Gehemmt und doch inspiriert

26. August 2021. Corona hat in der Iraner Theaterszene lediglich Widersprüche verschäft, die schon zuvor bestanden. Aber die Kunstszene des Landes fühlt sich nicht nur gehemmt, sondern auch experimentierfreudig.

Von Narges Hashempour

 

Gehemmt und doch inspiriert

von Narges Hashempour

26. August 2021. Der Dezember 2019 war ein seltsamer Monat im Iran. Ähnlich wie im Dezember zuvor war die Luftverschmutzung so hoch wie nie zuvor. Eine Kombination aus landesweiter Umweltbelastung, Erkältungswellen und Grippeausbreitung (wer weiß, vielleicht war es bereits das Covid-19-Virus) führte zu häufigen Schulschließungen. Außerdem wurden ältere Menschen und Menschen mit chronischen Krankheiten von der Regierung angewiesen, zu Hause zu bleiben.

In der Zwischenzeit beeinträchtigte die Flut von Sanktionen, die die Regierung von Donald Trump gegen den Iran verhängt hatte, das Leben der Menschen und auch den Zustand chronisch Kranker, da es an Medikamenten und medizinischer Ausrüstung fehlte. Anfang Dezember 2019 klangen die massiven Proteste jedoch auch allmächlich ab, die im November nach der Umverteilung von Benzin begonnen hatten, Proteste, bei denen es viele Tote, Verwundete und Inhaftierte gab und die große Schäden verursachten. Und zwar auch, weil ein mehrtägiger Ausfall des Internets die Gesellschaft von sich selbst und der Außenwelt abgeschnitten hatte.

Beginnender Niedergang des Theatersektors

Diese Unterbrechung des Internets verursachte auch Einbrüche beim Kartenverkauf von Theateraufführungen. Viele Theater blieben leer und waren finanziell angeschlagen, insbesondere die halbprivaten Theater, die in denvergangenen 15 Jahren von Künstlern gegründet worden waren, die darum kämpfen, sich vom staatlichen und offiziellen Theatersystem unabhängig zu machen. Da die iranische Kultur schon immer einen geringen Anteil am Staatshaushalt hatte, begrüßte der Staat die finanzielle Privatisierung des Theaters, bestand aber paradoxerweise weiterhin darauf, den gesamten Inhalt der Theaterpraxis zu kontrollieren.

Theaterbrief Iran 1 Yamaha directed by Kahbod Taraj RezaJavidi u"Yamaha" in der Regie von Kahbod Taraj: live aufgeführt im Februar 2021 © Reza Javidi

Das Zentrum für Darstellende Künste des Ministeriums für Kultur und islamische Führung als wichtigster staatlicher Treuhänder des Theaters versäumte es, den betroffenen Theaterkünstlern finanzielle Unterstützung zu gewähren. Aufgrund fehlender Haushaltsmittel und der Privatisierungspolitik kündigte das Zentrum an, dass Theateraufführungen ab Anfang 2020 an der Abendkasse eine Mehrwertsteuer von 9 Prozent entrichten müssen, obwohl Künstler, insbesondere Theaterkünstler, gesetzlich von der Zahlung von Steuern befreit sind. Die Behandlung der darstellenden Künste als Ware beschäftigt und plagt die Theatergruppen.

Trotz all der Schwierigkeiten Anfang 2020: das Theater atmete noch, und viele Theatergruppen kündigten ihre Bereitschaft zur Teilnahme am 38. Internationalen Fadjr-Theaterfestival an, dem wichtigsten Ereignis der darstellenden Künste im Iran, das jährlich im Februar stattfindet. Das Spannendste an diesem Festival war für mich die neu hinzugekommene Sektion "Aufführungen anderer Genres", bei der ich Mitglied des Auswahlkomitees war. Die künstlerischen Arbeiten mussten sich in Idee, Form, Raum und theatraler Kommunikation von herkömmlichen Theaterproduktionen unterscheiden. Während des Auswahlverfahrens war das Komitee positiv überrascht von der Vielfalt der Arbeiten.

Doch am 7. Januar 2020 wurde die Boeing 737-800, die auf der Strecke von Teheran nach Kiew unterwegs ist, kurz nach dem Start vom internationalen Flughafen Teheran Imam Khomeini abgeschossen. Alle 176 Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Noch drei Tage nach dem Unglück betonte die Regierung, dass das Flugzeug aufgrund eines technischen Defekts abgestürzt sei. Am 11. Januar 2020 räumte sie dann ein, dass der Unfall auf einen menschlichen Fehler zurückzuführen sei, ein Militärmitarbeiter hatte das Flugzeug mit einem Marschflugkörper verwechselt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Iran in höchster Verteidigungsbereitschaft und war auf einen Krieg vorbereitet. Zu Ehren der Opfer wurden viele künstlerische Aktivitäten, die meisten Theater, Konzerte und Kunstausstellungen abgesagt. Mehr als 31 Theatergruppen zogen sich vom Internationalen Fadjr-Theaterfestival zurück, darunter die meisten Gruppen aus der Sektion "andere Genres".

Covid-19: Das Ersticken des Theaters...

Der nächste Schicksalsschlag für das iranische Theater war dann der Ausbruch von Covid-19. Die Aufführungen wurden abgesagt und die Theater geschlossen. Die Schließung der Theater gefährdete die wirtschaftliche Lage und den Lebensunterhalt der Theaterkünstler noch mehr. Durch die Umstände wurden auch die privaten Theater, die zumeist Spielstätten gepachtet hatten und ihre Ausgaben durch die Aufführungen bestritten, weiter in die Finanznot getrieben. Bisher wurde noch keine Theatergruppe vom Zentrum für Darstellende Künste des Ministeriums wirklich unterstützt. Im Schatten der Versprechungen, den Lebensunterhalt der Künstler zu sichern, verloren bis März 2021 etwa 25 000 Theaterleute ihren Arbeitsplatz, und allein in Teheran wurden etwa 120 Theater geschlossen.

Theaterbrief Iran 3 CityTheaterFarsAgancy HamidTavakoli uDesinfektionsmaßnahmen im City Theater Teheran im Mai 2020 © Fars Agency / Hamid Tavakoli

Im Januar 2021 verbot der Religionsführer Ali Khamenei die Einfuhr von Impfstoffen aus den USA und dem Vereinigten Königreich, so dass die einzigen legal eingeführten Impfstoffe aus Russland, China und Indien stammten (und immer noch stammen). Im Iran, der unter Sanktionen steht und die höchste Sterblichkeitsrate durch Covid-19 im Nahen Osten aufweist, haben bis August 2021 weniger als 3 Prozent der 84 Millionen Einwohner beide Dosen erhalten, die zumeist aus Russland und China importiert wurden.

In der Zwischenzeit erklärte die Regierung, dass die Theater ungehindert geöffnet werden müssten, da die Zahl der Infizierten zurückgehe; als die Zahl der Fälle jedoch wieder anstieg, ordnete sie erneut die Schließung der Theater an. Trotzdem neigten vor allem die jungen Theatergruppen dazu, das Risiko einzugehen, öffentlich aufzutreten. Seit Juli 2021 hat sich die Delta-Variante über das ganze Land ausgebreitet und die meisten Städte befinden sich nun in der "roten" Zone. Daher sind die Theater gezwungen, erneut zu schließen. Das Theater hat immer noch keine klare Vision für seine Zukunft.

...und eine kreative Chance

Im Gegensatz zu vielen Theatergruppen, die darauf warten, zum realen Theater zurückzukehren, nutzen einige Gruppen das Aufkommen von Corona, Quarantäne und Abriegelung als Gelegenheit, digitale Werkzeuge und soziale Medien zu nutzen. Zu den Initiatoren gehört vor allem das Re-connect Online Performance Festival. Nicht so starr in ihrer Sichtweise wie einige Künstler, die digitale und Online-Plattformen als leistungsfähiger ansehen oder die meinen, dass digitale Plattformen als die Zukunft der Darstellenden Künste angesehen werden sollten und ihnen demokratische Eigenschaften zuschreiben, scheint das Re-connect-Festivalteam eine Möglichkeit zu eröffnen, die Grenzen von Raum und Zeit zu durchbrechen und die Struktur der theatralen Kommunikation gleichzeitig in Frage zu stellen.

Das Re-connect Online Performance Festival wurde als Non-Profit-Organisation ins Leben gerufen, um Künstler aus der ganzen Welt in einem Akt der Solidarität zusammenzubringen. Die erste Ausgabe des Festivals fand zwischen dem 25. März und dem 17. April 2020 in den drei Bereichen Live-Performances, Vorträge und Podiumsdiskussionen statt. Mehr als 200 Werke aus dem Iran und vielen Theatergemeinschaften der Welt waren zu diesem Festival eingeladen.

Theaterbrief Iran 5 HafezTheaterDramaticArtsCenter uMasken-Nähstube am Hafez Theater in Teheran im April 2020 © Dramatic Arts Center

Nima Dehghani, der in den USA lebt und das Festival mitinitiiert hat,  ist der Meinung, dass "die Pandemie ein Moment war, in dem uns bewusst wurde, wie wenig Raum wir haben und wie groß das Potenzial der Technologie ist, um bei der Kommunikation zu helfen und Ideen und Bewusstsein zu vermitteln". Für die Gruppe des Re-connect Online Performance Festivals sind digitales und Online-Theater (nicht die aufgezeichneten Videos) nicht dazu da, um echtes Theater zu ersetzen, sondern um Menschen für ein neues Kunstformat zu begeistern.

Bedrohung und Chance zugleich

Quarantäne und Corona sind für das iranische Theater in jedem Fall sowohl eine Bedrohung als auch eine Chance. In Anbetracht der strukturellen Probleme, mit denen das iranische Theater früher konfrontiert war, ist es vielleicht nicht einfach, sich eine klare Vision für die jüngste Corona-Ära vorzustellen. Mittlerweile sind viele Theaterschaffende sesshaft geworden oder haben sich einem Nebenjob zugewandt.

Andererseits hat die pandemische Situation die Theatermacher dazu motiviert, eine neue Wissensbasis für Medien und Plattformen zu schaffen, die ihnen früher weitgehend unbekannt waren, und neue Räume zu entdecken, um mit ihrem Publikum zu kommunizieren und ihm eine alternative Aufführungserfahrung zu vermitteln. Die Online- und Digitalplattformen bieten dem iranischen Publikum trotz ungerechtfertigter Internetbeschränkungen wie gesperrten Websites oder oft schwerwiegenden Unterbrechungen des Internets auch die Möglichkeit, mit der Welt in Kontakt zu treten. So kann das iranische Publikum zum Beispiel das jüngste Werk von Amir Reza Koohestani, "Woyzeck Interrupted" am Deutschen Theater Berlin, über die Vimeo-Plattform sehen oder Theaterklassiker aus aller Welt anschauen.

Digitale Werkzeuge und virtuelle Räume werden für eine Gruppe von darstellenden Künstlern im Iran ein Werkzeug sein, um die auferlegten Barrieren und Beschränkungen zu umgehen und sie herauszufordern; Beschränkungen in Bereichen, die von der Kultur bis zur Politik, von geografischen Grenzen bis zu den konventionellen Formen der darstellenden Künste reichen. Vielleicht werden wir in der Zukunft der darstellenden Künste im Iran mehr denn je eine Koexistenz virtueller Räume und digitaler Technologien sehen, während es auch wahrscheinlich ist, dass die zerstörerischen Auswirkungen der Covid-19-Managementkrise zusammen mit der unter Sanktionen stehenden Wirtschaft und den instabilen soziopolitischen Bedingungen eine unklare Zukunft für die darstellenden Künste im Iran ankündigen.

 

Übersetzung: Clara Molau, Elena Philipp, Simone Kaempf

 

NargesHashempour privatNarges Hashempour ist Wissenschaftlerin, Schauspielerin, Regisseurin und Dramaturgin. Sie promovierte in Theaterwissenschaften an der Freien Universität Berlin (2009-2012). Seit 1991 ist sie an internationalen Theaterprojekten und Festivals beteiligt. Sie erhielt mehrere Preise, darunter den Sonderpreis der Jury als beste Regisseurin beim 37. internationalen Theaterfestivals Fadjr 2019 in Teheran und den Gordana Kosanović-Preis 2001 für herausragende schauspielerische Leistungen des Theaters a. d. Ruhr in Mülheim.

 

Dieser Beitrag entstand in einer Kooperation zwischen dem Internationalen Forschungskolleg "Interweaving Performance Cultures" der Freien Universität Berlin (Redaktion: Clara Molau, Antonija Cvitic) und nachtkritik.de (Redaktion: Elena Philipp).

Hier geht es zur englischen Version: Letter from Iran

Bislang veröffentlicht sind Theaterbriefe aus Argentinien, Chile, Ägypten, Uruguay, Südafrika, der Türkei und Japan.

 
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