Vom Tigerberg nach Warschau und Berlin?

2. September 2021. Das chinesische Theater entdeckte in der Pandemie die revolutionären Modellopern neu. Statt Rotarmisten dienten nun Krankenschwestern als positive Held:innen. Aber das Theater in China hält auch noch ganz andere Überraschungen bereit. Eine Theater-Professorin in Shanghai berichtet.

Von Mei Wei

 

1. September 2021. Seit Mai 2020 ist die Pandemie in China relativ gut unter Kontrolle. Die Türen der Theater wurden nach und nach wieder geöffnet und die Theateraktivitäten allmählich wiederbelebt. Vielfältige Formen und Themen der Bühnenkunst waren wieder live vor Publikum zu sehen. Im Unterschied zu europäischen Ländern erhielten die staatlichen und privaten Theater in China zwar keine direkte finanzielle Unterstützung durch den Staat.

Während der viermonatigen Lockdown wurden sie aber auf andere Weise von der Regierung unterstützt, um ihre finanziellen Schwierigkeiten zu überwinden: Mieten wurden storniert und Steuern gesenkt.

Wandlung der Funktion des Theaters

Theater hatte in China zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Funktionen. Vor dem 20. Jahrhundert galt das Theater als das wichtigste Unterhaltungsmedium für das chinesische Volk. Liest man die Reiseberichte und Tagebücher der Missionare und Wissenschaftler, die mit der preußischen Expedition in das Land kamen, kann man das gut erkennen. Der Reiseschriftsteller Ernst von Hesse-Wartegg (1851-1918) schrieb zum Beispiel in seinem Buch China und Japan: Erlebnisse, Studien, Beobachtungen auf einer Reise um die Welt (1897): "Die Chinesen lieben das Theater gerade so sehr, wenn nicht sogar mehr, als wir Europäer. Auf meinen Reisen im Reiche der Mitte habe ich in allen Städten, ja in vielen Dörfern Theater angetroffen, und der Besuch derselben würde den Neid jedes europäischen Theaterdirektors erweckt haben." Ab dem 20. Jahrhundert unter Einfluss des Westens erlebte China seine eigene Aufklärung. Gleichzeitig wurde das europäische realistische Drama, besonders Ibsens soziale Problemdramen als Vorbild genommen. Seither hat das Theater in China nicht nur unterhaltende, sondern auch eine erzieherische Funktion.

TheaterbriefChina Schild QRCode Zentrum dramatische Kunst Shanghai MeiWei uVor dem Eingang des Zentrums für dramatische Kunst in Shanghai hält ein Mitarbeiter ein Schild, um die Zuschauer:innen darauf hinzuweisen, dass sie ihre Maske tragen müssen und ihren Corona-QR Code zeigen sollen  © Mei Wei

Nach Mao Zedongs Rede auf dem Yan’an Forum 1942 über Literatur und Kunst (s. Ausgewählte Werke von Mao Zedong. Band 3, Volksverlag, 1991) wurde das Theater stark mit der "politischen Linie" der Partei verbunden. Besonders während der chinesischen Kulturrevolution wirkte das Theater stark propagandistisch, um 'den Nationalgeist zu vereinen'. In dieser Zeit entstanden die berühmten politischen Modellopern beziehungsweise revolutionären Opern – "Shajiabang", Die Legende der roten LaterneMit taktischem Geschick den Tigerberg erobert usw. –, welche in diesem Jahr aufgrund des 100. Geburtstags der Kommunistischen Partei Chinas wieder auf den Bühnen auftauchten.

Um die positiven Taten der Anti-Epidemie-Helden zu loben und zu verbreiten, wurden die propagandistischen Funktionen des Theaters in China letzthin wieder deutlich herausgestellt. Einige vorbildliche Heldentaten wurden schnell in Theaterstücke wie zum Beispiel "Deinetwegen", "Tagebuch der Krankenschwestern" und "Krieg mit der Epidemie 2020" verwandelt und auf den Bühnen inszeniert.

Propagandatheater: Die Modelloper "Shajiabang”

Am Abend des 5. März 2021 führte die Peking Opern Truppe Shanghai (Shanghai Peking Opera Troupe)  "Shajiabang" im Poly Shanghai Stadttheater auf. Es ist ein repräsentatives Propagandastück, das in den 1960er Jahren in ganz China verbreitet war. Die Handlung basiert auf historischen Ereignissen, die sich während des Chinesisch-Japanischen Krieges (1937-1945) ereigneten: Achtzehn Soldaten der Kommunistischen Partei Chinas werden verletzt und müssen vor Ort verarztet werden. TheaterbriefChina Shajiabang 1 MeiWei u"Shajiabang": A Qingsao und Dorfbewohner diskutieren vor A Qingsao‘s Teehaus, wie den Verwundeten zu helfen sei © Mei WeiDeshalb entscheidet sich der Armeeinstrukteur Guo Jianguang, mit den Verwundeten in Shajiabang zu bleiben, damit sich diese erholen können. Zur gleichen Zeit kommen der Kommandant Hu Chuankui (Jing-Rolle: die männliche Rolle mit rauem Charakter in der Peking-Oper) und der Stabschef Diao Deyi (alte Sheng-Rolle: alte männliche Rolle), die zur Kuomintang-Armee gehören, im Ort an. Sie wollen die Verwundeten der Kommunistischen Partei fangen, um dem japanischen Militär zu schmeicheln. Unter dem Schutz und mit der Hilfe der heimlichen kommunistischen Parteimitglieder A Qingsao(Dan-Rolle: junge weibliche Rolle) und Oma Sha (alte Dan-Rolle: alte weibliche Rolle) werden die Verwundeten zurück zur Armee gebracht. Schließlich werden Kommandant Hu und Stabschef Diao Deyi sowie andere Mitglieder des japanischen Militärs von den Soldaten der Kommunistischen Partei gefangen.

"Shajiabang", eine der acht Modellopern der Kulturrevolution, orientiert sich hauptsächlich an der traditionellen Form der Peking-Oper. Doch die Hauptfiguren der traditionellen Peking-Opern – Herrscher, Könige, Generäle, Minister, Gelehrte und Edeldamen – wurden durch Arbeiter, Bauern und Soldaten ersetzt. Wie es das Genre der politischen Modelloper verlangt, müssen unter allen Charakteren die positiven Figuren hervorgehoben werden. Die Musik basiert auf den Bangqiang-Melodien der traditionellen Peking-Oper, ist jedoch in Melodik und Instrumentierung ein Hybrid aus Peking-Oper und westlichen Elementen. Die Performance der Schauspieler*innen zeigte eine Verflechtung der Spielweise der traditionellen Opern und des realistischen Performance-Stils des chinesischen Sprechtheaters.

Bemerkenswert ist, dass sich die aktuelle Inszenierung des "Shajiabang" sowie aller anderen Modellopern trotz der Anpassungen im Vergleich zum Jahre 1960 fast gar nicht verändert haben. Interessant ist darüber hinaus das Feedback der Zuschauer:innen. Als bei der Aufführung in Shanghai die Begleitmusik von Kommandant Hus Arie einsetzte, fingen viele ältere Zuschauer*innen an, den Liedtext mit dem Schauspieler mitzusingen: "Im Gedanken an die vergangene Zeit: Meine Kolonne hat insgesamt nur ein Dutzend Personen und sieben oder acht Gewehre […]". Während der Aufführung jubelten die älteren Zuschauer:innen beim Sieg der Guten und dem Misserfolg der Bösen. Sie nahmen die Aufführung offensichtlich aus moralischer Sicht wahr. Als die Schauspieler*innen die Reaktionen der Zuschauer*innen mitbekamen, wurde ihre Aufführung angeregter.
Anhand des Feedbacks der älteren Zuschauer lässt sich vorstellen, dass sich "Shajiabang" als ein erfolgreiches Beispiel des Propagandatheaters tief in die Erinnerung dieser Zuschauer:innen eingeprägt hat.

Sprechtheater, das sich dem Text verpflichtet

Neben den Modellopern haben auch realistische Sprechtheater-Inszenierungen in China Konjunktur. Im März 2021 führten Schauspieler*innen aus Shanghai im Zentrum für dramatische Kunst und mit dem Mousetrap Studio Shanghai zusammen "Zeugin der Anklage" auf. Dem Stücktext von Agatha Christie folgend, setzte die Regisseurin Lin Yi die Gerichtsverhandlung über die blutige Ermordung der reichen Witwe Emily French im London der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Szene. Des Mordes verdächtigt wird der Begünstigte von Frenchs Testament, Leonard Vole, gegen den im Prozess der ermittelnde Polizist und die alte Haushälterin, aber auch seine Ehefrau Romaine als eine "Zeugin der Anklage" auftreten.

Präsentiert wurde die Inszenierung im realistischen Stil: Die Kostüme (Make-up, Frisur, Kleidung), Requisiten, Szene (englischer Gerichtssaal) und die musikalische Untermalung wollten die Zuschauer*innen zurück ins England der 1950er und 1960er Jahren versetzen. Dabei erschienen das Dekor und die Darstellung der Romaine fast wie eine Kopie der in Christine umbenannten Figur in Billy Wilders Christie-Verfilmung aus dem Jahr 1957.

TheaterbriefChina Zeugin der Anklage c Mei WeiSzene aus "Zeugin der Anklage": Im Gerichtssaal warten alle auf die Eröffnungssitzung  © Mei Wei

Bemerkenswert ist, dass das Publikum des Agatha Christie-Klassikers dem Text mit mehr Aufmerksamkeit folgte als bei der Modellopern-Inszenierung. Dort fokussierten sich die Zuschauer:innen vor allem auf Gesang, Tanz, Gestik und Mimik, hier aber mehr auf die inhaltliche Handlung. Für unterschiedliche Theaterformen kennt das chinesische Publikum offenbar unterschiedliche Rezeptionsformen. Im Vergleich zu europäischem Regietheater scheinen zudem viele chinesische Regisseure noch die Vorstellungen der Dramatiker:innen in Szene setzen zu wollen – Inszenierungen zielen oft darauf ab, die Menschen, Objekte und Szenen in den Originalwerken zu repräsentieren. Aber es gibt auch Ausnahmen: die sogenannten chinesischen Avantgarde-Regisseure Lin Zhaohua und Meng Jinhui. Beide wurden seit den 1980er Jahren mehr oder weniger von europäischen Regisseur:innen beeinflusst. Die Inszenierung von Meng Jinhuis "Tea House", gezeigt beim Festival d'Avignon 2019, kann man sogar mit dem Stil des deutschen Regietheaters vergleichen.

Internationaler Austausch: "Das Tagebuch eines Verrückten"

Um den Entwicklungen des europäischen Theaters zu folgen, laden einige staatliche Theaterhäuser und private Theatergruppen wie Vertebra Theatre in Shanghai europäische Theaterregisseur:innen wie zum Beispiel Ivan Panteleev, Krystian Lupa, Martin Engler, Gil Mehmert, Boris von Poser, Moira Finucane, Jeroen Versteele, Elias Perrig und andere ein. Sie hoffen, durch die Kooperation das chinesische Sprechtheater zu verbessern. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass solche Kooperations-Inszenierungen – besonders in ihrer gesamtkünstlerischen Darstellung – deutlich vielfältiger geworden sind und auch das chinesische Publikum den Charme des Regietheaters erkennen lassen.

Wegen der Pandemie wurden fast alle internationalen Kooperationen zwischen chinesischen Schauspieler:innen und europäischen Theaterregisseur:innen gestoppt. Eine Ausnahme ist die Zusammenarbeit mit dem polnischen Regisseur Krystian Lupa. Im Januar 2021 reiste Lupa wieder nach China, um mit chinesischen Schauspieler:innen das "Tagebuch eines Verrückten" des berühmten chinesischen Schriftstellers Lu Xun zu inszenieren, die erste moderne chinesische Kurzgeschichte bzw. den ersten in Alltagssprache geschriebene chinesischen Roman. In der Tat ist es nicht das erste Mal, dass Lupa das Werk des chinesischen Schriftstellers in Szene setzt oder mit chinesischen Schauspieler*innen zusammenarbeitet: Er hat schon Erfahrungen gesammelt bei seiner kooperativen Inszenierung "Der Säufer Mofei".

TheaterbriefChina Tagebuch eines Verrueckten 1 QianChen uSzene aus "Tagebuch eines Verrückten": Der Protagonist Kuang Ren zeigt seine Angst vor dem Hund. © Qian Chen

Am 26. März 2021 fand die (Probe-)Aufführung von "Tagebuch eines Verrückten" im Lyrik Theatersaal des Shanghai Grand Theaters statt. Im Publikum gab es dabei interessanterweise zwei extreme Positionen: Die einen glaubten, dass Lupas Inszenierung sehr spannend sei. Die anderen meinten, dass er die zentrale Konnotation von Lu Xuns Werk nicht richtig vorgestellt habe. Die beiden Positionen spiegeln meines Erachtens die Probleme bei der Entwicklung des chinesischen Sprechtheaters wider: Die zentrale Frage ist, ob die Aufführung eines Theatertextes dem Originalwerk des Dramatikers folgen soll.

Wie beschrieben stammt die chinesische Sprechtheatertradition vom westlichen realistischen Theater. Die Spielweise, die Schauspieler:innen in Theaterschulen oder -hochschulen erlernen, folgt bis heute der Stanislawski-Methode. Die chinesischen Theaterpraktiker:innen und Zuschauer:innen haben sich damit an die Form des dramatischen Theaters gewöhnt. Obwohl sich in China hervorragende Regisseur:innen wie die genannten Avantgarde-Regisseure Lin Zhaohua und Meng Jinghui auch für die Entwicklung von Regietheater einsetzen, zogen ihre Inszenierungen leider nur die Fachleute dieser Branche und das 'Weiße-Kragen-Publikum' an. Verglichen mit der Entwicklung des deutschsprachigen Theaters nimmt das chinesische Sprechtheater derzeit den Weg der 1960er Jahre in Deutschland. Dieser Prozess wird in China noch einige Zeit andauern.

Durch die strengen Kontrollen und die Unterstützung der chinesischen Regierung hatte die Pandemie keinen großen Einfluss auf die chinesische Theaterszene oder die Arbeit der Theatermacher:innen. Aus Sicht der letzten eineinhalb Jahre haben die chinesischen Theaterbühnen zwar wegen der Abwesenheit von Gastspielen des europäischen Regietheaters etwas an Licht und Vielfarbigkeit verloren. Aber wenn sich die Theatermacher:innen und Zuschauer:innen ihre Aufmerksamkeit mehr auf inländisches Sprechtheater gelenkt haben, ist das vielleicht auch nicht schlecht für die Entwicklung des chinesischen Sprechtheaters.

 

TheaterbriefChina MeiWei privatMei Wei ist Theaterwissenschaftlerin. Von 2002 bis 2008 studierte sie Musikwissenschaft und Sinologie an der Universität Göttingen. 2015 promovierte sie im Fach Theaterwissenschaft an der LMU München. Seit 2017 arbeitet sie als Associate Professorin an der Shanghai Theater Akademie.

 

Dieser Beitrag entstand in einer Kooperation zwischen dem Internationalen Forschungskolleg "Interweaving Performance Cultures" der Freien Universität Berlin (Redaktion: Clara Molau, Antonija Cvitic) und nachtkritik.de (Redaktion: Elena Philipp).

Bislang veröffentlicht sind Theaterbriefe aus Argentinien, Chile, Ägypten, Uruguay, Südafrika, der Türkei, Japan und dem Iran.

Den ersten Theaterbrief aus China schickte im November 2019 der Dramaturg Stefan Bläske vom 7. Theaterfestival in Wuzhen

 

Eine Kooperation mit  

FU InterweavingPerformanceCultures Logo 560