Sexy über den Kamm gescheert

von Nikolaus Merck

Berlin, 6. November 2008. Eine Viertelstunde nach Mitternacht ist der neue Castorf dann wirklich noch zu Ende gegangen. Nach viereinhalb Stunden fand unser Mann vom Luxemburgplatz, der ja nie Schluss machen kann, einen Endpunkt. Er nahm einfach den letzten Satz des "Kean" (1836) von Alexandre Dumas, etwas mit Genie und Leidenschaft, und ließ ihn von seinem ziemlich phänomenalen Hauptdarsteller Alexander Scheer aufsagen. Der Applaus danach war vor allem: erschöpft – und ein wenig erleichtert.

Wie auch anders, schließlich war wieder allerhand los gewesen auf der Bühne, die Hartmut Meyer als großen gemalten englischen Rasen mit kleiner half-pipe-artiger Welle nach vorne zur Rampe und großer Welle nach hinten zur Brandmauer hin ausgebaut hat. Dazu rechts ein Set steif flatternder Flaggen – zwei dänische, die der EU, zwei Union Jacks – und Steve Binetti, Mähne, hoher Haaransatz, wechselnde E-Gitarren.

Alle lieben Kean. Er liebt zurück.

Es geht um den großen englischen Shakespeare-Schauspieler Edmund Kean, also um Theatermacher hier und heute. Zeit: etwa 1830 bis in die Gegenwart. Dänisch geflaggt hat die Bühne wegen der Koefelds. Er, der Graf und dänischer Botschafter in London, steif und karikaturesk gespielt von Axel Wandtke. Sie, die Gräfin und Möchte-gern-Kean-Geliebte dargeboten von Jeanette Spassova, würdig, verführerisch und bei Bedarf saukomisch.

Zusammen mit Hauptdarsteller Scheer, der so ziemlich jeden Unsinn, der ihm und Castorf in den Sinn kommt, sofort auf hundertachtzig beschleunigt und mit qualmenden Reifen durch die spielerischen Kurven jagt, zusammen also mit Scheer, Georg Friedrich als dem knochentrocken österreichischen Kasinoschnarrton parlierenden Prinz von Gayles die schauspielerischen Schwergewichte des Abends. Nicht so schwer wie zu goldenen VB-Zeiten mit Henry Hübchen, Martin Wuttke und Sophie Rois, na klar, aber auch nicht so nichtssagend und profillos, wie man glauben könnte, wenn man nur Kritiken liest und nichts selber sieht.

Was passiert? Der Schauspieler Kean ist ein Star. Die Ladies und die Huren lieben ihn. Er liebt zurück. Das sieht bei Castorf aus wie immer. Die Damen hochhackig und mit wehenden Stoffen geschürzt (die Jungen kriechen, robben und heulen, die Arrivierten gehen aufrecht und reden). Kean geht den Frauen an die Wäsche, seltener handgreiflich, mehr rhetorisch, aber so oder so kommt er nicht weit.

Buntes Bla bla im Bi-ba-butze-Haus

Meistens verheddert er sich oder einer klopft. Dann muss, Dumas hat das so aufgeschrieben, Schrank auf, Schrank zu, "Wo ist meine Frau?" gebrüllt werden und das ist billigster Boulevard und arg amüsant. Weil wir als Kontrast immer noch die alte Volksbühne mitdenken, an der auch ernsthafte Dinge verhandelt wurden, und wenn dann die Spaßmaschine anlief, kam das überraschend und sehr frech daher. Heute lachen wir immer noch, Auslösereize genügen.

Die bietet der Abend reichlich. Aber auch Originelleres. Wenn Castorf etwa Übervater Heiner Müller endlich vom Sockel holt. Mit Hilfe dreier Bi-ba-butze-Häuschen, in die er einen Teil des Personals einsperrt, das Müller in Teil 4 der "Hamletmaschine", Pest in Buda, auffährt: den bla bla redenden Hamlet, einen Mann mit Regenschirm, die drei Frauen Lenin, Mao, Marx, zwei Soldaten, dazu noch regieanweisungsgemäß einen Kühlschrank, der diesmal ein alter Elektroherd ist. Das alles zusammen bewegt und schubst und drängelt sich in einem Häuschen von der Größe einer Umkleidekabine im Freibad und spricht dabei die "Hamletmaschine". Können Sie sich vorstellen, was von dem vor Selbstmitleid und Eitelkeit triefenden Pathos des Textes (der vor 30 Jahren seine Meriten hatte) da noch bleibt? Sehr wenig – ganz genau.

Die Destruktion des Müller-Denkmals bildet so etwas wie den konzeptionellen Höhepunkt, ästhetisch prickelnd sind die Auftritte des Rockstars Alexander Scheer. Sexy, sexy, wenn er zu "She's the Darling of my heart" mit dem Prinzen von Gayles ein verführerisches Po-zeige-Tänzchen aufführt. Das zeigt aber auch, dass der Abend über die Lieben des Schauspielers Kean und seine Nöte mit Suff und Moneten zwar sehr entspannt erzählt, es an Verdichtung oder Spannung aber fehlt.

Glamour-Boy in Unterhose

Von den revolutionären Zellen in den Unterwelts-Kneipen, von denen der Speisezettel des Theaters wissen will, ist schon gar nichts zu sehen. Keans Bande, die Wölfe, begnügt sich damit, Schiller zu sagen und Shakespeare zu zitieren, Kritiker zu veräppeln oder ein bissel Seifenreklame zu machen. Dafür gibt's Neuigkeiten von Alain Delon, telefonische Verhandlungen über ein Exil bei Uschi Obermaier in Kalifornien und familiäre Auseinandersetzungen mit Frau Kean alias Nico ("ich geh wieder zu Andy und Lou nach New York"), und zum Schluss wird Kean als Othello ans Stacheldraht-Kreuz geschlagen.

Streckenweise gelingt es Alexander Scheer, der meistens in Unterhosen unterwegs ist, den überlangen Abend zusammenzuhalten. Wenn er pausiert, kann es geschehen, dass Silvia Rieger in wechselnden Rollen die Zuchtmeisterin gellt und vorletzte Silben tanzen lässt.

Anzumerken bleibt, dass auch Lothar Trolle mit an dieser Inszenierung gebastelt hat. Von ihm stammen zwei Textpassagen, die von einem Pauper-Aufstand in London und dem üblen Schicksal eines am Webstuhl arbeitenden Kindes handeln. Ein anderes Licht werfen diese Erzählungen auf den Abend auch nicht.

 

Kean ou Désordre et Genie Comédie en cinq actes par Alexandre Dumas et Die Hamletmaschine par Heiner Müller
Textfassung: Frank Castorf/ Lothar Trolle
Regie: Frank Castorf, Bühne: Hartmut Meyer, Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes.
Mit: Luise Berndt, Steve Binetti, Andreas Frakowiak, Georg Friedrich, Irina Kastrinidis, Michael Klobe, Inka Löwendorf, Silvia Rieger, Jorres Risse, Mandy Rudski, Alexander Scheer, Jeanette Spassova und Axel Wandtke.

www.volksbuehne-berlin.de


Mehr über die Arbeit Frank Castorfs an der Berliner Volksbühne erfahren Sie etwa in den Kritiken zu seiner Inszenierung Hunde vom September 2008 und in der zu Die Maßnahme/Mauser vom März 2008.

 

Kritikenrundschau

In der Zeit (13.11.2008) holt Peter Kümmel weit aus, um "Kean" denkbar kurz, die Situation von Frank Castorf an der Volksbühne aber lang und genau zu beschreiben. Es ist so gekommen, wie es im März 1991 in einem Gutachten zur Zukunft der Berliner Theater beschrieben wurde, so Kümmel: "Castorf und sein Theater sind weltberühmt. Aber sie sind auch am Ende." Ihm seien nicht nur ein Ensemble entlaufen, sondern auch ein Stil: "Seine Handschrift ist heute Allgemeingut. Sie wird an unzähligen Theatern gefälscht – zwar schlecht, aber dafür dreist. Was einst er allein gemacht hat, machen heute alle." Castorf habe den Blick der Öffentlichkeit vom Kunstwerk auf den Kunsthersteller gelenkt. An seinem Logo, seiner Regiehandschrift, drohe er nun zu ersticken. "Es ist rapide aus der Mode gekommen. Seine Einzigartigkeit ist dahin. Und auch das öffentliche Wohlwollen hat ihn im Stich gelassen." Castorf und sein Dramaturg Hegemann schafften es, "dass ihrem Haus der Hauch des Undurchschaubaren und Unheimlichen anhaftete." Mittlerweile aber "hat sich die Lust der Öffentlichkeit am Doppelblick erschöpft." Das vielleicht größte Problem des Hauses sei, so heißt es weiter, Castorfs ungeheures Beharrungsvermögen. Und Kean? Den Abend hällt Kümmel "trotz eines tollen Hauptdarstellers" für einen grausam öden Abend. In manchen Momenten, "wenn der Spielzusammenhang völlig reißt, breitet sich jene Leere aus, die von schlechtem Stegreiftheater ausgeht."

Eva Behrendt, obzwar nach fünf Theaterstunden arg gebeutelt, von denen sie nur drei ziemlich genüsslich fand, ahnt in der Frankfurter Rundschau (8.11.2008), dass Frank Castorf, der "Sohn des Eisenhändlers und gebeutelter King vom Rosa-Luxemburg-Platz", an diesem Abend an Alexandre Dumas' historisch verbürgtem Helden im Grunde sein "eigenes Künstlerdrama und -trauma verhandelt" hat. Und zwar "mit allen Eitel- und Parteilichkeiten, Minderwertigkeitsgefühlen und Überlegenheitsansprüchen, die dieser Job nun mal so mit sich bringt." Davon nämlich hat ihr dieser Abend "ausschweifend und wild" erzählt, und zwar endlich mal wieder mit echtem Volksbühnen-Esprit.

Castorf sei mit "Kean" ein großartiger, "lässiger, intelligenter, über lange Passagen komischer und gleichzeitig ungeschützt melancholischer Abend gelungen", lobt Peter Laudenbach in der
Süddeutschen Zeitung (8.11.2008). Die knapp fünf Stunden sorgten bei ihm mal wieder "für den hellwachen, leicht euphorisierten Zustand, der die langen Nächte im Castorf-Theater in den guten Jahren der Volksbühne zu legal erhältlichen, leichten Drogen mit den schönsten Nebenwirkungen machte". Auch Laudenbach sieht Castorf hier (und zwar völlig larmoyanzfrei) die eigenen Künstlerproblematik verhandeln und fragt sich, ob dieser frische, gelöste und auf eine sehr entspannte Weise komplizierter Abend wie dieser nur möglich war, "weil Castorf sich nicht mit netten Tricks über seine Krisen-Phase hinweggemogelt, sondern sie ohne Rücksicht auf Verluste ausgestellt hat. Offenbar hat sich der Mann, der das Theater in den letzten zwei Jahrzehnten wie wenig andere verändert hat, an diesem Abend noch mal neu erfunden".

Auch auf Christine Wahl, die sich den Abend für den Berliner Tagesspiegel (8.11.2008) angesehen hat, wirkt "Kean" verglichen mit den letzten Castorf-Inszenierungen überraschend frisch: als hätte man der "Volksbühne eine Vitalitätsdroge gespritzt". Zwar gilt das Lob der Kritikerin bei weitem nicht uneingeschränkt und schon gar nicht durchgängig, "aber immerhin über geschätzte fünfzig Prozent des knapp fünfstündigen (!) Abends – und eigentlich fast immer, wenn Alexander Scheer auf der Bühne ist". Auch könne man der Inszenierung einiges vorwerfen. Zum Beispiel die Einspeisung und Zerlegung von Heiner Müllers "Hamletmaschine", die für Christine Wahl zwar lustvoll aber komplett sinnfrei ausgefallen ist.

Euphorische und quälende Momente protokolliert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (8.11.2008). Wobei es wohl gerade die quälenden Momente sind, denen er die tiefsten Einblicke in die verhandelte Problematik verdankt: nämlich das Abschreiten, ja das Wühlen im Grenzbereich zwischen Leben und Kunst. Am besten funktioniert der Abend für Seidler, "wenn er in der Theater-im-Theater-Situation von Dumas bleibt". Aber ein Castorf-Abend soll ja nicht funktionieren, sondern irgendwie kaputt sein. Wie immer würden deshalb zur Irreleitung der Zuschauer mehr Assoziationen angestoßen als verfolgt, was mal besser mal schlechter für ihn funktioniert. Das Konkreteste sei die Verkörperung des titelgebenden Jahrhundertstars durch den Star des Abends: "Alexander Scheer nimmt die Bretter maß, als wäre es tatsächlich das letzte Mal ... Ein sau-cooler Tölpel, wie ihn diese Bühne und dieser Regisseur braucht – einer wie Henry Hübchen, Martin Wuttke, Milan Peschel."

"Nicht nur keine Antworten, gar keine Fragen", stellt die Inszenierung nach Auffassung von Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.11.2008), die den Abend "so drollig wie altbacken", "so verkrampft wie leer" empfand. Aus ihrer Sicht illustriert Castorf "die turbulente Handlung um "den historischen Theaterstar, der aus der Gosse kam und selbst den Hochadel begeisterte, der ein wüstes Privatleben und ein ebenso leidenschaftliches Kunstverständnis pflegte" zwar halbwegs konsequent, doch "wie immer stärker an Bildern und Gags interessiert als am Verlauf der Geschichte und deren Protagonisten", weshalb "die kleinen Szenen zum Verhältnis von Sein und Schein, Leben und Theater" auf sie eher wie Pflichtübungen wirken. Zwar konstatiert Bazinger an Castorfs Regiestil auch eine gewisse Altersmilde, findet aber insgesamt, dass "der müde Regierebell" über "das Publikum und seine Stars, über soziale Ordnungen und den Kunstbetrieb" inzwischen nichts mehr mitzuteilen, sondern daraus höchstens ein bisschen Schaum zu schlagen wisse.

Nicht begeistert zeigt sich von dieser "bunten theatralen Nummernrevue" auch Hartmut Krug im Deutschlandfunk (8.11.2008). Aus seiner Sicht surft Castorf hier "mit seinen bekannten Slapstickiaden und Trash-Effekten durch die Szenen", so dass zum Beispiel der "mit intellektuellem Pathos tief gründelnde Text von Müller" plötzlich peinlich komisch wirken würde oder, "wenn er von sich in einem winzigen Papierhäuschen drängelnden Schauspielern geschrien" werde, "wie vieles an diesem traurigen Abend" inhaltlich wie akustisch kaum verständlich werde. Insgesamt findet Krug den Abend "grell, laut und formlos".

Frank Castorf zeige in "Kean" "das Theater, sein Theater, als Selbstzerstörungskunst", schreibt Anne Peter in der tageszeitung (10.11.2008). "Der 'Gaukler', wie Dumas ihn nennt, ist darin Märtyrer für die Masse", einer, der sich "opfert fürs Publikum, das ihn kunstkonsumistisch umrauscht". Castorf nehme "den Protagonisten Kean bitterernst" und zerre sich ihn "als Alter Ego und Chiffre des in seiner Exzessivität typischen Volksbühnen-Akteurs auf die Bühne", während "die ihn vampiristisch umschwirrenden High-Society-Figuren der Lächerlichkeit" preisgegeben würden. Der "Herr vom Rosa-Luxemburg-Platz" mache "die von außen diagnostizierte Krise seines Schaffens produktiv und rotzt lustvoll zurück: Ja, scheint dieser Abend zu sagen, wir sind vielleicht am Ende, aber ihr, die ihr uns aussaugt, habt Anteil daran."

 

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