Schauriges Meer, vergiftete Brühe

4. November 2022. Das Nature Theater of Oklahoma dekonstruiert seit einem Vierteljahrhundert Theaterform um Theaterform. Mit "Burt Turrido" ist nun die Oper dran. Wir sahen im letzten Jahr die Premiere bei den Wiener Festwochen. Derzeit gastiert die Produktion im Berliner HAU.

Von Gabi Hift

Wien, 26. August 2021. Ein wild romantisches Setting, wie man es sich in alter Zeit von einer Oper erwarten konnte: Eine tosende See auf liebevoll gemaltem Vorhang, davor die Wellenkämme, bemalte Sperrholzbänder, die gegeneinander verschoben werden, der Boden mit schillerndem blauen Stoff bedeckt. Ein Mann keucht bäuchlings in der Flut, schlägt mit den Armen und singt volltönend "Help me!". In "Burt Turrido. An Opera" des Nature Theater of Oklahoma naht genregemäß die Rettung: Auftritt dreier Geister, klassisch, mit weißen Laken und ausgeschnittenen Augenlöchern, am Saum Vorhangfransen. Sie tanzen auf dem Wasser – überraschenderweise zu Westernmusik, einen Line Dance. Emily, der jüngste Geist, sie ist erst vor Kurzem ertrunken, zieht den Hilferufer aus dem Wasser auf ein Rettungsfloss namens USS FREEDUM und holt ihn mit einem Kuss zurück ins Leben.

Andauernde Suche nach neuen Formen

Das Nature Theater of Oklahoma, Kelly Copper und Pavol Liška, könnte selbst Held einer romantischen Oper sein: Seit 30 Jahren sind sie ein Paar, vor 25 Jahren gründeten sie das Nature Theater, benannt nach dem mysteriösen Etablissement aus Kafkas "Amerika". Sie gehören zu diesen raren zähen Vögeln, die über Jahrzehnte mit einer Off-Truppe der Suche nach neuen Formen treu geblieben sind. "The new weird thing" wollten sie in den Anfängen sein, und seitdem dekonstruieren sie eine Theaterform nach der anderen mit dem naiven Ernst, mit dem Kinder ihre Puppen zerlegen. Was so respektlos und zerstörerisch aussieht, zählt unausgesprochen auf einen dahinter liegenden neuen Sinn, der sich offenbaren wird, sobald die zerstückelten Glieder nach einem anderen, scheinbar ganz unpassenden System neu zusammengebaut werden.

BurtTurrido3 560 Jessica Schaefer uTanz der singenden Geister: "Burt Turrido" ist (auch) große Oper © Jessica Schäfer

Diesmal haben sie sich also das Format Oper vorgenommen. Die Produktion war ein Auftragswerk des Festivals "Frankfurter Positionen", das wegen Corona ausfallen musste. Die Großzügigkeit des Schauspiels Frankfurt hat "Burt Turrido" dennoch möglich gemacht. Die Truppe wurde im leeren, geschlossenen Haus einquartiert und die Werkstätten bauten in liebevoller Arbeit eine naive Bühne wie aus dem 19. Jahrhundert, mit fünf wunderschönen, gemalten Vorhängen, Dutzenden Geisterpuppen, einem Strand mit Fischernetzen voller Plastikmüll und einem schaurigen Meer, einer vergifteten Brühe voll toter Fische, mit einer fliegenden Untertasse, einem Narwal. Obwohl wegen Corona weder Nebel- noch Windmaschine erlaubt sind, toben bei der Wiener Festwochen-Premiere die Stürme, schaukeln die Wellen, verbrennt das Land.

Auf Utopia folgt die Gewalt

Der Mann, der aus dem Wasser gerettet wird, wird von Emily ans Ufer gebracht. Es ist jene Insel, die einmal Grönland war. Während Copper und Liška am Libretto schrieben, versuchte Trump gerade, Grönland zu kaufen. Die Geschichte spielt Jahre nach der Klimaapokalypse. Grönland wurde zunächst zum Elysium, der letzten bewohnbaren Insel der Welt. Wer konnte, hat sich dorthin geflüchtet. Diejenigen, für die kein Platz mehr war, sind vor den Ufern ertrunken. Ihre Geister tanzen nun auf dem Wasser und versuchen, Leben in den Abgrund zu locken.

BurtTurrido2 560 Jessica Schaefer uFamos buschiger Backenbart © Jessica Schäfer

Zuerst herrschte Utopia, Anarchie ohne Privateigentum, dann kam eine Abfolge immer gewalttätigerer Gesellschaften. Als Emily den Fremden am Ufer ablegt, leben noch drei Menschen: das selbsternannte Königspaar Karen und Bob sowie Joseph, Karens verflossener Liebhaber, der in einem Verlies neben einem Berg von Leichen dahinvegetiert. Das Königspaar nennt den gestrandeten Fremdling "Burt Turrido". Gabel Eiden prunkt mit famos buschigem Backenbart, wie Burt Lancaster in "Der Leopard" oder wie Abraham Lincoln. Die noch buschigeren Brauen heben sich einzeln zu Choreographien des Staunens und der knorrigen Rechtschaffenheit. Das Königspaar macht ihn zuerst zum Sklaven, dann zum Koch, dann versucht die Königin, sich mit seinem Samen zu befruchten. Als er sich weigert, landet er bei Joseph im Verlies. Und das ist erst der erste Akt.

Formen der Gespenstigkeit

Copper und Liška haben Opernlibretti studiert und dann ein eigenes geschrieben, mit einfachen, starken Worten, das eine wilde Mischung aus dutzenden Stories zu bieten hat: vom Fliegenden Holländer über Undine, Macbeth, Wer hat Angst vor Virginia Woolff, E.T., Moby Dick und 2001, Odyssee im Weltraum ist alles dabei. Und natürlich Zombie- und Geistergeschichten. Die Toten sind weit in der Überzahl. Hier treffen die Dekonstrukteure auf den Vater der Dekonstruktion, Jacques Derrida, der aus der Dekonstruktion des Gegensatzes von Leben und Tod das Gespenst(ische) als neues Modell des Werdens der Welt postuliert hat. Er sprach von "verschiedenen Formen der Gespenstigkeit" – und die sind hier aufs schönste und schaurigste vertreten.

Der Clou – oder einer der Clous ist, dass das alles zu Country und Western Musik gesungen wird. Mindestens drei Viertel der Zeit tanzen die Sänger:innen dabei Line Dances, was besonders bei den Gespenstern auch noch nach Stunden unglaublich komisch ist. Die fünf Darsteller:innen sind dabei alle auf ihre eigene Art großartig und liebenswert. Ein Grundprinzip der Truppe ist, dass hier zwar lauter Profis auf der Bühne stehen – aber nicht in dem Fach, das sie gerade präsentieren.

Diesmal sind sie zu gut

Genau in dem Spalt, der sich zwischen ihren Fähigkeiten und dem ergibt, was man in der Hochkultur zum Beispiel von einem Opernsänger erwarten würde, soll sich etwas offenbaren, eine Art Wahrhaftigkeit. Das Problem dieser Produktion ist: Die Darsteller:innen sind diesmal zu gut. Bence Mezei, der den mörderischen Ehemann von Emily spielt, kann wirklich tanzen. Als knackiger Cowboy mit arschfaltenkurzer Jeansshorts, speckigem Hut und Pornobürste beherrscht er Sprünge, Schuhplattler, Schnalzer und Schnörkel mit seinen flinken Füßen, dass einem die Augen schnackeln – und er erreicht im Tanz eine Dimension an Freiheit, bei der man sieht, dass hochprofessionelles Können eben doch eine eigene Qualität hat.

BurtTurrido1 560 Jessica Schaefer uAuf dem Narwal in die Zukunft © Jessica Schäfer

Und so wie er wirklich tanzen kann, so können Robert Johanson und Kadence Neill wirklich singen. Johanson ist der Komponist, hat eine Ausbildung als Sänger und schon bei Life and Times 1 & 2 die preisgekrönte Musik gemacht. Als feiger schmieriger König Bob, der für seine grauenhafte Lady, die schrecklich komische Anne Gridley, Berge von Leichen anhäuft, ist er ein Fels in der vergifteten Brandung, dem man immer gern zuhört. Kadence Neill, der bezaubernde Wassergeist Emily, ist das erste Mal dabei – und singt einfach phantastisch. Sie hat eine ideale Stimme für Countryballaden, kann aus dem Schmerz in metallische Härte kippen, verführen und amüsieren.

Getrennt durch einen Schleier der Ironie

Allerdings wirklich schwierig für die Zuschauer:innen ist, wie unfassbar lang die Sache dauert: Drei Stunden und fünfzig Minuten! Und die Countrymusik ist ebenso charmant wie gleichförmig. Natürlich ist das gerade Teil der Ironie: dass der Gestus von Countryballaden, das wehmütige, lakonische Erzählen von Alltagsgeschichten voll Verlust und Gewalt – die aber ertragen werden müssen, so ist nun mal das Leben – in krassem Gegensatz zur "Bigger than life"-Dramatik der Oper steht. Daraus ergibt sich anfangs eine wunderbare Komik. Aber irgendwann ermüdet es doch. Anders als zum Beispiel bei Castorf, der einen ja auch oft mit ganzen Stunden absichtlich erzeugter Langeweile quält, ist man hier bei aller Sympathie von den Darsteller:innen immer durch einen Schleier der Ironie getrennt, der sich niemals hebt – fast wie eine neue Art der vierten Wand.

Dennoch vollkommen versöhnt ist man am Ende, wenn ein Baby, das Produkt einer Entführung durch einen Außerirdischen, als einzig überlebendes (Halb-)Menschenwesen auf einem Narwal lachend und brabbelnd in die Zukunft reitet. So viel Hoffnung und Vergnügen aus einem Stück zu ziehen, dass nach der totalen Klimakatastrophe spielt – das muss man erst einmal schaffen.

 

Burt Turrido. An Opera
von Kelly Copper und Pavol Liška
Text & Regie: Kelly Copper, Pavol Liška, Musik: Robert M. Johanson, Bühne & Lichtdesign: Luka Curk, Kostüme: Anna Sünkel, Dramaturgie: Marcus Dross, Katja Herlemann, Produktion: Künstlerhaus Mousonturm, Schauspiel Frankfurt, Nature Theater of Oklahoma.
Mit: Gabel Eiben, Anne Gridley, Robert M. Johanson, Bence Mezei, Kadence Neill.
Premiere am 27. August 2021
Dauer: 3 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

Allein die erste Szene habe schon alles, was Oper brauche: "kitschige Kulissen, große Gefühle, enttäuschte Liebe, drohenden Tod. Bloß bilden gitarrenlastiger Country, westernmäßige Geigen, Klavierballaden und Musicalmelodien den Soundtrack", so Michael Wurmitzer im Standard (28.8.2021). Eine klassische Oper sei der Abend also keineswegs, spiele mit Augenzwinkern auf aktuelle Themen an, schaffe es, "Stimmungen zu verquirlen. Tragisch und lustig, zynisch und zart liegen immer nah beieinander." Fazit: "Applaus für einen Abend, der mit viel Einsatz hochsympathisch effektvolle Szenen zaubert."

"Improvisation und Do-it-yourself-Praktiken, die mitunter an Dada erinnern" seien bei Kelly Copper und Pavel Liska nicht unüblich, schreibt Petra Paterno in der Wiener Zeitung (28.8.2021). Mit "Burt Turrido" widersetze sich die Truppe lustvoll den Spielregeln des Opern-Genres. "Das ganze Unternehmen hat freilich einen gewissen Charme, aber im Laufe der vierstündigen Aufführungsdauer wird die gleichförmige Musik doch zunehmend quälend." Was Herzschmerz und Diven-Allüren betrifft, bleibe man aber dem Genre treu. "Ständig ist einer der Protagonisten sehnsüchtig verliebt, wird betrogen oder opfert gar sein Leben für die Geliebte."

Jessica Schaefer schreibt auf ORF.at (online 27.8.2021, 8:45 Uhr): "Klamauk allein" sei die Oper des New Yorker Performance-Kollektivs nicht. Wenn man die Musik ausklammere, zeige "Burt Turrido" viele typische Opernmerkmale: eine Liebesgeschichte mit großen Gefühlen, es werde "durchgehend" gesungen, wenn auch oft nicht treffsicher. Und eigentlich sei der Stoff "gar nicht zum Lachen". Bloß würden Geschichte und Performance "zunehmend schräger". Vielleicht sei das Lachen "auch ein bisschen Abwehrreaktion", während man insgeheim denke, "was zum Teufel geht hier gerade vor?" Schlussendlich gehe das Unternehmen auf: Musikalisch gingen die Countrynummern ins Ohr, gesanglich überzeugten vor allem Johanson und Neil.

 

 

Kommentar schreiben