkeren Dramaturgie bedurft.

Das Potenzial zu einem wirklich großem Abend ist vorhanden in "Divine Comedy", wartet aber noch auf seine Einlösung.

Oder vielleicht ist die große Fallhöhe des Abends, permanent schwankend zwischen genialen Zugriffen und Blödeleien, auch nur wieder eine Metapher für "Himmel und Hölle im Hier und Jetzt."
Divine Comedy, Berlin: Showspektakel
Schade, vielleicht hätte diese Produktion in den 70' noch irgendwo gefunzt. Aber ein halbes Jahrhundert später für mich eben nicht mehr. Showbasiertes und auf Effekthascherei ausgelegtes Spektakel. Kresnik's Goya,oder auch Meinhof an der Volksbühne haben damit auch kokettiert,aber mit inhaltlicher Stärke,die ich heute gänzlich vermisste.Sehr schade.
Divine Comedy, Berlin: Formidabel
#2: Formidabel beobachtet und auf den Punkt gebracht.
A Divine Comedy, Berlin: nur noch obszön
Das Stück hat mit der literarischen Vorlage von Dante nichts mehr zu tun. Dante will in seinem Stück dem Protagonisten etwas lehren über Leben, Liebe und Tod. In der Volksbühne wird davon nichts sichtbar. Skelette auf dem Rücken der unbekleideten Schauspielerinnen (sind ja nur weibliche Darsteller) sind das einzige "Komödiantische" auf der Bühne. In Großaufnahme wird eine Ratte seziert und präpariert, in Großaufnahme wird sich selbst befriedigt und der Darm entleert. Zum Schluß legt sich noch eine Darstellerin mit dem Gesicht in ihre eigenen Fäkalien, die auf einer Farbpalette "präsentiert" sind. In dieser Hinsicht bin ich doch lieber konservativ in meinem Kunstverständnis. Das was als "Divine Comedy" über die Bühne geht ist nur eine Anreihung von Obszönitäten und Ekeleffekten und hat mit Kunst nicht mehr viel zu tun. Mir tun nur die Darstellerinnen leid, die ihre Kunst "so vor die Säue" werfen mußten. Sie haben viel besseres verdient.
Divine Comedy, Berlin: Fabre-Zitat
Das mit den Skeletten auf dem Rücken hat Jan Fabre in „Belgium rules“ schon recht ausgiebig vorgeführt. Ist also ein Zitat vom Zitat usw.
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